Bademeister

Bademeister

In diesem Monat erschien Freischwimmer von Torsten Hebel (mit Co-Autor Daniel Schneider) – „Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und dem großen, weiten Mehr“. In dem Buch verbindet der Kabarettist, Moderator, „Ex-Evangelist“ und Gründer der blu:boks in Berlin Autobiografisches mit Gesprächen über Gott und den Glauben bzw. einer neuen Suche nach einem freien und befreiten Glauben. Christina Brudereck wünscht Lesern in ihrem Video-Testimonial, dass „die Freiheit erobert wird mit diesem Buch“.

Wohl eher zufällig nennt sich auch eine Initiative von Rainer Schacke und Team aus Berlin „freischwimmer“. Schacke studierte wie Hebel (und der Autor dieser Zeilen) im Jahrgang 1990 des Neues Leben-Seminars (nun TSR). Diese „Kirche zum Auftauchen“ ist „interessiert an Nichtschwimmern und Schwimmern – an Menschen, die mit Gott und Kirche nichts am Hut haben, an Skeptikern und Sinnsuchern ebenso wie an denen, die Christus bereits als Coach des Lebens kennen, aber trotzdem manchmal baden gehen.“

Freiheit ist ein großes Stichwort für viele Christen, gerade für die Unzufriedenen mit starren Traditionen und festgefahrenen Strukturen, mit Klischees und Gesetzlichkeit in Kirchen. Jüngst postete Blogger Rolf Krüger eine vierteilige Artikelserie unter der Überschrift „Leidenschaftlich & offen glauben“. Dort plädiert der Redakteur von Jesus.de für einen „leidenschaftlichen Glauben der Freiheit“, einen Glaube, der „in eine große Freiheit“ führt.

Heute wird nur leider oft vergessen, dass – um im Bild zu bleiben – die Disziplin des Freischwimmens eine überraschend lange Geschichte hat. Die Freiheit als theologischer und geistlicher Kernbegriff ist überhaupt keine Erfindung all der Erneuerer von Glaube und Kirche aus dem breiten (post)evangelikalen Spektrum. Ohne Übertreibung kann man behaupten, dass Freiheit schon das Thema der Reformation war. Die Reformatoren waren gleichsam hervorragende Bademeister, die wichtige Hilfe zum Freischwimmen geleistet haben.

„Der Hauptinhalt der Lehre des Evangeliums“

Schon 1520 schrieb Martin Luther im Sermon von den guten Werken: „Ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht zu Gott lebt, weiß alle Dinge, vermag alle Dinge,… und tut alles fröhlich und frei, nicht um viele gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern weil es ihm eine Lust ist, Gott also wohl zu gefallen, und ehrlich Gott umsonst dient, sich damit begnügt, daß es Gott gefalle.“

Im gleichen Jahr erschein Von der Freiheit eines Christenmenschen – eine der genialsten Schriften des Reformators mit einem programmatischen Titel. Er beginnt mit einer paradoxen Formulierung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Freiheit durch den Glauben, Gebundenheit und Hingabe an den Nächsten aus Liebe. Luther fasst schön zusammen: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.“ Luthers Freiheit ist folglich noch weit von der Freiheit der Aufklärung entfernt – es ist keine autonome Freiheit, sondern eine Freiheit in Bindung an Gott und eine Freiheit für den Mitmenschen.  (Völlig zu Recht heißt der Untertitel von Carl Truemans Luther on the Christian Life „cross and freedom“, hier gibt es das einleitende Kapitel.)

Am Beginn der Reformation in der Schweiz stand ebenfalls die Freiheit. Bildeten die Thesen Luthers den Startschuss in Deutschland, so war es dort das sogenannte Zürcher Wurstessen. Am 09. März 1522, dem ersten Sonntag der vorösterlichen Fastenzeit, wurden im Haus des Buchdruckers Christoph Froschauer zwei geräucherte Würste kleingeschnitten und verteilt. Dies war eine mehr oder weniger öffentliche Demonstration, denn die Wurst wurde in der Fastenzeit verspeist, damit also bewusst und in provozierender Weise die katholischen Fastengebote gebrochen. Huldrych Zwingli, seit einigen Jahren Prediger am Großmünster, war anwesend, ohne sich jedoch am Wurstessen zu beteiligen.

Zwei Wochen nach dem Wurstessen nahm Zwingli in einer Predigt zum Fasten Stellung, deren Text dann bereits am Gründonnerstag bei Froschauer im Druck erschien: Von der Wahl und der Freiheit der Speisen. Wie schon Luther vertrat Zwingli darin ein evangelisches Freiheitsverständnis. Ohne Glauben sind die Werke – und seien sie noch so religiös – in Gottes Augen wertlos. Zwingli über seine Landsleute, die willig dem Fastenzwang folgten: „Ihr Glaube an Gott war nicht mehr so stark, dass sie auf ihn allein vertrauten und ihre Hoffnung auf ihn allein setzten, allein auf sein Gebot und seinen Willen hörten. Töricht begannen sie wiederum, dem Diktat der Menschen zu folgen.“

Zwingli hatte nichts dagegen, „wenn jemand zur Gesunderhaltung und Disziplinierung seines Körpers sich freiwillig Verzicht auferlegt und dabei sein Fasten nicht überbewertet“. Man dürfe aber nicht schlauer als Gott sein wollen und die biblischen Gebote „ergänzen und verbessern“ – „als ob Gott etwas versäumt habe“. So reden Christen sich dann ein, man sündige, wenn man diese Fastengebote nicht einhält. Auf diese Art, so der Reformator, wird das Gewissen „gebrandmarkt und beschmutzt“ und „zu wahrer Abgötterei“ verführt. Zwingli fasst zusammen:

„Kurz und einfach gesagt: Willst du gerne fasten, dann tue es! Willst du dabei auf Fleisch verzichten, dann iss auch kein Fleisch! Lass mir aber dabei dem Christen die freie Wahl!… Wenn aber dein Nächster daran Anstoß nimmt, wenn du von deiner Freiheit Gebrauch machst, dann sollst du ihn nicht grundlos in Schwierigkeiten oder Versuchung bringen. Nur wenn er den Grund deiner Freiheit erkennt, wird er nicht mehr daran Anstoß nehmen, es sei denn, er wolle dir vorsätzlich übel… Vielmehr sollst du deinem Nächsten in freundlicher Weise den Glauben erklären und ihm sagen, dass auch er alles essen dürfe und er darin frei sei.“

Ein paar Jahre später wird daher in den Berner Thesen von 1528 festgehalten: „Die Kirche Christi macht nicht Gesetze und Gebote ohne Gottes Wort. Deshalb binden alle Menschensatzungen, die man Kirchengebote nennt, uns nicht weiter, als sie im göttlichen Wort begründet und geboten sind.“ Im Zweiten Helvetischen Bekenntnis (1566) schreibt Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger in Zürich: „Je mehr Gebräuche sich in der Kirche anhäufen, desto mehr wird nicht nur die christliche Freiheit, sondern auch Christus selbst und dem Glauben Abbruch getan“. Und im Niederländischen Bekenntnis (1562) werden „alle menschlichen Erfindungen und alle Gesetze, welche zur Verehrung Gottes eingeführt sind, dass durch sie die Gewissen auf irgendeine Weise gefesselt oder gebunden werden,“ verworfen.

Auch Johannes Calvin widmete der christlichen Freiheit ein langes Kapitel (III,19) in seiner Institutio (1559). Bei der Darlegung des „Hauptinhalts der Lehre des Evangeliums“ darf die christliche Freiheit „unter keinen Umständen“ übergangen werden, so dort gleich eingangs.

„Gott allein ist Herr des Gewissens“

Schließlich ragt das Westminster-Bekenntnis (1647) durch seine ganz hervorragende Darlegung der Freiheit heraus, um die es im ganzen 20. Kapitel geht. Das Bekenntnis wurde federführend von den britischen Puritaner verfasst, gemeinhin wird es in die Schublade „protestantische Orthodoxie“ oder „reformierte Scholastik“ gesteckt. Dass es darin auch zentral um die Freiheit geht, ist heute leider nur wenigen bewusst. Gleich im ersten Punkt findet sich eine für das Bekenntnis typische umfassende Auflistung:

„Die Freiheit, die Christus für die Gläubigen unter dem Evangelium erworben hat, besteht in ihrer Freiheit von der Schuld der Sünde [1], von dem verdammenden Zorn Gottes [2], dem Fluch des Moralgesetzes [3] und in ihrem Befreitsein von dieser gegenwärtigen bösen Welt [4], der Knechtschaft des Satans [5] und der Herrschaft der Sünde [6], von dem Übel der Trübsale [7], von dem Stachel des Todes [8], von dem Sieg des Grabes [9] und von der ewigen Verdammnis [10], wie auch in ihrem freien Zugang zu Gott [11] und ihrem Leisten des Gehorsams gegen ihn [12], nicht aus knechtischer Furcht, sondern aus kindlicher Liebe und willigem Geist…“

Die Kirche Christi ist daher ein großer Raum der Freiheit. Dort untersteht der Christ einzig dem Wort Gottes und seinen Geboten. Die Diener der Kirche können einzig das als göttliches Gebot verkündigen, was in der Bibel zu finden und aus ihr klar abzuleiten ist. Er ist deshalb frei von aller bloß menschlichen Herrschaft und rein menschlichen, d.h. von Menschen ausgedachten Geboten. Der Christ darf nur durch Gottes Wort in seinem Gewissen gebunden, nur durch Gottes Wort ‘beherrscht’ werden. Geradezu revolutionär heißt es in 20,2:

„Gott allein ist Herr des Gewissens und hat es von menschlichen Lehren und Geboten frei gemacht, die in Sachen des Glaubens und Gottesdienstes in irgendetwas seinem Wort widersprechen oder darüber hinausgehen. Unter Berufung auf das Gewissen solche Lehren zu glauben und solchen Geboten zu gehorchen, ist ein Verrat an der wahren Freiheit des Gewissens, und die Forderung eines unbedingten Glaubens und eines absoluten und blinden Gehorsams bedeutet so viel, wie die Zerstörung der Freiheit des Gewissens und zugleich auch der Vernunft“.

Die Kirche darf nur das verbindlich als von Gott gefordert verlangen, was die Bibel gebietet, d.h. nur solche absoluten Normen setzen, die sich durch klare Schriftdeutung begründen lassen. Ein „absoluter oder blinder Gehorsam“ der Christen wird daher abgelehnt. Die Diener der Kirche müssen vielmehr den Gläubigen die Gebote und Normen klar erläutern und ihre Herkunft in Gottes Offenbarung beweisen.

In der Kirche sind wir einzig Gott und seinem Wort, dem „Gesetz der Freiheit“, so Calvin öfter, untergeordnet. Er kritisierte in der Institutio daher harsch die Kirchenführer, die „tyrannischen Druck auf die Gewissen“ der Gläubigen ausüben (IV,10,1). Kein Wunder, dass die Gewissensfreiheit ein wichtiges Produkt der Reformation war. Schon Luther sah sich einzig seinem Gewissen unterworfen – dies war ihm wichtiger als der Befehl des Kaisers! Aber nicht dem ‘nackten’ Gewissen jenseits aller Normen und Gebote. Beim Reichstag zu Worms 1521 betonte Luther, er könne nicht seine Schriften widerrufen, denn er sei „durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes.“

Frei, weil Eigentum Christi (so der Heidelberger Katechismus); frei, weil im Wort gefangen (Luther). So paradox formulierten die Reformatoren. Heute wird dagegen Bindung an das Wort Gottes als „Standpunktfetischismus“ verunglimpft (A. Malessa); die einzige Norm, die noch anerkannt wird, ist „Die Liebe vor alles!“; der „Orientierung an festen Regeln“ wird keine Zukunft gegeben (Krüger, s.o.). – Welche Bademeister werden mehr Ertrinkende zu verantworten haben?