70 Jahre „offene Gesellschaft“ (I)
„Neben Karl Marx hat wohl kein anderer Philosoph der vergangenen zwei Jahrhunderte eine so große politische Wirkung erzielt wie Karl Raimund Popper.“ So Richard Herzinger vor gut zehn Jahren anlässlich von Poppers neunzigstem Geburtstag in der „Zeit“ (31/2002). Der Philosoph jüdischer Abstammung wuchs in Wien auf. Im Januar 1937 emigrierte Popper mit seiner Frau rechtzeitig und nahm eine Stelle als Hochschuldozent in Neuseeland an. Im März des folgenden Jahres besetzten die Nationalsozialisten Österreich. Als Popper davon hörte, beschloss der berühmte Wissenschaftstheoretiker im Exil, ein schließlich zweibändiges Werk über Die offene Gesellschaft und ihre Feinde als seinen Beitrag gegen Kommunismus und Nationalsozialismus zu schreiben – „eine Verteidigung der Demokratie, als die Demokratie nicht viele überzeugte Anhänger hatte“.
Popper begab sich auf Spurensuche in der Geschichte und fragte: Wo sind die großen Theoretiker der „geschlossenen“ Gesellschaft, die eine Vision einer heilen und vollkommenen Welt auf Erden entwarfen? Wo liegen in der Vergangenheit die Wurzeln für Kommunismus, Faschismus und Nationalismus? Wo sind die ersten Feinde der Freiheit und die ersten Ideologen der Rassen und Klassen? Popper gelangte zu Hegel, Marx und vor allem Platon, dem ersten großen politischen Ideologen, mit dessen Werk Der Staat sich der erste Band beschäftigt.
Popper konzipierte seine Offene Gesellschaft als eine leidenschaftliche „Verteidigung der Freiheit“, „eine Verteidigung gegen totalitäre und autoritäre Ideen“; ein Buch, das laut seiner Autobiographie Ausgangspunkte nicht einfach entstand, sondern geradezu „explodierte“. Popper legte sehr viel Herzblut in das Werk – und seine Frau Hennie tippte das immer umfangreichere Manuskript fünf Mal „auf einer schrottreifen alten Schreibmaschine“ ab. Da der Dozent sich eigentlich ganz auf sein Unterrichten konzentrieren sollte, wurde das Buch „unter sehr schwierigen Umständen geschrieben“.
Trotz allem Aufwand blieb ein Echo vorerst fast ganz aus. Im Februar 1943 abgeschlossen schickte Popper das Manuskript zu Verlegern in den USA, doch lange erhielt er keine Reaktion. Nach einem Jahr ratlos „und in bedrückter Stimmung“ wandte er sich an seine Freunde Ernst Gombrich und F.A. von Hayek in England, die auch aus Wien stammten. Vor allem durch Vermittlung Hayeks (dem er dann z.B. Vermutungen und Widerlegungen widmete) kam es dann 1945 zur Herausgabe in England (The Open Society and Its Enemies).
Wer soll herrschen?
Popper hielt nicht viel von der Suche nach dem „Wesen“ der Dinge und Fragen wie „was ist der Staat?“. Auch eine weitere Frage, die uns wichtig erscheint, sah er als ziemlich unnütz an: Wer soll herrschen? Etwa die Weisesten? Oder die Besten? Die Klügsten? Derjenige, der perfekt regieren kann? Der Wille des Volkes? Oder die Herrenrasse? Manche Antworten wirken durchaus überzeugend, aber ein politisches Problem ist damit überhaupt noch nicht gelöst. Selbst Platon wusste genau, dass seine geborenen Herrscher nicht immer ausreichend weise und gut sind. Wie wollen wir uns darauf verlassen, dass die angeblich besonders zum Herrschen Geeigneten auch wirklich gut regieren? Sollten wir nicht gleich damit rechnen, dass wir schlechte Regierungen bekommen werden?
Auf Grundlage dieses praktischen Problems (und seiner Erkenntnistheorie, s.u.) schlägt Popper eine andere Frage vor: „Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“ Wir dürfen ruhig auf die besten Herrscher hoffen, aber bereiten wir uns lieber auf die schlechtesten vor. Großer Schaden kann nur vermieden werden, wenn die Regierenden kontrolliert werden.
Ein Staat, in dem die Macht der Herrschenden durch Kräfte anderer Art kontrolliert werden kann, nennen wir in der Regel Demokratie. Demokratie definiert Popper nun nicht – wie üblich – als „Volksherrschaft“ oder „Herrschaft der Mehrheit“. Denn wer sagt, dass die Herrschaft der Mehrheit als solche gut und weise sein muss? Die „Stimme des Volkes“ hat für Popper keine endgültige Autorität. Demokratie ist für ihn vielmehr die Staatsform, die es ermöglicht, Regierungen und Herrscher loszuwerden, und zwar ohne Blutvergießen. Auf diese Art kann der Schaden einer schlechten Regierung begrenzt werden. Die andere Regierungsform, die dies nicht ermöglicht und die nur blutige Revolutionen als Mittel zum Herrschaftswechsel kennt, nennt er Diktatur oder Tyrannei. Die bewährteste Art, eine Regierung loszuwerden, ist dabei die allgemeine Wahl und die Entscheidung der Mehrheit gegen einen Herrscher.
Parlament, Wahlen, Verfassung usw. sind daher Institutionen, die uns vor Diktaturen schützen können. Sie sind Sicherungen gegen Tyrannei, die aber immer noch verbessert werden können. Das Großartige der Demokratie ist, dass sie selber den Rahmen schafft, um sich durch gewaltlose Reform immer weiter zu korrigieren. Popper gibt, Perikles folgend, zu, dass nicht jeder eine große politische Konzeption entwerfen kann (natürlich kann nicht jeder herrschen), aber „wir sind alle fähig, sie zu beurteilen“.
Platons Herrscher sind vor allem eins: Wissende. Sie besitzen die Wahrheit, die Wahrheit über den Staat und alle seine Bürger. Sie wissen genau, wie der beste und moralische Staat auszusehen hat und wie er zu garantieren ist. Der Beste ist der stolze Besitzer der Wahrheit! Und nur er ist fähig, den Umbau der ganzen Gesellschaft zu planen und eine Utopie auf Erden zu verwirklichen, weil nur er das wahre Ziel des Staates kennt. Popper hält diese Auffassung für verführerisch, unrealistisch und inhuman. Der beste Herrscher ist in seinen Augen nicht der stolze Besitzer, sondern der demütige Sucher der Wahrheit, der lernbereit und für Kritik offen ist, der sich korrigieren und das heißt praktisch: auch wieder abwählen lässt.
Die offene Gesellschaft
Popper nennt Platons Vision im Staat ein Beispiel für eine „geschlossene“ Gesellschaft. Diese ist einem Organismus, einer Herde, einem Stamm gleich – ein Kollektiv. Die sozialen Gewohnheiten sind starr und nicht veränderbar, das Leben wird durch eine Vielzahl von Tabus regiert. Sitten und Gebräuche werden als notwendig ablaufende Naturvorgänge betrachtet. Jeder und jedes hat seinen festen Platz und seine feste Aufgabe, Beziehungen finden in einem engen Rahmen statt, die Klassenzugehörigkeit ist festgeschrieben. Die enge Gemeinschaft gewährt Sicherheit, Stabilität und Sinn. So etwas wie persönliche Verantwortung des Einzelnen ist unbekannt.
Popper setzt dagegen seine Konzeption einer „offenen“ Gesellschaft. Sie ist eine wirkliche Gesellschaft aus Individuen und weniger eine Kollektiv-Gemeinschaft. Sie unterscheidet zwischen Naturgesetzen, die wir nicht ändern können, und sozialen Sitten, Gebräuchen und Gesetzen, über die wir rational diskutieren und die wir verändern können. Sie ist eine Gesellschaft, in der es ständig Bewegung und auch Konflikte zwischen Individuen, Gruppen und Klassen gibt, da jeder seinen Platz in ihr erst suchen muss und mit anderen im Wettbewerb steht. Beziehungen in dieser Gesellschaft sind in hohem Maße abstrakt und sehr oft unpersönlich. Doch persönliche Beziehungen, für die sich die einzelnen Menschen entscheiden, können in ihr frei eingegangen und frei gestaltet werden. Der Einzelne ist tagtäglich vor Entscheidungen gestellt, für die er persönlich verantwortlich ist. Die Zukunft und die Entwicklung dieser Gesellschaft sind offen.
Popper hatte den Begriff „offene Gesellschaft“ nicht erfunden (er geht wohl auf den französischen Philosoph Henri Bergson zurück, der ihn 1932 eingeführt hatte), aber nachhaltig geprägt. Grundsätzlich völlig Neues sagte Popper natürlich nicht. Er sah sich immer in der Tradition des Liberalismus und der Werte des Westens. Die offene Gesellschaft ist für ihn „eine Art des menschlichen Zusammenlebens, in dem Freiheit der Individuen, Gewaltlosigkeit, Schutz der Minderheiten, Schutz der Schwachen wichtige Werte sind“ (Nachwort in Die Zukunft ist offen).
Inzwischen hat der Begriff eine Art Eigenleben gewonnen. Ein Begriff, so Karen Horn, „unter dem wir heute gern alles zusammenfassen, was irgendwie mit größtmöglicher Freiheit, Demokratie, offenen Grenzen, Meinungsfreiheit und Toleranz zu tun hat.“ Die Leiterin der deutschen Hayek-Gesellschaft: „Während in einer geschlossenen Gesellschaft jeder seinen im Voraus definierten, festen Platz einnehmen soll, herrscht in der offenen Gesellschaft Wettbewerb… Popper wirbt für eine pluralistische Gesellschaft, in der ein fortlaufender intellektueller Meinungsaustausch, ein Kurswechsel der Regierung ohne Blutvergießen und sogar ein kultureller Wandel möglich sind. Alles muss sich der Kritik stellen und veränderbar bleiben. Solche offenen Systeme sind nicht nur erfolgreicher, sondern auch humaner. Freilich sind sie auch anspruchsvoller.“ („Welches Wirtschaftssystem passt zur offenen Gesellschaft?“)
„Offenheit“ riecht heute nach postmoderner Beliebigkeit. Popper hielt jedoch immer an der Wichtigkeit von objektiver Wahrheit fest. Sie ist gleichsam der Leuchtturm, an dem wir uns orientieren. „Unser Ziel als Wissenschaftler ist die objektive Wahrheit, mehr Wahrheit, interessantere Wahrheit, besser verstandene Wahrheit“, so in Auf der Suche nach einer besseren Welt. Doch beim Streben nach wahrer Erkenntnis machen wir Fehler und irren uns nur zu oft. Vernünftigkeit deutete er deshalb – ganz anders als Platon, Hegel, Marx – als Offenheit für Kritik, die auf diese Fehler hinweist. Aus dieser Erkenntnistheorie, so Popper, ist auch seine Gesellschaftstheorie erwachsen. Seine allgemeine Vision einer rationalen und demokratischen Lebenseinstellung drückte er so aus: „Ich mag unrecht haben und Du recht, und durch gemeinsame Anstrengung könnten wir der Wahrheit näher kommen.“
Moralische Prinzipien und Werte geraten in einer freien, offenen Gesellschaft unvermeidlich miteinander in Konflikt, weshalb es auch keine vollkommenen Gesellschaften geben kann. Wir müssen nur versuchen, die Konflikte zu verringern. Dies geschieht aber nicht dadurch, dass man sich in die Beliebigkeit des Relativismus, des Alle-haben-Recht, flüchtet. Zur Moral in seiner Autobiographie: „Eines der Hauptargumente meines Buches über die Offene Gesellschaft richtet sich gegen den moralischen Relativismus. Die Tatsache, daß moralische Werte oder Prinzipien einander widersprechen können, macht diese Prinzipien nicht ungültig…“ Relativismus meint dagegen, dass „jedes beliebige Wertesystem sich in gleicher Weise verteidigen läßt und daß daher alle Wertsysteme gleich gültig (und daher gleichgültig) sind.“ (Ausgangspunkte) In Auf der Suche nach einer besseren Welt bezeichnet Popper den Relativismus sogar als „eines der vielen Verbrechen der Intellektuellen. Er ist ein Verrat an der Vernunft, und an der Menschheit“.
„Eine Rechtsordnung, der sich alle fügen“
Eine freie Gesellschaft braucht den freien Handel und den freien Markt. Einen anderen Weg zu einer allgemeinen Anhebung des Lebensstandards und damit zu einer breiten Zufriedenheit mit der Demokratie gibt es nicht. Aber, so Popper, „eine Industriegesellschaft mit einem freien Markt… ist undenkbar ohne einen rechtlichen Rahmen – ohne den Rechtsstaat” (im Vorwort zur 7. deutschen Auflage 1992). Nur dieser kann Wettbewerbsfreiheit und Chancengleichheit am Markt garantieren. Die offene Gesellschaft braucht fast nichts so sehr wie Vertrauen in den Rechtsstaat. Wir müssen uns vom Recht geschützt wissen, um mutige Schritte voran zu tun – und nur ein starkes, durchsetzungsfähiges Recht kann schützen. Die freie Marktwirtschaft braucht ein „Mindestmaß an Vertrauen untereinander“. „Um das zu erreichen, gibt es nichts Besseres als das Vertrauen in den Rechtsstaat“.
Im zitierten Vorwort schreibt Popper. Eine „Rechtsordnung, der sich alle fügen“ ist „eine der wichtigsten Grundlage einer offenen Gesellschaft“. In den neuen Demokratien der postkommunistischen Staaten ist der Rechtsstaat, so Popper, sogar „das Allerwichtigste“, weil er so schwer zu etablieren ist. Dort ist auch der „Brief an meine russischen Leser“ abgedruckt, in dem Popper den Rechtsstaat „das dringendste Bedürfnis Osteuropas“ nennt.
„Der freie Markt benötigt den Schutz eines rechtlichen Rahmens“, doch „diese uralte Tradition wurde unglücklicherweise in vielen Ländern durch den Kommunismus zerstört, zusammen mit dem freien Markt. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, diese Tradition aus der eigenen Erfahrung Russlands in aller Eile wieder aufzubauen.“ Dies liegt vor allem auch daran, dass Institutionen wie der Rechtsstaat in Traditionen verwurzelt sein müssen. Das Recht muss von vielen auch wirklich ernst genommen und geachtet werden; es muss einen moralischen Rahmen für das Recht geben, einen allgemeinen Sinn für Gerechtigkeit und Anstand. Dieser traditionelle Rahmen wird durch Familie, Kirche, Zivilgesellschaft geschaffen – und gerade hier hatten die Kommunisten ihre Axt angelegt. Ihr zerstörerisches Werk hatte langfristige Folgen über die Auflösung der Sowjetunion hinaus. Denn sind Traditionen einmal weg, lassen sie sich eben nicht schnell wieder schaffen. (Dies ist sicher auch einer der Gründe, warum es zentraleuropäischen Ländern wie Polen, Tschechien oder den baltischen Staaten besser gelang, demokratische, marktwirtschaftliche Zivilgesellschaften aufzubauen; die kommunistische Herrschaft war dort kürzer: ‘nur’ etwa 40 Jahre und nicht 70 wie in Russland; und vor allem gab es ein freiheitliches, zivilgesellschaftliches Erbe bzw. Reste davon, an die angeknüpft werden konnte.)
Dem Rechtsstaat muss Geltung verliehen werden. Popper betont in dem Vorwort daher die Ausbildung von Juristen, „die dem Interesse der objektiven Wahrheit dienen“ und „die die geschriebenen Gesetze auch ernst nehmen“. Dies ist die „Hauptaufgabe des Staates“, dabei aber auch die „dringendste und schwierigste“, denn schnelle Erfolge lassen sich nicht erzielen. Das Ziel bleibt dabei: „Das Recht muss zur Tradition werden“.
(Fortsetzung folgt)
[…] dem deutschen Vorwort [s. Teil I] sei noch auf das wichtige vorletzte Kapitel der Offenen Gesellschaft hingewiesen: „Die orakelnde […]