Die ganze Bibel ohne Evangelium?

Die ganze Bibel ohne Evangelium?

„Es geht um die Liebe“

Das Wesentliche auf einem Bierdeckel. Man erinnert sich noch dunkel an die Idee von Friedrich Merz aus dem Jahr 2004. Der damalige Spitzenpolitiker der CDU skizzierte die Grundzüge einer Steuerreform auf einem solchen Untersetzer. Die „Bierdeckelwende“ scheiterte jedoch. Und Merz wurde bald von Merkel politisch entsorgt.

Werberin Eva Jung aus Hamburg hat mit der von ihr und einem Team erdachten Bierdeckelaktion für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) offensichtlich mehr Erfolg. Seit Jahren arbeitet Jungs Agentur mit der Kirche zusammen und gestaltet in einer Arbeitsgruppe von Kirchen- und Kommunikationsfachleuten die „Impulspost“, die die EKHN regelmäßig an ihrer Mitglieder verschickt.

Auf der Internetseite von gobasil heißt es über das Briefing: „Lässt sich der christliche Glaube in aller Kürze zusammenfassen? Wie müsste eine Impulspost für die 1,6 Mio Mitglieder der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau aussehen, die unter dem Leitthema ‘Religion und Wahrheit’ steht?“ Die Antwort der Werber: „Wir haben uns der Herausforderung gestellt und nach einer Lösung gesucht, die die 30.442 Verse der Bibel auf den Punkt bringt: Es geht um die Liebe – zu Gott, zu sich selbst und dem Nächsten – so bringt es jedenfalls Jesus auf den Punkt.“

Aufhänger der Aktion ist die Antwort Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot. In Mt 22,34–40 zitiert er zwei Verse aus dem AT, die die Gottes- bzw. die Nächstenliebe fordern. Daraus machte Jungs Team die drei Schlagworte „1. Liebe Gott. (Vielleicht erst mal kennenlernen?) 2. Liebe Dich selbst. (Egal, was dein Spiegel heute sagt.) 3. Liebe die Anderen. (Koste es, was es wolle?)“. Diese drei Aspekte der Liebe werden dann auf weiteren Bierdeckeln entfaltet: mit Zitaten bekannter Persönlichkeiten, Fragen in Großdruck und Bibelversen. Alles soll zum Gespräch über den Glauben anregen: „Reden wir drüber.“

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Auch in der ERF-Sendung aus der Reihe „Gott sei Dank“ vom 17. Februar erzählte Jung von der Zielsetzung der Bierdeckelaktion und dem Entstehungsprozess. Schließlich ist es heute schwierig, so Jung, „biblische Inhalte und Verse an Menschen zu übermitteln, die Gott nicht so nahe stehen“. Was ist das Erste, was ich jemandem sagen würde, der fragt: Was macht denn den christlichen Glauben aus? Verse wie Joh 14,6 („Ich bin der Weg, die Wahrheit und Leben“) wurden da natürlich in den Gesprächen des Planungsteams genannt. Aber will man damit gleich Fernstehende konfrontieren? „Bekommt man das schnell erklärt?“, fragte Jung.

Man landete also beim Liebesgebot und sucht über die Liebe einen Zugang zu den Zeitgenossen. Die Bierdeckel sollen Aufmerksamkeit erregen und zum Gespräch einladen. Und wenn mehr Menschen beherzigen würden, was da so geschrieben steht, sie also versuchten, ein Leben nach den Maßstäben der Liebe zu leben, „dann wären wir schon auf einem guten Weg“.

Jung bekennt sich zum christlichen Glauben. Für solch einen Job für die EKHN sei das sogar nötig. Beim ERF: „Wenn man für Kirche arbeitet, dann sollte man sich schon in der Materie auskennen“. Auch sei es hilfreich „die Zwischentöne zu verstehen“. Tatsächlich gehört sie zu den Kommunikationsfachleuten, die den Glauben mit spritzigen Ideen und Konzepten unters Volk zu bringen wissen. Man denke nur an „Viva la Reformation! Luther reloaded“ und andere visuelle Hingucker auf godnews.de. Nicht zu vergessen ihr Alltagstourist mit zahlreichen Fotografien und Textimpulsen Jungs, das auch auf unserem Bücherregal steht. Summa summarum: Tolle Arbeit, die sie und ihr Team machen! Streife ich über ihre Seiten, beginnt in mir zu schwingen, was von dem Gestalter noch übrig ist. (Jung studierte ab Herbst 1989 im Saarland Kommunikations-Design, ich das gleiche Fach ab März des gleichen  Jahres an der Fh Wiesbaden; nach der Hälfte des Studiums wechselte ich zum NLS, nun TSR.)

Die „Alleinstellung“ des Christentums

Kirchenpräsident der EKHN Volker Jung fragt eingangs im Begleitschreiben der Aktion: „Gibt es etwas, woran man sich immer orientieren kann? Wer oder was sagt mir, worum es im Leben eigentlich geht?“ Er nennt das Doppelgebot der Liebe und meint: „Ich bin überzeugt, dass viele Menschen spüren: Das trifft es. Ohne Liebe wären wir alle nichts. Und wenn alle Menschen sich daran orientieren würden, wäre das Leben besser.“

Auf den Seiten zur Aktion heißt es, mit dem Doppelgebot „sind alle Gebote zusammengefasst. Das heißt: Die Kernaussage aller Gebote ist Liebe. Sie soll der Kompass für das Leben sein.“ Die Liebe „ist das Fundament, auf dem das Leben, Beziehungen und das Miteinander gelingen oder eben auch scheitern können. Denn, was sich einfach anhört, ist oft nicht einfach umzusetzen.“ Die Bibel rege uns dazu an herauszufinden, wie man diese Liebe praktisch gestalten könne.

Die Worte der Bierdeckel sollen also dazu anregen, über die Kernfragen des Glaubens  ins Gespräch zu kommen. Die Aktion lädt dazu ein, über Gott nachzudenken und sich mit anderen auszutauschen, was mit den Begriffen „Gottesliebe“, „Selbstliebe“ und „Nächstenliebe“ konkret gemeint ist und wie man sie im Alltag leben kann.

Damit ergeben sich jedoch ernste Rückfragen: Ist das Liebesgebot tatsächlich „die biblische Kernaussage“ oder „Grundaussage“ der gesamten Bibel? Ist sie „der Glaube in aller Kürze“ und „das Wesentliche“ im Christentum? Das, „worauf es wirklich ankommt“? Steht im Mittelpunkt der Wahrheit dieser Religion ein Gebot?

Gewiss können die Bierdeckel zu Gesprächen über Gott, den Glauben und das Christentum anregen. Letztlich sind alle Themen und Aussagen in der Welt Gottes dazu in der Lage, da alles Geschaffene Offenbarungscharakter hat. Unter den Zitaten finden sich auch Sätze von Nietzsche und anderen Nichtchristen, was aber völlig in Ordnung ist, denn eine Teilerkenntnis der Wahrheit hatten auch sie. Aufhänger für Diskussionen über Gott und die Welt kann, wie gesagt, so gut wie alles sein.

Doch die Aktion hat ja ausdrücklich einen anderen Anspruch. „Die Bibel auf einem Bierdeckel?“ wird zwar auch mit einem Fragezeichen versehen, doch dies ändert nichts an der Grundaussage: Dies ist das Hauptthema der Bibel – zumindest in den Augen der Macher. Und „worüber reden wir eigentlich?“ Demnach reden wir in der Bibel wesentlich über Gebote und Anweisungen, über Gesetz.

Allein das Wort „Gesetz“ ruft heute selbst schon im kirchlichen Umfeld oft Abwehrreaktionen hervor. Beim Brainstorming zum Stichwort „Liebe“ kommt es wohl auch nur irgendwelchen ganz Frommen in den Sinn. Wie man es aber dreht und wendet: Die Zusammenfassung der Bibel ist im Imperativ formuliert („Liebe…“, d.h. du sollst den und den lieben).

Reden wir über Gesetz? Auf der einen Seite wird dies bestritten: Die Impulspost stelle „die Bibel nicht als Gesetzbuch oder Gebrauchsanweisung für richtiges Verhalten dar.“ Das heißt aber nur so viel, dass der Weg der Liebe kein einfacher ist. Es geht eben auf der anderen Seite doch darum, „wie man sie [die Liebe] im Alltag leben kann“ und wohl auch sollte. Als eine Art oberste Norm wird sie durchaus bekräftigt.

Damit ist jedoch aus der Guten Nachricht ein guter Ratschlag geworden. Ist die praktische Lebenshilfe aber die Kernbotschaft der Bibel? Wo ist der „entscheidende Produktvorteil“ des Produkts „christlicher Glaube“? Wo ist – um einen weiteren Werbebegriff zu gebrauchen – die „Alleinstellung“ des Christentums? Welches ist der „Markenkern“ der biblischen Religion? Was ist, wenn die Beziehung, die in Liebe gebaut werden sollte, scheitert? (Was ja, s.o., eingestanden wird.)

Wer sich in der Materie auskennt, kommt bei all den Fragen eigentlich schnell auf eine Antwort: das Evangelium. Es ist auf den Bierdeckeln allerdings so gut wie gar nicht zu finden. Unter „Liebe dich selbst“ sind auch Joh 3,1 oder Joh 3,16–17 abgedruckt. Da steckt Evangelium drin. Das war’s aber auch. Die Gesamtbotschaft der Bibel, ihre Grundaussage, ihre Spitze, ist eben kein Gebot und auch kein Ratschlag, sondern eine Zusage, ein Versprechen, ein Trost. Und vor allem kein Imperativ. „Praktiziere Liebe“ ist keine gute Nachricht. Der liebende Gott rettet meist lieblose Menschen durch seinen Sohn – das schon eher. Pfr. Matthias Krieser mit einer treffenden Kritik:

„Der entscheidende Mangel an diesem Bierdeckel ist jedoch, dass er die Hauptbotschaft der Bibel verfehlt. Wer die Quintessenz der Heiligen Schrift auf das Doppelgebot der Liebe reduziert, macht aus ihr vor allem ein Gesetzbuch und aus Jesus vor allem einen Gesetzeslehrer. Damit wird er dem, der Weg, Wahrheit und Leben ist, nicht gerecht, denn der Gekreuzigte und Auferstandene ist die Mitte der Schrift, und die Rechtfertigung des Sünders allein durch Christus ist die Kernbotschaft der Bibel. Sie lautet eben nicht: Liebe Gott und deinen Nächsten!, sondern sie lautet: Gott liebt dich! Wer diese frohe Botschaft des Evangeliums bei einer auch noch so knappen Zusammenfassung weglässt, entkernt die Bibel.“

„Summe und Substanz der Heiligen Schrift“

Krieser ist Geistlicher in der Selbständigen lutherischen Kirche. Dort hält man die Lehre Luthers noch hoch. So überrascht es nicht, dass er die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ins Spiel bringt, die zu den Kernvorstellungen des Reformators gehörte. Luther nannte das Lehren und Begreifen dieses Unterschiedes mehrfach „die höchste Kunst in der Christenheit“ (man beachte den Superlativ!). In den Tischreden: „Das Gesetz ist das, was wir tun sollen; das Evangelium aber handelt von Gott, von dem, was Gott geben will. Das erste können wir nicht tun; das zweite können wir annehmen, und zwar mit dem Glauben.“

Das Gesetz ist gebietendes, forderndes Wort, denn es drückt Gottes moralischen Willen aus. Das Evangelium zeigt die Erfüllung dieser Forderung in Christus, ist daher befreiendes Wort. Das Gesetz sagt: „tu dies“, das Evangelium antwortet: „dies ist getan“.

Wird diese Unterscheidung nicht beachtet, wird das Evangelium moralisiert und verschwindet damit. Das menschliche Tun, die Ethik, wird mit dem Zuspruch Gottes vermengt, so dass sich der Mensch doch wieder selbst erlösen muss. Aus dem liebenden Gott wird so schnell die Liebe als Gott, aus dem in Liebe geschenkten Evangelium unsere Liebe als falsches Evangelium.

Oft wird die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als lutherisch bezeichnet. Die Reformierten setzen hier traditionell vielleicht den einen oder anderen Akzent, im Grunde sehen sie die Zusammenhänge aber genauso. Theodore Beza, Calvins Nachfolger in Genf, sagte, dass „Unkenntnis dieser Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium eine der Hauptquellen der Missbräuche ist, welche das Christentum verfälschten und immer noch verfälschen“.

Gleich zu Beginn seines Kommentars zum Heidelberger Katechismus stellt Zacharias Ursinus (der Hauptautor des reformierten Katechismus) unter der Überschrift „Prolegomena“ fest: „Die Lehre von der Kirche ist die ganze und unverdorbene Lehre von Gesetz und Evangelium…“ Diese Lehre von der Kirche „besteht aus zwei Teilen: das Gesetz und das Evangelium“. Darin haben „wir die Summe und Substanz von der heiligen Heiligen Schrift erfasst“. Auch Christus selbst nennt er „die Substanz und den Grund der ganzen Schrift“. Das Gesetz hingegen ist „unser Zuchtmeister, um uns zu Christus zu bringen“, es zwingt uns gleichsam „zu ihm zu fliehen“. Gesetz und Evangelium – dies ist „das Ganze, was die Heilige Schrift umfasst“. „Das Gesetz schreibt vor und bestimmt, was getan werden soll und verbietet, was vermieden werden sollte.“ Das Evangelium hingegen ist „die freie Vergebung der Sünde durch und wegen Christus“. Das Gesetz „wird aus der Natur erkannt; das Evangelium wird göttlich offenbart“.

Im Heidelberger Katechismus wird die Liebe in allen drei Teilen thematisiert. Natürlich kommt sie im dritten Teil über das christliche Leben, vor allem in der Auslegung der einzelnen Gebote, mehrfach vor. Teil 2 handelt „Von des Menschen Erlösung“, und auch hier geht es natürlich auch um den liebenden, gnädigen und barmherzigen Gott. Das Doppelgebot der Liebe aus Mt 22 wird auch im Katechismus an einer Stelle zitiert, gleich zu Beginn in der Antwort zu Fr. 4: „Was fordert denn Gottes Gesetz von uns?“ Frage 5 führt nun aber in eine ganz andere Richtung als die Bierdeckelaktion: „Kannst du das alles vollkommen halten?“ Antwort: „Nein, denn ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen.“

Auch der Heidelberger bringt also die Liebe ins Gespräch. Das Liebesgebot ist aber hier dazu da, um dem Menschen zu zeigen, „wie groß meine Sünde und Elend  ist“ (Fr. 2). Und dies, so Autor Ursinus, muss begriffen werden, um den Trost des Evangeliums zu erfahren. Warum hätte man nicht auch Fr. 5 auf einem Bierdeckel abdrucken können? Zu provokant? Zu scharf? „Das kann man heute ja so wohl nicht mehr sagen!“ Schon möglich, aber wie lässt es sich anders, neu sagen? Oder ist es gar unwahr?

Das Doppelgebot der Liebe sei „rettende Lehre“ (B. McLaren), so zu „leben wie Jesus“ sei das Evangelium (T. Hebel) – so etwas hören wir heute öfter. Daher muss man es heutzutage eigentlich jedermann einhämmern: Liebe Gott, liebe dich selbst, liebe die anderen ist reformatorisch gesprochen Gesetz und nicht Evangelium. Dass man im Jahr der Reformation bei der EKHN auf eine Aktion stolz ist, die diesen Grundunterschied grob missachtet, ist geradezu peinlich.

Benzin im Blut

Aber was will man von einer Kirche erwarten, die selbst in der EKD als liberaler Vorreiter gilt? Selbst wenn Jung und Co. einmal kräftig gegen den Strich des Zeitgeistes gebürstet hätten, so wäre sicher mit dem Veto des anderen Jung in Darmstadt zu rechnen gewesen. An der Spitze der EKHN will man eine Bibel ins Gespräch bringen, an die man aber nur noch in ganz diffusem Sinn glaubt.

Auf den Begleitseiten zur Aktion („Mehr zur Bibel“) heißt es unter „Bibel und Wahrheit“ von einem Pfarrer der Kirche: „Die Bibel ist Menschenwerk. Gott spielt dabei die entscheidende Rolle. Ist die Bibel nun wahr?“ Gott spiele die entscheidende Rolle – was soll das heißen? Dass die Bibel in irgendeiner Weise tatsächlich Gottes Wort ist, kommt dem Theologen wohl schon gar nicht mehr in den Sinn. Diplomatisch geht es weiter: „Der Ansicht, die Bibel sei von Gott offenbart, können sich auch viele Christen nicht anschließen.“ Inwieweit die Bibel als Offenbarung anzusehen sein sollte, wird überhaupt nicht klar. Ihr Wahrheitsanspruch löst sich ebenfalls irgendwie auf. Von der Prozesshaftigkeit der Wahrheitserkenntnis im Allgemeinen ist die Rede. Die obige Frage (Ist die Bibel nun wahr?) wird gar nicht beantwortet.

„Religion und Wahrheit“, Wahrheit der Religion, Wahrheit der christlichen Religion. Wahrheit der Bibel? Bei der EKHN kommt man über ein Fragezeichen nicht hinaus. Damit schließt sich der Kreis. Denn das Evangelium ist offenbarte Wahrheit. Es wird nicht in der Schöpfung erkannt. Ohne übernatürliche Offenbarung kein Evangelium; ohne einen Offenbarer, der Gottmensch ist, kein Evangelium. Ohne übernatürliche Offenbarung haben Christen nichts mehr zu sagen – also kann nur eine humanistische Liebesreligion zurückbleiben, die sich jedoch als christlich ausgibt..

Als evangelische Kirche glaubt die EKHN offensichtlich nicht mehr an die einzigartigen Qualitäten ihres Produkts. In der ERF-Sendung verglich Jung ihre Arbeit für die Kirche mit Werbung für einen Autohersteller: Gute Autowerbung macht nur derjenige, der auch Benzin im Blut hat. Völlig richtig. Aber um im Bild zu bleiben: Wo ist das Benzin im Blut dieser Kirche? Als Werber würde ich mit so einem ‘Hersteller’ und Auftraggeber nicht zusammenarbeiten.