Ein neues Leitmotiv für Europa?
Das Christentum steckt in unserer Kultur… Es ist geistiger Selbstmord, eine solche Tradition aufzugeben. (Norbert Bolz)
Nach Abschluss der Osterweiterungen kamen Verantwortliche in der EU zu der Erkenntnis, dass Europa eine neue Zukunftsvision braucht. Im Auftrag von Parlament und Präsident der EU-Kommission wurden Arbeitsgruppen eingesetzt und Konferenzen organisiert, um einer neuen „Erzählung“ näherzukommen. Sie soll die Bürger mitreißen und inspirieren. Vor einem Jahr, am 1. März 2014, wurde bei der Abschlussveranstaltung in Berlin im Beisein der Kanzlerin und des damaligen Kommissionspräsidenten Barroso eine vierseitige Erklärung vorgestellt: „A New Narrative for Europe“, zu Deutsch „Ein neues Leitmotiv für Europa“.
Eine „starke Grundidee“?
„Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler“ haben die Erklärung verfasst. Ihr Anliegen: „Das Vertrauen in Europa muss zurückgewonnen werden“, „Werte wie Menschenwürde und Demokratie“ sind zu bekräftigen. Das Dokument soll „als Katalysator“ dienen, um „Anstoß zu weiteren Diskussionsbeiträgen“ zu geben. Es gilt ein Verständnis dafür zu entwickeln, „was den Geist Europas ausmacht“. Europa, so heißt es etwas großspurig, „ist eine Identität, eine Idee, ein Ideal“.
Worin besteht nun die „starke Grundidee“ (wie es in der Meldung der Bundesregierung heißt), die Europa so nötig habe? Was ist der „Geist Europas“ (engl. etwas anders: „Europe is a state of mind“; in der litauischen Übersetzung wurde sogar „Weltanschauung“ daraus)? Gleich eingangs: „Der Geist Europas stützt sich auf unser spirituelles, philosophisches, künstlerisches und wissenschaftliches Erbe…“ Die Rede ist von den „religiösen und weltlichen Überzeugungen“ der Bürger. Später wird ein „gemeinsames wissenschaftliches und philosophisches Gerüst“ genannt, direkt davor „Renaissance und Aufklärung“.
Am klarsten wird der Geist wohl noch in diesem Absatz umrissen: „Der Geist Europas ist in den gemeinsamen Werten Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verankert. Diese Grundwerte, auf denen die Daseinsberechtigung Europas beruht, müssen wir heute sorgsam hüten und stets neu bekräftigen. Wir müssen sie neu beleben, den Bürgerinnen und Bürgern des heutigen und künftigen Europas nahebringen und sie vor Angriffen von innen und außen schützen.“
„Sorgsam hüten“, „neu bekräftigen“, „neu beleben“, „nahebringen“, „vor Angriffen schützen“ – die Begriffswahl macht deutlich, dass es hier um tatsächlich sehr Wichtiges geht. Man vermisst jedoch jegliche Begründung von „Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“. Worin sind die verankert? Warum diese Werte und nicht andere? Woher stammen sie? Warum sollten sie so nachdrücklich betont, verteidigt und weitergegeben werden? Eine konkrete Antwort wird leider nicht einmal im Ansatz gegeben.
„Weltmeister in Nachhaltigkeit“
Konkret wird dagegen ein neues Paradigma gefordert: „Partizipative Demokratie und Nachhaltigkeit sind gemeinsame Paradigmen, die allen Europäerinnen und Europäern neue Hoffnung geben, an ihre Solidarität appellieren und sie in die Verantwortung nehmen.“ Unter der Überschrift „Renaissance und Weltoffenheit – Europa erneuern“: „Europa braucht einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel – eine Art neue Renaissance von der Dimension des geistigen Erwachens im 15. und 16. Jahrhundert. Damals erfolgte ein Umbruch in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft, mit dem der Grundstein für unsere heutige Wissensgesellschaft gelegt wurde.“
Als starke Grundidee ist eigentlich nur dies zu erkennen: „Wir müssen Weltmeister in Nachhaltigkeit werden…“ Und dann wird es in einem Text, in dem es doch um eine Vision und Big Idea gehen soll, sehr praktisch: „Der politische Körper Europas braucht die Wissenschaften…, um innovative Lösungen zur Senkung unseres Energieverbrauchs zu finden, um den Einsatz erneuerbarer Energieträger zu fördern und um Medikamente, Behandlungsmöglichkeiten und Lebensstile zu entwickeln oder wiederzuentdecken, die gut für uns sind.“ Etwas spöttisch möchte man hinzufügen: fehlt nur noch die Energiesparlampe und das E-Mobil.
„Idee der Einheit in Vielfalt“
Inzwischen fällt auf, dass das Christentum hier wie allgemein in den grundlegenden Dokumenten Europas nicht eindeutig genannt wird. In der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes…“ Im Englischen ist schwammig-neutral von „spiritual heritage“ die Rede – das spirituelle Erbe wie in der Leitmotiv-Erklärung. Es wird einfach unterschlagen, dass dieses Erbe in weiten Teilen christlich ist. Der Humanismus dagegen findet nun öfter Erwähnung. In der Präambel des Vertrages über die Europäische Union (konsolidierte Fassung) heißt es nun: „SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben…“ (Genauso in der Präambel des gescheiterten Verfassungsvertrages: „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas…“)
Welches sind konkret die geistig-weltanschaulichen Wurzeln Europas? Dürfen das Judentum und Christentum oder Gott hier genannt werden? Die laizistischen Franzosen und andere widersetzten sich bekanntlich bei der Diskussion um den Verfassungsvertrag vehement den Bestrebungen Polens, Spaniens, des Vatikans und vieler Christen. Ein Hinweis auf das religiöse bzw. spirituelle Erbe musste genügen. Der humanistische Geist der Präambel blieb so voll erhalten. Aber ist der Mensch wirklich das Wichtigste? Tatsächlich sollte in der Politik der einzelne Mensch sehr wichtig genommen werden. Aber offensichtlich darf Gott nicht mehr wichtig sein, obwohl doch gerade nur er die Würde des Menschen garantieren kann. Die Verantwortung vor Gott wurde bewusst nicht die Präambel übernommen – und das, obwohl man sogar die Verantwortung vor „den künftigen Generationen und der Erde“ erwähnt hat.
Die Leitmotiv-Erklärung nennt zur Abwechslung den Begriff „Humanismus“ nicht, dafür wird mehrfach die Renaissance erwähnt. G. Pico della Mirandola (1463-1499), einer der wichtigsten Denker dieser Epoche, lässt in Über die Würde des Menschen Gott zum Menschen sagen: „Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.“ Udo Di Fabio dazu: Pico della Mirandola „beginnt die Konstruktion seines Ideengebäudes mit einer im Grunde nur notdürftig kaschierten Gotteslästerung. Die biblische Offenbarung, wonach jeder einzelne Mensch ein Ebenbild Gottes sei, wird von seinen transzendenten Wurzeln und den praktischen Demutsermahnungen getrennt“. Der einzelne Mensch „wird in den Rang eines gottgleichen Schöpfers erhoben: ungebunden, souverän und jeder als Schöpfer seines Schicksals im Range gleich“ (Die Kultur der Freiheit).
Die großen Humanisten-Atheisten des 20. Jahrhunderts wie Bertrand Russell, Paul Kurtz, John Dewey und Julian Huxley gingen noch weiter: Moral leitet sich allein aus menschlichen Bedürfnissen und Erfahrungen ab; Wahrheit, Wissenschaft, Sinn gründen auf dem Menschen allein; das Universum ist selbstexistent, nicht geschaffen; jeder Supranaturalismus und Theismus wird abgelehnt. „Keine Gottheit wird uns retten; wir müssen uns selbst retten“, heißt es im Humanistischen Manifest II (1973). Beim Humanistischen Verband Deutschlands liest man: „Im Zentrum des humanistischen Denkens und Handelns steht der Mensch und nicht ein Gott oder verschiedene Götter. Humanisten orientieren sich am Diesseits, an der realen Welt…“
Christen sind aufgerufen, die „Deutungshoheit“ über einige wichtige Begriffe zurückzugewinnen. So ist Humanismus als solches kein schlechter Begriff, doch Christen haben sich die konkrete inhaltliche Füllung des Humanismus rauben lassen. Der große katholische Philosoph Jacques Maritain (1882–1973) betonte, dass wir einen theozentrischen Humanismus brauchen. Und auch der Säkularismus hat ursprünglich eine christliche Bedeutung: Alle weltliche Herrschaft ist nicht ewig, sondern auf dieses saeculum – Zeitalter – beschränkt. Oliver O’Donovan aus Oxford in The desire of the nations: „Der wahrhaft christliche Staat versteht sich als zutiefst säkular”, denn „dem Begriff ‘säkular’ steht nicht ‘heilig’ und auch nicht ‘geistlich’ gegenüber, sondern ‘ewig’.“
„Es ist nicht die Einheit der Idee, es ist die Vielheit der Ideen, der Pluralismus, auf den wir im Westen stolz sein sollten“, so Karl Popper 1959 im Vortrag „Woran glaubt der Westen?“. „Wir glauben an vielerlei“, was von „überragender Bedeutung“ sei. Zur etwa gleichen Zeit meinte ein anderer großer Liberaler, der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuß: Europa ist auf drei Hügeln erbaut – Areopag, Capitol und Golgatha. Golgatha steht natürlich für das Christentum. Zu Recht nennt die Leitmotiv-Erklärung die „Idee der Einheit in Vielfalt“. Doch heute ist diese Vielfalt oder Pluralität bedroht, denn das Christentum darf als konkretes Erbe, das den Geist Europas entscheidend mitgeprägt hat, gar nicht mehr genannt werden – Renaissance, Aufklärung, Humanismus dagegen schon. Es gilt immer wieder daran zu erinnern, dass unsere europäischen Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie, Trennung von Kirche und Staat, staatliches Gewaltmonopol, Menschenwürde usw. tief im jüdisch-christlichen Glauben verwurzelt sind. Europa hat ein doppeltes Erbe: Aufklärung und Christentum.
Die verteidigte Freiheit?
„Das Wertesystem des Westens findet seinen zentralen Wert in dem Glauben an den Segen und an die Würde der individuellen Freiheit“, so Di Fabio im oben zitierten Werk. Er wird dabei aber nicht müde hinzuzufügen, dass diese Freiheit sich nur in „Gemeinschaftshorizonten“ behaupten kann, d.h. die Bindung an Mitmenschen gehört zur Freiheit hinzu. Diese Bindung ist jedoch zuallererst eine freiwillige; sie realisiert sich vor allem in Ehe und Familie sowie den anderen Institutionen der Zivilgesellschaft (Vereine, Kirchen usw.), wo einzelne Bürger auf Basis der Freiwilligkeit kooperieren.
Häufig wird jedoch gleich der nächste Schritt getan und von der Abwehr des ‘nackten’ Individuums auf einer auszuweitende Rolle des Staates geschlossen. Auch in der Leitmotiv-Erklärung ergeht der Ruf nach staatlicher Gewalt: „Dieses Europa muss nun auch einen echten und wirksamen politischen Körper herausbilden, der willens und in der Lage ist, den Herausforderungen und Schwierigkeiten zu begegnen“. Der „politische Körper“ ist natürlich die Brüsseler quasi-staatliche Gewalt. Der entsprechende Buhmann ist natürlich der Neoliberalismus – auch wenn der Begriff selbst nicht fällt: „Das in dieser Zeit dominierende Leitmotiv – Selbstregulierung der Märkte und rückhaltlos spekulative Gewinnoptimierung – hielt dem Vergleich mit der Realität nicht stand.“
Ganz auf dieser Linie schrieb Wolfgang Streeck in Gekaufte Zeit (2013): „Ich sehe in der staatlichen Finanzkrise der Gegenwart die zeitgemäße Ausformung eines schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostizierten Funktionsproblems des modernen Staates, das darin besteht, dass dessen Fähigkeit, einer Gesellschaft von Privateigentümern die Mittel abzuringen, die er zur Erfüllung seiner – wachsenden – Aufgaben benötigt, tendenziell hinter dem Notwendigen zurückbleibt.“ Das ist euphemistisch formuliert (die Mittel werden ja wohl nicht abgerungen, sondern meist über Steuern mit staatlicher Gewalt abgenommen), und man wird ja wohl zurückfragen müssen: Wie weit soll angesichts einer Vervielfachung der Staats-, Steuer-und Sozialquote im 20. Jahrhundert das „Notwendige“ denn noch wachsen?
Die Lösung à la Streeck: Der Neoliberalismus wird mal eben aus dem pluralistischen, freiheitlichen Diskurs ausgegrenzt und für undemokratisch erklärt: „Mit einem demokratischen Staat dagegen ist der Neoliberalismus unvereinbar, sofern unter Demokratie ein Regime verstanden wird, das im Namen seiner Bürger mit öffentlicher Gewalt in die sich aus dem Marktgeschehen ergebende Verteilung wirtschaftlicher Güter eingreift.“
Vor solch einer Demokratie hat F.A. von Hayek immer gewarnt. Hier sei nur aus einem Interview mit dem Philosophen Norbert Bolz zitiert: „Irgendetwas muss Gott sein. Das ist evident beim Kult ums moderne Ich. Das ist auch evident bei der grünen Religion, wo Gottvater durch Mutter Erde ersetzt wird. Die Sozialreligion wiederum, in welcher der Staat quasi die göttliche Rolle einnimmt, ist sicher die wichtigste und immer noch folgenreichste. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass wir immer tiefer in den Staatsgötzendienst steuern – und jede Menge Theologen sind bereit, aus Gründen der Anpassung an dieser Sozialoffenbarung mitzuwirken… Die Frage ist nur: Welche Verknechtung ist die jammervollste? Ist es diese neuheidnische Natur-Idolatrie der Grünen, die ich in ganz besonderer Weise lächerlich finde? Oder ist es die Anbetung des Staates, die wenigstens eine gewisse Tradition hat? Oder ist es das Ich-Götzentum?“ (Focus.de, 21.04.2008) Hier schließt sich, nebenbei bemerkt, natürlich der Kreis: Ohne das Christentum als klar erkanntes und bekanntes Erbe drängt sich jede Art von Götzendienst in das Vakuum.
„Freiheit ist lebbar, aber auch alles andere als selbstverständlich. Sie muss immer wieder verteidigt werden. Freiheit ist die Grundlage für das einige Europa.“ In ihrer Rede am 1. März vergangenen Jahres hatte die Kanzlerin schon den richtigen Ton getroffen. Angesichts der Herausforderungen in Osteuropa, insbesondere der Ukraine, wäre Freiheit doch ein wirklich wichtiges Leitmotiv für Europa, eine Idee, die immer noch begeistert und von der viele in Zentraleuropa immer noch Inspiration schöpfen. Dass „Ein neues Leitmotiv für Europa“ als Katalysator für eine freiheitliche Vision dienen kann, darf allerdings bezweifelt werden.
[…] Zuerst erschienen auf lahayne.lt […]