Von zwei Reformationstagen
An der Tür der Schlosskirche?
Am Ende des Oktobers begehen evangelische Christen den Reformationstag. Denn am 31.10.1517 hat bekanntlich der Augustinermönch Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht und – möglicherweise – zu Wittenberg an die Tür der Schlosskirche genagelt. Möglicherweise: Moderne Darstellungen der Szene in Bildern und Filmen gibt es zahlreiche, doch Grundlage für diese Vorstellung ist im wesentlichen Melanchtons Satz aus dem Jahr 1546 (da war Luther schon tot): „Und diese [Thesen] schlug er [Luther] öffentlich an die Kirche, welche an das Schloß zu Wittenberg stößt, am Tage vor dem Feste aller Heiligen im Jahre 1517.“
Melanchton war jedoch 1517 noch nicht in Wittenberg, also kein Augenzeuge. Der Reformator selbst erwähnte in seinen Schriften das Schreiben und Herausgeben der Thesen, aber nirgendwo einen Anschlag. Im Vorwort des ersten Bandes seiner lateinischen Werke hielt Luther 1545 fest, er habe die Thesen seinen Bischöfen in Brandenburg und Mainz geschickt „mit der Bitte, das schamlose Treiben und die lästerlichen Reden der Ablaßprediger zu unterbinden“. Das Ergebnis ist bekannt: „Aber man schenkte dem armseligen Mönch überhaupt keine Beachtung. Also mißachtet, gab ich einen Zettel mit Disputationsthesen heraus.“ Luther scheint hier also zu bekräftigen, dass er zuerst ‘privat’ den Bischöfen geschrieben hat und es erst später zu einer Veröffentlichung im eigentlichen Sinne, der Drucklegung, kam.
Auch in Christoph Scheurls Geschichtsbuch der Christenheit aus dem Jahr 1528 wird ein Anschlag der Thesen nicht erwähnt. Dort heißt es nur: „Luther hat 95 Sätze vom Ablaß aufgestellt und den anderen Doctores zugeschickt, gewisslich nicht in der Absicht, daß sie weiter verbreitet würden.“
Ausführlich analysierte Erwin Iserloh 1961 die Quellenlage und kam in Luther zwischen Reform und Reformation zu dem Schluss: „Der Thesenanschlag fand nicht statt. Der 31. Oktober 1517 ist die Geburtsstunde der Reformation, nicht weil Luther damals seine 95 Thesen an die Türen der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen hat, sondern weil er sie an diesem Tag den zuständigen Kirchenfürsten zugestellt hat.“ Ihm folgte z.B. Gerhard Prause in seinem populären Niemand hat Kolumbus ausgelacht – Fälschungen und Lügen der Geschichte richtiggestellt, wo der Thesenanschlag rundheraus als Mythos bezeichnet wird.
Natürlich gibt es auch prominente Gegenstimmen. Kurt Aland hält in seiner Geschichte der Christenheit, Band II, erst fest, dass die Umstände „des Bekanntwerdens der 95 Thesen völlig gleichgültig sind, maßgebend ist ihr Inhalt und ihre Wirkung.“ Das ist sicher richtig. Dann meint er jedoch überraschend kategorisch zu Iserlohs Sicht, diese habe „keine Aussicht auf dauernde Geltung“.
Neue Nahrung erhielt die Diskussion vor einigen Jahren mit dem Fund einer Notiz von Luthers engem Mitarbeiter Georg Rörer (1492–1557). 1541 bemerkte dieser in Latein auf den letzten Seiten einer Luther-Bibel, dass „an den Türen der Kirchen“ in Wittenberg die Thesen „vorgestellt“ worden sind. Interessant ist hier die Nennung von mehreren Kirchen. Rörer war allerdings auch kein Augenzeuge, so dass diese Aussage ebenfalls umstritten bleibt.
Da es die Aussagen von Melanchton und Rörer gibt, diese aber auf wackeligen Füssen stehen, sollte man einerseits nicht kategorisch von einer Legende reden, aber auch andererseits den Anschlag selbst nichts als eindeutiges Faktum präsentieren. Horst Rabe formuliert angemessen vorsichtig in seiner Deutschen Geschichte 1500–1600: „Ob diese Bekanntmachung bereits am 31. Oktober 1517 und in der symbolträchtigen Form des Anschlags der Thesen an das Portal der Wittenberger Schlosskirche erfolgte, ist nicht sicher; möglicherweise ist Luther überhaupt erst an die Öffentlichkeit gegangen, als seine kirchlichen Oberen nicht auf seine Kritik reagierten.“
Der den Thesen beigefügte Brief an Erzbsichof Albrecht von Mainz ist erhalten und sehr ergeben im Ton. Luther hoffte sicher ehrlich, dass der Hohenzoller dem Treiben Tetzels Einhalt gebietet. Warum hätte er die Thesen öffentlichkeitswirksam annageln sollen, bevor der Erzbischof sie nach Wochen im November überhaupt lesen konnte? Vieles spricht dafür, dass Luther den Bischöfen Hieronymus und Albrecht Zeit gelassen hat zu reagieren – seelsorgerlich und theologisch. Sie versäumten diese Chance, und damit wächst ihre Verantwortung für den Beginn der Reformation nur noch.
Auch Heinz Schilling läßt in seiner Luther-Biographie Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs (2012) offen, ob es einen Anschlag der Thesen gegeben hat. Klar ist jedoch: „Der Professor wird selbst kaum zum Hammer gegriffen haben“, denn „es war die Aufgabe des Pedells [des Universitätsdieners], die Ankündigung an der dafür vorgesehenen Stelle anzubringen.“ Es kam dem Mönch „gar nicht in den Sinn, dass er damit die Autorität des Papstes berühren könnte. Seine Thesen sollte der akademischen Wahrheitsfindung dienen. Ein revolutionärer Thesenanschlag… fand daher nicht statt.“
Mit den Thesen kam ein Stein ins Rollen, aber sie selbst waren noch nicht das Dokument eines Reformators. „Luther befindet sich mit den Thesen im katholischen Raum“, so Aland, weswegen diese ja auch nicht zu den Bekenntnistexten der lutherischen Kirche gehören. Schilling: „Rückblickend betonte Martin Luther wiederholt, dass die Ablassthesen noch keineswegs die theologische Posaune waren, mit der er die Mauern des Papsttums zu Fall brachte.“ Allerdings war die „theologische Radikalisierung“ in den Thesen schon „angelegt“.
Im Haus eines Druckers
Wann ist der Beginn der Reformation? Mit den Thesen Luthers, ob nun an der Tür der Schlosskirche oder nicht, nahm tatsächlich eine Bewegung ihren Anfang. Doch erst im folgenden Jahr 1518 schrieb Luther erste reformatorische Schriften wie den Sermon vom Ablass und vor allem die Thesen zur Heidelberger Disputation.
Oft wird jedoch übersehen, dass es noch ein zweites ‘Urdatum der Reformation’ gibt, nämlich das sogenannte Zürcher Wurstessen. Am 09. März 1522, dem ersten Sonntag der vorösterlichen Fastenzeit, fand in der Stadt im Haus des Buchdruckers Christoph Froschauer ein Wurstessen statt. Zwei geräucherte Würste wurden kleingeschnitten und verteilt. Dies war eine mehr oder weniger öffentliche Demonstration, denn die Wurst wurde in der Fastenzeit verspeist, damit also bewusst und in provozierender Weise die katholischen Fastengebote gebrochen.
Huldrych Zwingli, seit einigen Jahren Prediger am Großmünster, war anwesend, ohne sich jedoch am Wurstessen zu beteiligen. Zugegegen war außerdem Leo Jud, Heinrich Bullingers späterer Freund und Kollege. Der Grosse Rat Zürichs verurteilte zunächst den Bruch des Abstinenzgebots, ordnete eine Untersuchung an. Froschauer musste sich vor dem Stadtrat verteidigen. In seiner Verteidigungsschrift vom 21. März gab dieser an, bei der vielen Arbeit mit einer dringenden Buchlieferung für Erasmus von Rotterdam zur Frankfurter Messe seien er und sein Hausgesinde vom „Mus“ allein nicht satt geworden… In Basel gab es übrigens wenig später sogar ein noch opulenteres Spanferkel-Essen.
Das Wurstessen, so unschuldig es auf den ersten Blick scheinen mag, war eine „Kampfansage“ (Aland). Die Reformation in der Schweiz kam nun in vollen Gang. Zwingli hatte schon mehrere Jahre fortlaufend aus der Bibel gepredigt, viele Mißstände in der Kirche kritisiert (wie die Fürbitte der Heiligen und das Fegfeuer) und z.B. auch geleugnet, dass der Zehnte eine für Christen gültige göttliche Ordnung sei. Persönlich hatte er schon mit der Papstkirche gebrochen, doch nun folgte der öffentliche Konflikt.
Zwei Wochen nach dem Wurstessen nahm Zwingli in einer Predigt zum Fasten Stellung, deren Text dann bereits am Gründonnerstag bei Froschauer im Druck erschien: Von Erkiesen und Freyheit der Speisen [Von der Wahl und Freiheit der Speisen]. Wie schon Luther vertrat Zwingli darin ein evangelisches Freiheitsverständnis. Der Wittenberger betonte in seinem Sermon von den guten Werken und in Von der Freiheit eines Christenmenschen (beide aus dem Jahr 1520) die zentrale Wichtigkeit des Glaubens, ohne den die Werke – und seien sie noch so religiös – in Gottes Augen wertlos sind. So auch Zwingli über seine Landsleute, die willig dem Fastenzwang folgten: „Ihr Glaube an Gott war nicht mehr so stark, dass sie auf ihn allein vertrauten und ihre Hoffnung auf ihn allein setzten, allein auf sein Gebot und seinen Willen hörten. Töricht begannen sie wiederum, dem Diktat der Menschen zu folgen.“
Da die Bibel das Fasten für Christen nirgendwo als Pflicht oder Gebot vorschreibt (es wird nur empfohlen), sind solche menschlichen Geboten und kirchlichen Ordnungen nicht unbedingt zu befolgen. Denn als Christ ist man allein der Bibel gegenüber zum letzten Gehorsam verpflichtet. Zwingli hat auch nichts dagegen, „wenn jemand zur Gesunderhaltung und Disziplinierung seines Körpers sich freiwillig Verzicht auferlegt und dabei sein Fasten nicht überbewertet“. Man dürfe aber nicht schlauer als Gott sein wollen und die biblischen Gebote „ergänzen und verbessern“ – „als ob Gott etwas versäumt habe“. So reden Christen sich dann ein, man sündige, wenn man diese Fastgebote nicht einhält. Auf diese Art, so der Reformator, wird das Gewissen „gebrandmarkt und beschmutzt“ und „zu wahrer Abgötterei“ verführt. Zwinglis Resumee:
„Kurz und einfach gesagt: Willst du gerne fasten, dann tue es! Willst du dabei auf Fleisch verzichten, dann iss auch kein Fleisch! Lass mir aber dabei dem Christen die freie Wahl!… Wenn aber dein Nächster daran Anstoß nimmt, wenn du von deiner Freiheit Gebrauch machst, dann sollst du ihn nicht grundlos in Schwierigkeiten oder Versuchung bringen. Nur wenn er den Grund deiner Freiheit erkennt, wird er nicht mehr daran Anstoß nehmen, es sei denn, er wolle dir vorsätzlich übel… Vielmehr sollst du deinem Nächsten in freundlicher Weise den Glauben erklären und ihm sagen, dass auch er alles essen dürfe und er darin frei sei.“
Ein Jahr später, nach der Ersten Zürcher Disputation 1523, wurden alle Fastengesetze aufgehoben. In den 67 Artikeln oder Schlussreden vom Januar 1523 betonte Zwingli, „daß kein Christ zu den Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet ist. Er darf also zu jeder Zeit jegliche Speise essen“ (24). Die Reformation wurde nach und nach eingeführt und 1525 mit der ersten Feier des Abendmahls in Zwinglis Verständnis abgeschlossen. Am Anfang dieses Prozesses stand das Wurstessen. Es war laut Theologischer Realenzyklopädie „der Moment, in dem der Übergang von der Reform innerhalb des alten Systems zum Systembruch vollzogen wurde“. Die „Reformation der Freiheit“ nahm hier ihren Anfang, zumindest in der Schweiz.
Diese evangelische Sicht von Geboten, Gewissen und Freiheit setzte sich allgemein durch und findet sich daher in vielen Bekenntnistexten. In den Berner Thesen aus dem Jahr 1528: „Die Kirche Christi macht nicht Gesetze und Gebote ohne Gottes Wort. Deshalb binden alle Menschensatzungen, die man Kirchengebote nennt, uns nicht weiter, als sie im göttlichen Wort begründet und geboten sind.“ Im Zweiten Helveticum schreibt Bullinger: „Je mehr Gebräuche sich in der Kirche anhäufen, desto mehr wird nicht nur die christliche Freiheit, sondern auch Christus selbst und dem Glauben Abbruch getan… “. Im Niederländischen Bekenntnis werden „alle menschlichen Erfindungen und alle Gesetze, welche zur Verehrung Gottes eingeführt sind, dass durch sie die Gewissen auf irgendeine weise gefesselt oder gebunden werden,“ verworfen.
Calvin widmete der christlichen Freiheit ein Kapitel (III,19) in seiner Institutio. Und im 17. Jhdt. formulierte dann das Westminster-Bekenntnis, Artikel 20,2, in gewohnt präziser Art:
„Gott allein ist Herr des Gewissens und hat es von menschlichen Lehren und Geboten frei gemacht, die in Sachen des Glaubens und Gottesdienstes in irgendetwas seinem Wort widersprechen oder darüber hinausgehen. Unter Berufung auf das Gewissen solche Lehren zu glauben und solchen Geboten zu gehorchen, ist ein Verrat an der wahren Freiheit des Gewissens, und die Forderung eines unbedingten Glaubens und eines absoluten und blinden Gehorsams bedeutet soviel, wie die Zerstörung der Freiheit des Gewissens und zugleich auch der Vernunft.“
Zur Reformation s. auch dieses neue Journal.
Bild oben: Die gußeiserne Thesentür in Wittenberg heute.