
Tag der evangelischen Freiheit
Am Beginn der Reformation in der Schweiz stand die Freiheit der Christen. Bildeten die 95 Thesen Martin Luthers den Startschuss in Deutschland, so war es dort das sogenannte Zürcher Wurstessen im Haus des Buchdruckers Christoph Froschauer.
Froschauer (1490–1564) stammte aus Bayern, war um 1515/16 nach Zürich gekommen und 1519 Bürger der Stadt geworden. Am ersten Sonntag der Fastenzeit, dem 9. März 1522, kamen in seinem Haus „Zum Wyngarten“ an der Gräbligasse zwölf Männer zusammen. Es wurden zwei geräucherte Würste kleingeschnitten, verteilt und gegessen.
Die Männer setzten sich damit über die in der Stadt allgemein geltenden kirchlichen Fastengesetze in der Passionszeit hinweg. Es war nicht das erste Übertreten dieser Vorschriften, doch das Treffen bei Froschauer war etwas Besonderes: Da Mitglieder des Großen Rates der Stadt sowie Ulrich Zwingli, seit drei Jahren Prediger am Großmünster, teilnahmen, kann man von einer „trefflich inszenierten Provokation“ sprechen, wie Bruce Gordon in seiner Zwingli-Biografie schreibt.
Froschauer musste sich vor dem Rat der Stadt für sein Vergehen rechtfertigen und sagte dort zur Verteidigung: „Ich glaube der Heiligen Schrift, die besagt, dass ein christliches Leben nicht von Essen und Trinken abhängig ist. Es hängt in der Tat nicht von äußeren Werken ab, sondern nur von wahrem Glauben, Vertrauen und Liebe, damit wir alle einfach, freundlich, gerecht und wahrhaftig miteinander leben können.“
Zwingli war bei dem Wurstessen anwesend, aß selbst jedoch kein Fleisch. So konnte er nicht angeklagt werden. Zwei Wochen nach dem Wurstessen nahm Zwingli in einer Predigt zum Fasten Stellung, deren Text dann bereits am Gründonnerstag, dem 16. April, bei Froschauer im Druck erschien: Von der Wahl und der Freiheit der Speisen.
Zwingli geht darin die relevanten Bibelstellen durch (wie Mt 15,17, Apg 10,10ff, 1 Kor 6,12f und andere aus den Paulus-Briefen) und skizziert ein evangelisches Freiheitsverständnis. Ohne Glauben sind die Werke – und seien sie noch so religiös – in Gottes Augen wertlos. Zwingli über seine Landsleute, die willig dem Fastenzwang folgten: „Ihr Glaube an Gott war nicht mehr so stark, dass sie auf ihn allein vertrauten und ihre Hoffnung auf ihn allein setzten, allein auf sein Gebot und seinen Willen hörten. Töricht begannen sie wiederum, dem Diktat der Menschen zu folgen.“
Zwingli hatte nichts dagegen, „wenn jemand zur Gesunderhaltung und Disziplinierung seines Körpers sich freiwillig Verzicht auferlegt und dabei sein Fasten nicht überbewertet“. Man dürfe aber nicht schlauer als Gott sein wollen und die biblischen Gebote „ergänzen und verbessern“ – „als ob Gott etwas versäumt habe“. So reden Christen sich dann ein, man sündige, wenn man diese Fastengebote nicht einhält. Auf diese Art, so der Reformator, wird das Gewissen „gebrandmarkt und beschmutzt“ und „zu wahrer Abgötterei“ verführt. Zwingli fasst zusammen:
„Kurz und einfach gesagt: Willst du gerne fasten, dann tue es! Willst du dabei auf Fleisch verzichten, dann iss auch kein Fleisch! Lass mir aber dabei dem Christen die freie Wahl!“ Es ist wohl „ein alter Brauch, an bestimmten Tagen kein Fleisch zu essen; aber erst durch die Anmaßung einiger Geistlicher ist dieser Brauch zu einem eigentlichen Verbot gemacht worden.“ Der Reformator weiter: „Wenn aber dein Nächster daran Anstoß nimmt, wenn du von deiner Freiheit Gebrauch machst, dann sollst du ihn nicht grundlos in Schwierigkeiten oder Versuchung bringen. Nur wenn er den Grund deiner Freiheit erkennt, wird er nicht mehr daran Anstoß nehmen, es sei denn, er wolle dir vorsätzlich übel. […] Vielmehr sollst du deinem Nächsten in freundlicher Weise den Glauben erklären und ihm sagen, dass auch er alles essen dürfe und er darin frei sei.“
Zwingli als Hirte seiner Gemeinde hatte also Gespür für die seelsorgerliche Anwendung seiner Grundsätze. Er nahm durchaus Rücksicht auf die Schwachen. Man solle „nicht ohne zwingenden Grund Fleisch vor ihm [einem Bruder mit schwachem Gewissen] essen“, d.h. nicht unnötig provozieren. Es gelte, „den Nächsten zu schonen, damit man ihn nicht verletze“, solle ihn also zuerst belehren und „im Glauben festmachen“.
„Gott allein ist Herr des Gewissens“
Wie beabsichtigt brachte das Wurstessen einen Stein ins Rollen. Nur ein knappes Jahr später, im Januar 1523, leitete der Rat der Stadt nach einer Disputation erste Schritte zur Einführung der Reformation in Zürich ein. In den 67 Thesen oder Artikeln Zwinglis zur Disputation heißt es zum Fasten: „Kein Christ ist zu Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet. Ein Christ darf jederzeit alle Speisen essen“ (24).
Ein paar Jahre später wird in den Berner Thesen (1528) festgehalten: „Die Kirche Christi macht nicht Gesetze und Gebote ohne Gottes Wort. Deshalb binden alle Menschensatzungen, die man Kirchengebote nennt, uns nicht weiter, als sie im göttlichen Wort begründet und geboten sind.“ Und im Zweiten Helvetischen Bekenntnis (1566) schreibt Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger in Zürich: „Je mehr Gebräuche sich in der Kirche anhäufen, desto mehr wird nicht nur die christliche Freiheit, sondern auch Christus selbst und dem Glauben Abbruch getan“. Schließlich werden im reformierten Niederländischen Bekenntnis (1562) „alle menschlichen Erfindungen und alle Gesetze, welche zur Verehrung Gottes eingeführt sind, dass durch sie die Gewissen auf irgendeine Weise gefesselt oder gebunden werden,“ verworfen (32).
Auch Johannes Calvin widmete der christlichen Freiheit ein langes Kapitel in seiner Institutio von 1559 (III,19). Bei der Darlegung des „Hauptinhalts der Lehre des Evangeliums“ darf die christliche Freiheit „unter keinen Umständen“ übergangen werden, so dort gleich eingangs.
Natürlich muss auch noch das Westminster-Bekenntnis (1647) zitiert werden, das durch seine hervorragende Darlegung der Freiheit herausragt, um die es im ganzen 20. Kapitel geht. Das Bekenntnis wurde federführend von den britischen Puritanern verfasst, gemeinhin wird es in die Schublade „protestantische Orthodoxie“ oder „reformierte Scholastik“ gesteckt. Dass es darin auch zentral um die Freiheit geht, ist heute leider nur wenigen bewusst. Gleich im ersten Punkt findet sich eine für das Bekenntnis typische umfassende Auflistung:
„Die Freiheit, die Christus für die Gläubigen unter dem Evangelium erworben hat, besteht in ihrer Freiheit von der Schuld der Sünde [1], von dem verdammenden Zorn Gottes [2], dem Fluch des Moralgesetzes [3] und in ihrem Befreitsein von dieser gegenwärtigen bösen Welt [4], der Knechtschaft des Satans [5] und der Herrschaft der Sünde [6], von dem Übel der Trübsale [7], von dem Stachel des Todes [8], von dem Sieg des Grabes [9] und von der ewigen Verdammnis [10], wie auch in ihrem freien Zugang zu Gott [11] und ihrem Leisten des Gehorsams gegen ihn [12], nicht aus knechtischer Furcht, sondern aus kindlicher Liebe und willigem Geist…“
Die Kirche Christi ist daher ein großer Raum der Freiheit. Dort untersteht der Christ einzig dem Wort Gottes und seinen Geboten. Die Diener der Kirche können einzig das als göttliches Gebot verkündigen, was in der Bibel zu finden und aus ihr klar abzuleiten ist. Er ist deshalb frei von aller bloß menschlichen Herrschaft und rein menschlichen, d.h. von Menschen ausgedachten Geboten. Der Christ darf nur durch Gottes Wort in seinem Gewissen gebunden, nur durch Gottes Wort ‘beherrscht’ werden. Geradezu revolutionär heißt es in 20,2:
„Gott allein ist Herr des Gewissens und hat es von menschlichen Lehren und Geboten frei gemacht, die in Sachen des Glaubens und Gottesdienstes in irgendetwas seinem Wort widersprechen oder darüber hinausgehen. Unter Berufung auf das Gewissen solche Lehren zu glauben und solchen Geboten zu gehorchen, ist ein Verrat an der wahren Freiheit des Gewissens, und die Forderung eines unbedingten Glaubens und eines absoluten und blinden Gehorsams bedeutet so viel, wie die Zerstörung der Freiheit des Gewissens und zugleich auch der Vernunft“.
Die Kirche darf nur das verbindlich als von Gott gefordert verlangen, was die Bibel gebietet, d.h. nur solche absoluten Normen setzen, die sich durch klare Schriftdeutung begründen lassen. Ein „absoluter oder blinder Gehorsam“ der Christen wird daher abgelehnt. Die Diener der Kirche müssen vielmehr den Gläubigen die Gebote und Normen klar erläutern und ihre Herkunft in Gottes Offenbarung beweisen.
In der Kirche sind wir einzig Gott und seinem Wort, dem „Gesetz der Freiheit“, so Calvin öfter, untergeordnet. Er kritisierte in der Institutio daher harsch die Kirchenführer, die „tyrannischen Druck auf die Gewissen“ der Gläubigen ausüben (IV,10,1). Kein Wunder, dass die Gewissensfreiheit ein wichtiges Produkt der Reformation war. Schon Luther sah sich einzig seinem Gewissen unterworfen – dies war ihm wichtiger als der Befehl des Kaisers! Aber nicht dem ‘nackten’ Gewissen jenseits aller Normen und Gebote. Beim Reichstag zu Worms 1521 betonte Luther, er könne nicht seine Schriften widerrufen, denn er sei „durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes.“
Diese Linien der lutherischen und reformierten Reformation laufen in der Barmer theologischen Erklärung von 1934 zusammen. In der zweiten von sechs Thesen heißt es: „Durch ihn [Jesus Christus] widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen“. Evangelische Freiheit verwirft nicht einfach tradtionelle Ordnungen; sie hat ihren Grund in der Befreiung durch Jesus selbst, der „das eine Wort Gottes [ist], das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“ (These 1).
Der 9. März bietet sich an als ein weiterer Reformationstag, als ein Tag der evangelischen Freiheit. Erinnert der Thesenanschlag Luthers daran, dass das Heil in keiner Weise erkauft werden kann, so sagt uns das Wurstessen, dass die Glaubenden einzig Eigentum Christi und nur unter und in Ihm frei sind. Ohne Christus, so Hans Asmussen, einer der Autoren der Barmer Erklärung, „gewinnen andere Herren […], andere Gebote als seine Gebote über uns Gewalt. Sie bieten sich an als Erlöser, aber sie erweisen sich als Folterknechte einer unerlösten Welt“.
(Bild o.: das Wurstessen – Szene aus dem Zwingli-Film von 2019)