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In Europa vom Glauben reden
Apostelgeschichte 16,9–15
Eingangs etwas Statistik. Von den 83 Millionen in Deutschland Lebenden gehören nur noch knapp die Hälfte den Landeskirchen – EKD und katholische Kirche – an. Vor einem Jahr überholte die Zahl der Konfessionslosen die der evangelischen und katholischen Christen zusammengerechnet. Noch ein paar Jahre, und dann ist auch die absolute Mehrheit dieses Landes ohne jede Religionszugehörigkeit. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Deutschland war einmal ein christliches Land.
In anderen europäischen Ländern ist die Entkirchlichung noch weiter fortgeschritten. Inzwischen gibt es allein in Süd-Korea fast doppelt so viele reformierte (oder presbyterianische) Christen wie in der Schweiz und den Niederlanden zusammengenommen! Lebten um 1900 noch über 80% der Christen in Europa und Nordamerika, so sind es heute nur noch um die 30%.
Der Schwerpunkt des Christentums hat sich vom Norden in den Süden – nach Asien, Afrika und Lateinamerika – verlagert, und dieser Trend wird sich in den kommenden Jahrzehnten weiter fortsetzen. Nach den USA war Deutschland im 20. Jahrhundert lange das zahlenmäßig zweitgrößte christliche Land der Welt. In diesem Jahrtausend ist es inzwischen ganz aus den Top Ten der Christenheit geflogen. Vor zwanzig Jahren überholte uns Nigeria, 2010 folgten Indien und Äthiopien.
Prächtige Kirchenbauten in Wittenberg oder in Zürich täuschen: an den Wirkungsstätten von Luther und Zwingli folgen nur noch 15 bzw. 16% der Bewohner den Lehren der Reformatoren. Die Schlussfolgerung aus all dem Geschilderten ist eindeutig: Europa ist wieder Missionsland. Unser Kontinent braucht das Evangelium, die Botschaft von Jesus, braucht missionarische Christen.
Dasselbe gilt für Litauen. Noch um die 80% der Litauer rechnen sich einer Kirche zu. Aber unter der religiösen Oberfläche ist die Entfremdung vom echten Christentum eher noch größer als in Westeuropa. Der Messbesuch ist im katholischen Litauen eher schlecht. Und nur 1% der Einwohner sind evangelisch, vielleicht zwei oder drei von eintausend Einwohnern evangelikal.
Vor bald zwei Jahrtausenden, im Jahr 49, wurde das Evangelium erstmals in Europa verkündigt. Auf seiner zweiten Missionsreise reiste der Apostel Paulus von der Provinz Asien (der heutigen Türkei) nach Mazedonien. Apostelgeschichte 16 berichtet uns von der ersten Christin auf dem europäischen Kontinent, der Purpurhändlerin Lydia in der Stadt Philippi. Im Haus der Geschäftsfrau versammelte sich bald eine erste christliche Gemeinde. Was können wir für das missionarische Handeln in Europa aus dieser Geschichte lernen?
Mit vier Punkten werde ich antworten: Zu den Menschen gehen; mit Menschen reden; Worten zuhören und sie verstehen; das, was wir verstanden haben, weitersagen.
Zu den Menschen gehen
Die Verse 9 und 10 erklären, warum Paulus und seine Gefährten beschlossen, nach Europa zu gehen. In Troas „hatte Paulus in der Nacht eine Vision: Er sah einen Mazedonier vor sich stehen, der ihn bat: ‘Komm nach Mazedonien herüber und hilf uns!’ Daraufhin suchten wir unverzüglich nach einer Gelegenheit zur Überfahrt…“.
Gott mag durch Träume und Visionen zu Menschen sprechen, aber das ist sicher nicht seine übliche Art uns zu leiten und Anweisungen zu geben. Das zeigt auch das weitere Vorgehen des Paulus in Philippi. Gott sprach nicht erneut zu ihm, zeigte ihm auf keine besondere Weise den Weg zu Lydia. Paulus und seine Mitarbeiter suchten – wie schon öfters zuvor – zunächst die jüdische Gemeinde. Wahrscheinlich gab es in Philippi keine Synagoge. Also überlegten sie: Wo versammeln sich die Juden der Stadt? Sie beschlossen, zum Fluss außerhalb der Stadt zu gehen, wo sie „eine jüdische Gebetsstätte vermuteten“ und dann auch tatsächlich fanden (V. 13).
Paulus, einmal in Europa angekommen, wartete also nicht auf direkte Anweisungen Gottes; er analysierte die Situation, dachte nach und traf eine vernünftige, strategisch sinnvolle Entscheidung: Lasst uns versuchen, zuerst zu denen zu gehen, die bereits an Gott glauben, zu den Juden und anderen „Gottesfürchtigen“; lasst uns versuchen, sie zu finden; lasst uns einen ersten Schritt hin zu bestimmten Menschen tun.
Der Missionsbefehl Jesu – „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker…“ (Mt 28,19) – ist ein Auftrag an alle Christen. Allen ist geboten, zu den Menschen zu gehen, das Evangelium zu bezeugen, die Botschaft von Jesus zu verkünden. Aber dieses große Gebot wird in kleinen Schritten umgesetzt. Paulus klopfte nicht an die Türen aller Häuser in Philippi; er ging nicht ‘zu allen’. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf eine jeweils kleine Gruppe und ging hin. Dabei wusste er nicht genau, was passieren würde.
Wo treffen wir heute Menschen, mit den wir über Gott sprechen können? Wo sind unsere Leute „am Fluss“? Jeder von uns ist aufgefordert, darüber nachzudenken. Das europäische Missionsfeld beginnt direkt vor unserer Haustür. Für Pastoren können dies Menschen sein, die aus Neugier unsere Gottesdienste besuchen; oder die Touristen, die in die Kirchen hineinschneien. Für andere sind es Mitbewohner im Haus, Kollegen, Verwandte und Nachbarn. Lasst uns beten, dass Gott uns Gelegenheiten gibt, über das Evangelium zu sprechen. Und dann machen wir das Beste aus diesen Gelegenheiten.
Es ist bemerkenswert, wieviel uns Lukas über die erste Christin Europas mitteilt: ihren Namen und Beruf, ihre Herkunft und religiöse Praxis. Damit wird betont, dass eine einzelne, konkrete Person in Europa am Anfang stand; und dass jeder Einzelne, jedes Individuum, wichtig ist. Mission bedeutet allermeist sich um einzelne Menschen mit ihren persönlichen Anschauungen, Biografien und Problemen zu kümmern. Zu den Menschen gehen bedeutet, dass wir den einzelnen Menschen vor Augen haben und ihn wertschätzen.
Mit den Menschen reden
Es heißt, dass Lydia eine „an den Gott Israels glaubende“ oder „gottesfürchtige Frau“ war. Diese Gruppe der „Gottesfürchtigen“ oder „Anbetenden“ waren Nichtjuden, die an den Gott der Juden glaubten und sich zur jüdischen Gemeinde hielten, aber nicht zum Judentum übertreten wollten. Wie es scheint, gab es in Philippi nicht genügend jüdische Männer für die Gründung einer Synagoge. Daher versammelten sich gläubige jüdische Frauen und Gottesfürchtige wie Lydia an einem Ort im Freien.
Paulus und Silas begannen, mit den Frauen zu reden (V. 13). Lukas verwendete nicht das griechische Wort für „predigen“. Das bedeutet, dass sie anfangs einfach nur mit den Frauen sprachen, sich mit ihnen unterhielten. Aus dem Kontext geht hervor, dass Paulus dabei irgendwann zum Erklären der Heiligen Schrift und zum Auslegen des Evangeliums, also zum Lehren, überging. Aber den Anfang machte ein Gespräch, das dann zum Lehrgespräch wurde.
Im Zentrum der christlichen Mission steht die Verkündigung, die Verbreitung der Nachricht über Jesus Christus. In der Apostelgeschichte wird oft berichtet, dass die Apostel „gepredigt“ haben. Aber das ist nicht die einzige Art der Verkündigung. Es gibt auch Lehrgespräche, Diskussionen oder einfache Unterhaltungen. Predigen ist nicht jedermanns Sache und Aufgabe, aber jeder Christ kann und sollte mit anderen reden und sich austauschen. Und diese Gespräche über das Evangelium bzw. seine Elemente können überall stattfinden: im Bus, am Küchentisch, im Garten, am Fluss…
Nicht allen Christen ist das Predigen aufgetragen, aber allen Christen ist es geboten, von der Hoffnung zu sprechen, die in uns ist (1 Pt 3,5). Und wenn einem die richtigen Worte fehlen, um diese Hoffnung auszudrücken? Das ist schließlich nicht selten der Fall. Dann kommt uns das große Erbe des Christentums zu Hilfe, zum Beispiel der Heidelberger Katechismus. Wir können die Antwort auf seine erste Frage – Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? – wiedergeben und kurz erklären. Gleich zu Beginn fasst dieser alte Text das Evangelium hervorragend zusammen.
Worten zuhören und sie verstehen
Was hat Lydia in dieser Geschichte gemacht? Was ist ihre erste Handlung? Lukas schreibt, dass sie begann zuzuhören (V. 14). Aus einer Unterhaltung über Beiläufiges war sicher bald ein Gespräch mit ernstem Inhalt geworden. Wir können übersetzen, dass die Frau „genau“ (GN) oder „aufmerksam“ (EÜ) zuhörte. Sie dachte wahrscheinlich: „Worüber redet dieser Jude? Über den Sohn Gottes? Seinen Tod am Kreuz? Die Auferstehung? Das alles ist neu für mich. Ich muss sehr gut zuhören!“ Wahrscheinlich beteiligten sich Lydia und andere mit Fragen und Bitten um bessere Erklärungen am Gespräch.
Im selben Kapitel ist noch von Wundern die Rede. Doch ganz am Beginn des europäischen Christentums steht nicht ein spektakuläres Wunder, sondern etwas Unscheinbares, aber Wichtiges und gar nicht so Einfaches: intensives Zuhören. Der erste Schritt zur Rettung bestand in unserem Text im Fall der Lydia darin, zuzuhören und sich zu bemühen, die Worte der Apostel zu verstehen. Was wir hinreichend – natürlich nicht vollkommen! – verstanden haben, ergreifen wir dann im Glauben.
Was ist zu tun, wenn wir ernste Fragen oder Zweifel haben und es uns schwer fällt zu glauben? Intensives Zuhören. Damit ist sicher nicht alles gesagt, aber ohne dies kommen wir kaum voran. In der Regel schenkt uns Gott Antworten und Erkenntnis dadurch, dass wir anderen Menschen wie den Hirten und Lehrern der Gemeinde aufmerksam zuhören. Das erfordert eine bewusste Entscheidung und Investition von Zeit. Es sei daran erinnert, dass das Grundbekenntnis des Volkes Israel genau dies war: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein“ (Dt 6,4). Auch der Christ ist zuallererst ein Hörender, ein Zuhörender. Und der Weg zum Christsein ist auch einer des Hörens.
Der zweite Satz in Vers 14 ist nun einer der wichtigsten in der ganzen Bibel: „Während sie uns zuhörte, öffnete ihr [Lydia] der Herr das Herz, so dass sie das, was Paulus sagte, bereitwillig aufnahm“. Ohne Gottes Handeln würde kein Mensch glauben. Denn der gefallene, sündige Mensch ist von Natur aus geistlich tot, blind für die Wahrheiten des Evangeliums. Es liegt daher an Gott selbst, die inneren „Augen des Herzens“ (Eph 1,18) zu erleuchten oder die inneren Ohren zu öffnen. Dies ist auch ein großes Wunder!
Was ist damit gemeint? Schauen wir genau hin: Gott öffnete ihr Herz, „so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde“ (Luther, fast wortgleich auch die Elberfelder). Gott öffnete ihr Herz, damit sie Paulus‘ Ausführungen folgen und sie verstehen konnte. Gott lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Worte des Paulus. Gott war am Werk, aber Er trat nicht auf die Bühne und ließ seine mächtige Stimme erklingen. Er benutzte die Worte des Paulus, eines Menschen. Er lenkte Lydias Gedanken auf die Bedeutung der Worte des Apostels, auf den Zusammenhang der Sätze, also auf Grammatik und Logik. Er brachte sie dazu, die Worte eines Menschen zu verstehen.
Gott öffnete Lydias Herz, aber sie hatte keine Vision und spürte wahrscheinlich auch nicht, dass Gott am Werk war. Sie hörte wohl keine göttliche Stimme in den Tiefen ihrer Seele oder dergleichen. Sie hörte zu, verstand offensichtlich das Gehörte, stimmte ihm zu und vertraute den Worten des Paulus über das Evangelium.
Und auf diese Weise wirkt Gott bis heute. Er benutzt immer noch unsere Worte, unser Reden, ob es sich um eine Predigt, eine Bibelstunde oder eine Radiosendung, ein einfaches Zeugnis, einen Artikel oder einen Vortrag handelt; Er bringt Menschen ins Nachdenken bei einem Gespräch am Arbeitsplatz und in der Kirche, im Bus oder bei einer Wanderung, im Garten oder im Krankenhaus.
Lydia dachte über die Worte der Apostel nach. Das war möglich, weil Paulus das Evangelium gewiss klar und schlüssig dargelegt hatte. In seinen Briefen ist dies deutlich zu erkennen. Wir als Christen müssen uns auch heute daher fragen: Macht das, was ich sage, wirklich Sinn? Kann der andere mich verstehen? Habe ich selbst verstanden, wovon ich rede?
Das, was wir verstanden haben, weitersagen
Viele Menschen würden wahrscheinlich einwenden: Gott hat die Worte von Paulus und den anderen Aposteln benutzt; heute benutzt er die Worte von Bischöfen, Pfarrern und anderen theologischen Fachleuten, aber sicher nicht meine! Aber die Bibel erlaubt uns nicht, so zu denken. Schauen wir Lukas Bericht noch einmal genau an.
In Vers 15 heißt es kurz, dass sich Lydia „mit allen, die in ihrem Haus lebten, hatte taufen lassen“. Lydia war wahrscheinlich eine Witwe; ihr Haushalt bestand aus Kindern und Angestellten. Wir können davon ausgehen, dass diese erweiterte Familie nicht klein war. Denn Lydia war wahrscheinlich eine wohlhabende Geschäftsfrau, schließlich verkaufte sie sehr teure Purpurstoffe. Doch obwohl sie die Haushaltsvorsitzende war, zwang sie ihre Mitbewohner sicher nicht, sich taufen zu lassen.
Eine ähnliche Geschichte aus demselben Kapitel zeigt dies: Der Kerkermeister in Philippi kam zum Glauben, und auch er ließ sich mit seiner Familie taufen. Der nächste Vers fügt eine wichtige Information hinzu: „Er und alle seine Leute waren glücklich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatten“ (16,33-34; GN). Die „ganze Hausgemeinschaft freute sich“ also (BasisBibel), weil sie alle wirklich geglaubt haben. Wir können fest davon ausgehen, dass sowohl Lydia als auch der Gefängnisdirektor ihren Familienmitgliedern und Mitarbeitern das Evangelium persönlich weitersagten – und all diese Menschen nahmen die gute Nachricht bereitwillig, freudig und ohne jeden Zwang an.
Gott benutzte also auch Lydias Rede, nicht nur die der Apostel. Gott beeinflusste sie innerlich, aber dann wurde sie selbst aktiv und erzählte ihrem Umfeld alles über Jesus. Vor allem auf diese Weise verbreitete sich das Christentum in den ersten Jahrhunderten: Gläubige, meist einfache Menschen, sprachen mit anderen – vor allem mit Familienmitgliedern oder bei der Arbeit. Die Kirche wuchs auch durch die Arbeit ihrer Amtsträger, der Hirten und Ältesten, aber vor allem durch das Wirken ihrer Mitglieder im Alltag; durch die Aktivität von Männern und Frauen.
So schließt sich der Kreis, und wir sind wieder beim ersten Punkt angelangt: zu den Menschen gehen. Oft muss man gar nicht weit gehen – nur zu den Mitgliedern der eigenen Familie, des eigenen Haushalts. Paulus selbst hatte keine Familie, zumindest wissen wir nichts davon. Ihn gebrauchte Gott für weitere Wege und führte ihn auf besondere Art. Zu welchen Menschen Gott uns auch immer führt – wir können sicher sein, dass Er immer noch die Herzen der Menschen öffnet. Gott gebraucht Menschen wie Paulus und wie Lydia, die freudig und aktiv das Evangelium verkünden. Auch wenn Deutschland kein christliches Land mehr ist, werden so immer noch Menschen Christen.
Europa ist Missionsland. Wir brauchen gar nicht mehr so weit zu gehen. Und zu Hilfe kommt das reiche geistliche Erbe unseres Kontinents, das auch nicht schwierig zu finden ist. Den Reformatoren wie Martin Luther, Johannes Calvin oder Ulrich Zwingli hatte Gott ähnlich wie Lydia das Herz geöffnet. Deshalb redeten sie vom Glauben, und deshalb betonten sie wie Zwingli 1523, „dass ein wahrhaft gläubiger Mensch, der das Heil, die Ruhe und die Freude seiner Seele kennt, ja stets mit sich herumtragt, es nicht ertragen kann, wenn sein Nächster diese Freuden und das Heil nicht kennt… Der Gläubige hat also keine Ruhe, solange er seinen Nächsten im Unglauben leben sieht.“
Wenn wir uns von dieser geistigen Unruhe eines Zwingli oder der Apostel im ersten Jahrhundert leiten lassen, wird der christliche Glaube weiter wachsen und werden, so Gott will, auch unsere Kirchen in Europa wieder wachsen.
Foto o.: mutmasslicher Ort, an dem die Apostel in Philippi die Frauen am Fluss trafen; heute ein Baptisterium (Ian W. Scott)