„Erst einmal siegen“
1914 taumelten die europäischen Völker in den Krieg. Die schnellen Siege blieben aus, und so suchte die deutsche Heeresleitung 1916 die Entscheidung bei Verdun. Mit gerade 18 Jahren lag damals auch Wilhelm Busch in einem Schützengraben und wartete mit einem Kameraden auf den Befehl zum Vorrücken auf Verdun. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sich die beiden schmutzige Witze. Aber auf einmal bekommt Busch keine Antwort mehr. Den Kameraden hat ein Granatsplitter direkt ins Herz getroffen. „Wenn wir jetzt andersherum gesessen hätten, dann hätte es mich erwischt“, schießt es Busch durch den Kopf. Und es wird ihm klar: „Ich habe alle Gebote Gottes übertreten! Und wenn ich jetzt einen Schuss kriege, dann stehe ich vor Gott!“
Die Angst packt ihn und einige Zeit später fragt er einen Militärpfarrer: „Was soll ich tun, dass ich nicht in die Hölle komme?“ Der Geistliche antwortet: „Herr Leutnant, wir müssen erst einmal siegen. Siegen, siegen!“ Der Mann Gottes hilft Busch nicht weiter. Also geht Gott einen anderen Weg: In einem Bauernhaus hinter der Front entdeckt der junge Soldat ein Neues Testament und liest darin, „dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen“ (1 Tim 1,15). Das Wort Gottes tut seine Wirkung. Busch, Sohn eines Pfarrers, kommt nach einigen Wochen zum Glauben an diesen Jesus Christus.
Nach dem Weltkrieg studierte Busch Theologie und wirkte viele Jahrzehnte als Jugendpfarrer in Essen. Während der Zeit des Nationalsozialismus brachte ihn sein Einsatz in der Bekennenden Kirche mehrfach ins Gefängnis. Bis zu seinem Tod 1966 war Busch als reisender Evangelist tätig. 1967 erschienen einige seiner evangelistischen Vorträge unter dem Titel Jesus unser Schicksal – eine der erfolgreichsten christlichen Schriften. Das Buch wurde in zig Sprachen übersetzt. 1995 kam die litauische Ausgabe heraus (2. Auflage 2023).
Im Kapitel „Achtung, Lebensgefahr!“ schildert Busch die obigen Kriegserlebnisse. Wir müssen alle darüber nachdenken, was nach dem Tod passiert, so die Botschaft. Wie kann ich, der sündige Mensch, dann vor einem heiligen und gerechten Gott stehen? Das ist die Frage über das Letzte des Lebens, auf die jeder in diesem Leben eine Antwort gefunden haben sollte. Sieg über den ewigen Tod und Widersacher Gottes – das ist das Letzte, weil Ewige; es ist das Allerwichtigste. Sieg gegen irdische Kriegsgegner ist dagegen nur das Vorletzte. „Erst einmal“ muss nicht der Franzose (oder wer auch immer) besiegt, sondern Christus gewonnen werden.
Die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem traf Dietrich Bonhoeffer in einem Abschnitt seiner während des II Weltkriegs entstandenen Ethik. Wie Busch engagierte sich der neun Jahre jüngere Bonhoeffer in der Bekennenden Kirche. Wegen „Wehrkraftzersetzung“ wurde er 1943 verhaftet und kurz vor Kriegsende von den Nazis hingerichtet.
Die erstrangigen Dinge – das Reich Gottes, das ewige Leben und die Rechtfertigung aus Glauben – nennt Bonhoeffer „das Letzte“; „das Vorletzte“ ist unser Leben als Menschen in den irdischen Ordnungen der geschaffenen Welt. Diese werden einmal nicht mehr sein, weshalb sie eben nur das Vor-letzte sind. Dazu gehören die Ehe und die biologische Vermehrung, die irdische Arbeitswelt und die zivile Obrigkeit.
Bonhoeffer sieht nun zwei Gefahren. Da ist auf der einen Seite ein falscher Radikalismus, der die irdischen Ord-nungen geringschätzt und ihre Prinzipien ganz leugnet – das Letzte verdrängt das Vorletzte. So gab es in der Kirchengeschichte immer wieder schwärmerische Strömungen, die die Ehe oder das Eigentum verwarfen. Bonhoeffer warnt vor „unverantwortlichem Phantasieren von Gesetzen, denen die Welt niemals gehorcht“. So sind zum Beispiel das selbstlose Teilen der Güter oder die radikale Gewaltlosigkeit Zeichen des Letzten und gelten in der Kirche, dürfen der Wirtschaft und Politik in der Welt aber nicht übergestülpt werden.
Die andere große Gefahr ist, dass das Vorletzte das Letzte verdrängt. Geradezu prophetisch sah Bonhoeffer die Gefahr, dass der „christliche Kompromißgeist“ die Kirche infiziert und diese sich der Welt anpasst. Die Worte des Militärpfarrers, der Busch nicht half, sind ein krasses Beispiel. Besonders in Kriegszeiten unterwerfen Staaten ganze Gesellschaften und auch Kirchen einer vermeintlich heiligen Sache, der alles untergeordnet werden müsse.
1934 war Bonhoeffer Pfarrer der deutschen Gemeinde in London und engagierte sich im „Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen“. Die dunklen Wolken des Krieges begannen schon heraufzuziehen. Bei der Jugendkonferenz des Weltbundes auf der dänischen Nordseeinsel Fanø hielt er am 28. August, vor neunzig Jahren, als Teil einer Morgenandacht ein viel beachtete Ansprache.
Bonhoeffer betont darin, dass die ganze Welt allein um der Kirche Christi willen noch besteht – das Vorletzte um des Letzten willen. „Und diese Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art, und die Brüder dieser Kirche sind durch das Gebot des einen Herrn Christus, auf das sie hören, unzertrennlicher verbunden als alle Bande der Geschichte, des Blutes, der Klassen und der Sprachen Menschen binden können. Alle diese Bindungen innerweltlicher Art sind wohl gültige, nicht gleichgültige, aber vor Christus auch nicht endgültige Bindungen.“
Das menschliche Leben in Sprach- und Kulturgemeinschaften, in Nationen und Staaten, verbindet gläubige wie ungläubige Menschen. Bindungen dieser Art sind gut und „gültig“, aber eben keine „endgültigen Bindungen“, denn sie gehören dem Bereich des Vorletzten an. Die Gemeinschaft der Geschwister im Herrn in allen Völkern verbindet Gläubige in Christus durch den Hl. Geist „unzertrennlicher“ – tiefgreifender und fester, ewig und endgültig. Konkret bedeutet dies: der Christ in Deutschland war zu Zeiten von Busch und Bonhoeffer mit dem Bruder im Land des „Erzfeindes“ geistlich enger verbunden als mit dem ungläubigen „Volksgenossen“. Für die verfeindeten Völker im heutigen Europa gilt Entsprechendes.
Kriege neigen dazu, die Bevölkerung eines Landes gegen den Feind fest zu vereinen. Plötzlich entdecken auch Christen ihre nationalen Bindungen wieder, werden teilweise zu glühenden Patrioten. Wenn sich alle um Vorletztes wie „Kriegstüchtigkeit“ sorgen, muss die Kirche Christi Fragen des Letzten stellen: Mit wem sind wir als Christen wirklich unzertrennlich verbunden? Hast du Anteil am Sieg Christi? Bist du tüchtig für die Ewigkeit?