30 Jahre in Litauen: ein persönlicher Rückblick
„Warum Litauen? Wieso bist du damals in dieses Land gegangen?“ Eine Antwort beginnt mit Viktor, einem jungen Aussiedler, mit dem ich 1987/88 Zivildienst im Neues Leben-Zentrum in Wölmersen leistete. Er wurde danach Fahrer von Neues Leben-Gründer Anton Schulte. In diesen Jahren wurde der eiserne Vorhang langsam beiseitegeschoben, erste Missionswerke gründeten sich in der Sowjetunion, russischsprachige Freiwillige aus dem Westen kamen zu Hilfe. Viktor kannte einen dieser Pioniere, der bei einem litauischen Missionswerk in Šiauliai im Nordwesten des Landes aushalf. So gelangte Litauen auf den Radar von Neues Leben. Im Februar 1991 reisten Viktor und ein weiterer Freund, wie ich Student am Neues Leben-Seminar, nach Litauen, um die Lage auszukundschaften. Sie kamen mit dem Entschluss zurück, nach Litauen zu ziehen, um den Christen dort helfen.
Erstaunt und auch ein bisschen begeistert verfolgte ich den Tatendrang der beiden. Es waren ja wirklich aufregende Zeiten – unter Geburtswehen kam 1990/91 ein neuer, alter Staat auf die Welt: die Republik Litauen. Auch das geistliche Leben in der ganzen Region erlebte eine Wiedergeburt. So wollten auch wir nicht abseits stehen. Im April 1991 wurde im Haus von Wilfried Schulte „projekt L.“ gegründet, ein Arbeitszweig von Neues Leben Medien. Beide Freunde gingen mit ihren Familien nach Šiauliai. Mehrmals reiste auch ich in diesen Jahren nach Litauen. Bald baten die beiden mich, sich ihrem Team vor Ort anzuschließen.
1992 schloss ich das Neues Leben Seminar (nun TSR) ab. In Litauen wollten wir uns u.a. auf Medienarbeit konzentrieren. Einen passenden Hintergrund mit drei Semestern Kommunikationsdesign an der FH Wiesbaden hatte ich schon; es folgte noch ein halbes Jahr beim ERF in der Fernsehabteilung. Aber mit dem Schritt nach Litauen zögerte ich, schließlich hatte ich nie die Absicht so etwas wie Missionar zu werden.
Eine Evangelisationswoche in Kaunas im Sommer 1993 war da eine wichtige Entscheidungshilfe. Im Team von Evangelist Markus Pfeil von Neues Leben und einer Gruppe von jungen Mennoniten war ich mit dabei. Mit einer Baptistengemeinde der Stadt (die nun von Rimas Schwager Artūras geleitet wird) luden wir zu Abendveranstaltungen ein – und der Saal war immer gerammelt voll (s. Foto ganz oben). Auch Rima fand in diesen Augusttagen zu Jesus.
Zurückgekehrt entschloss ich mich, den Schritt nach Litauen zu wagen. Mitte November ging’s mit einem kleinen Lkw ins Baltikum, das wenig gastfreundlich empfing: dunkel, kalt und feucht. 1993 war ein wichtiges Jahr für Litauen: das erste Mal wurde ein Staatsoberhaupt gewählt, die nationale Währung Litas kam in den Umlauf, und die letzten Einheiten der Roten Armee zogen ab.
In den 90er Jahren blieb das Warenangebot dürftig, die Lebenshaltungskosten für uns Ausländer waren niedrig. Allerdings galt es so manche bürokratischen Hindernisse zu überwinden. Und die litauische Sprache stellte sich als harte Nuss heraus. Eine erste richtig kalte Dusche gab es schon 1994: die Zusammenarbeit mit dem oben genannten litauischen Werk scheiterte. Alles stand auf der Kippe. Wir machten uns vor Ort selbständig und gaben u.a. das christliche Journal „Prizmė“ heraus.
1997 heirateten Rima und ich. Zwischen 1998 und 2006 wurden in Šiauliai unsere vier Kinder geboren. Wir haben ihnen neben all der Arbeit viel Zeit gewidmet, was sich heute auszahlt: wir verstehen uns alle sehr gut und halten als Familie fest zusammen. Grundlage dafür ist auch der gemeinsame Glaube, der auch mit meiner Familie in Deutschland verbindet. Ihr Rückhalt über die vielen Jahre für mich bzw. uns ist wohl kaum zu überschätzen.
Ende der 90er Jahre zog sich Neues Leben aus Litauen zurück; unsere Arbeit in Šiauliai wurde von einem anderem deutsch-internationalen Missionswerk übernommen. Aber es passte nicht zusammen, was nicht zusammen gehört: im Herbst 2001 wurde mir gekündigt. Eine bittere Erfahrung – und dieses Mal stand persönlich und familiär viel auf der Kippe. Bis heute bin ich dem damaligen Vorstand von Neues Leben dankbar, dass sie mich wieder unter die Fittiche nahmen und falschen Anschuldigungen nicht glaubten. Ohne im Land selbst direkt tätig zu sein, läßt mich das Werk seitdem gnädig mitlaufen, und so konnten wir unsere Arbeit in Litauen fortführen (seit 2018 bin ich arbeitsrechtlich Mitarbeiter der reformierten Kirche Litauens; alle Spenden für uns laufen aber weiter über Neues Leben).
Jeder Missionar muss seinen eigenen Weg unter der Leitung Gottes finden. Ich persönlich halte mich an drei Grundsätze:
Nicht nach vorne drängeln. Ausländern steht es nicht gut an, die erste Geige spielen zu wollen. In der Regel sollte man auf Einladungen und Berufungen warten. 2004 erhielt ich die erste Anfrage, einen Kurs am EBI zu unterrichten – es wurden bald immer mehr. Diesen Sommer drängte man mich, das Rektorenamt zu übernehmen. Vor über zehn Jahren bat die reformierte Kirchenleitung, ich solle doch über eine Ordination nachdenken. Bald folgte der Ruf nach Vilnius. 2018 zogen wir endlich in die Hauptstadt um, im Jahr darauf wurde ich in die Reihe der Pastoren aufgenommen.
Nicht das eigene Süppchen kochen. Missionare stehen in der Versuchung, ihre eigenen Visionen großzuschreiben. Sicher soll man seine Gaben einbringen und muss nicht selten Initiative zeigen. Aber Missionare sollten nicht ihre Lieblingsprojekte durchdrücken, sondern wirklich zu Hilfe kommen. Uns geht es seit Jahrzehnten darum, die bestehenden Werke und Kirchen in Litauen zu stärken und um Zusammenarbeit zu werben.
Nicht die Hoffnung verlieren. Viele Entwicklungen in Litauen machen große Sorgen, und das politische Spitzenpersonal gibt keinerlei Hoffnung. Hinter der religiösen Fassade zeigt sich oft, wie stark säkularisiert die Gesellschaft schon ist. Hinzu kommt die oft erschreckende Profillosigkeit der Evangelischen. Die Säle und Kirchen sind nicht mehr voll wie 1993, doch wir arbeiten nun gerne mit kleineren Gruppen und freuen uns über jeden Einzelnen. Hoffnung machen Menschen wie Džiuljeta, Direktorin einer christlichen Schule in Klaipėda, die 300km zu den EBI-Vorlesungen in Vilnius fährt; Phy-sikstudent Justinas, der durch LKSB zum Glauben fand und nun seine Mitstudierende zu Jesus führt; oder Dainius, gut verdienender Manager, der neben der Arbeit am EBI studiert und in diesem Jahr in unserer Kirche ordiniert wurde und den vollzeitlichen Dienst anstrebt. Möge Gott durch sie Hoffnung weitertragen!