Der wahre Schatz der Kirche
Am 31. Oktober blicken evangelische Christen auf den Beginn der Reformation zurück. An diesen Tag im Jahr 1517 veröffentliche Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen. Der Mönch, Theologieprofessor und Gemeindepastor rief darin zu einer akademischen Debatte über den Ablass auf. Er konnte nicht ahnen, was er damit auslösen sollte. Seine Thesen wurden schnell aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt und verbreiteten sich in Windeseile in ganz Deutschland. Ein akademischer Text, der damals wie heute für den normalen Christen, den theologischen Laien, in Teilen kaum zu verstehen ist, wurde auch von einfachen Menschen aufgesogen. Warum? Wie konnte das passieren?
Luther hatte in seinen Thesen ein Thema angesprochen, das bis heute die Menschen anrührt: Geld und Glaube. Die Reformation begann, weil zwei Männer Geld – und sehr viel davon! – brauchten: der junge Mainzer Erzbischof, der seinen dritten Bischofstitel hatte teuer kaufen müssen; und der Papst in Rom, der Unmengen von Geld für sein gigantisches Bauprojekt benötigte – für den Petersdom. Damit dies Geld in die Kassen kommt, wurde Johannes Tetzel durch Deutschland geschickt, um dem Volk Ablassbriefe zu verkaufen. Dagegen erhob sich Luthers Protest.
Die Lehre vom Ablass ist evangelischen Christen heute völlig fremd. In mehrheitlich katholischen Ländern wie Litauen sieht man aber, wie wichtig Ablässe bis heute sind. In jedem Jahr kann man im kleinen Litauen an Dutzenden Orten Ablässe erwerben. Um Kirchen herum gibt es dann so etwas wie Jahrmärkte mit vielen Buden – eine Art Volksfest; oft trifft sich die Verwandschaft.
Anders als zu Luthers Zeiten wird der Kirche nun kein Geld mehr gezahlt. Aber immer noch bedeutet Ablass ein Erlassen von zeitlichen Sündenstrafen; die Schuld ist schon vergeben, aber die Strafen müssen noch im Fegefeuer abgebüst werden. Denn nach katholischer Auffassung kommt ein Christ nach dem Tod zuerst ins reinigende Fegefeuer. Der Ablass verkürzt diese Zeit – der Christ kommt schneller in den Himmel.
Warum kann die Kirche Ablässe gewähren? Die katholische Kirche lehrt, dass sie einen Schatz verwaltet: den Kirchen- oder Gnadenschatz. Dies sind keine materiellen Güter. Er besteht aus den Verdiensten Jesu Christi und Marias und der Heiligen, aus dem „unermeßlichen Wert“ ihrer Werke und Gebete. Heute gibt es keine Geldzahlungen mehr, um im Ablass an diesen Schatz heranzukommen. Aber es wird immer noch etwas getauscht: ich tue etwas, besuche z.B. bei einem Ablass eine bestimmte Kirche, sage Gebete auf; und dafür wird mir oder anderen Menschen Ablass gewährt.
In seinen Thesen widersprach Luther: „Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ (62) Dieser Schatz hat mit Geldzahlungen oder Leistungen nichts zu tun. Die Thesen 36 und 37: „Jeder wahrhaft reumütige Christ erlangt völligen Erlass von Strafe und Schuld, der ihm auch ohne Ablassbriefe zukommt. Jeder wahre Christ, sei er lebendig oder tot, hat, ihm von Gott geschenkt, teil an allen Gütern Christi und der Kirche, auch ohne Ablassbriefe.“
Luther lehnte damals den Ablass noch nicht ganz ab. Aber hier haben wir schon den evangelischen Glauben in seinem Kern: Durch den Glauben besitzt der Christ einen Schatz; er hat Anteil an „allen Gütern Christi“; dieser Schatz ist ihm geschenkt – nicht gekauft und nicht erarbeitet, ganz frei und ganz aus Gnaden zugeteilt. Reich, ohne etwas dafür zu zahlen – das ist wirklich eine gute Nachricht, ein Evangelium!
Luther hatte seine Einsichten aus dem Studium der Bibel gewonnen. Dort sagt Jesus zu Beginn des Markus-Evangeliums: „Die Zeit ist gekommen, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt diese gute Botschaft“, das Evangelium (Mk 1,15). Das Evangelium ist die gute Nachricht vom Reich Gottes, es ist das Reich von Jesus Christus, manchmal wird es auch „Himmelreich“ genannt.
Im 13. Kapitel des Matthäus-Evangeliums erläutert Jesus in einer ganzen Reihe von Gleichnissen die Bedeutung dieses Reiches. In Vers 44 vergleicht er es mit einem Schatz: „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war und von einem Mann entdeckt wurde. Der Mann freute sich so sehr, dass er, nachdem er den Schatz wieder vergraben hatte, alles verkaufte, was er besaß, und dafür den Acker kaufte.“
Ablässe, Nachlass von Sündenstrafen, interessieren uns heute in evangelischen Ländern nicht mehr. Wir suchen lieber nach Preisnachlässen in den Geschäften. Aber die Frage nach dem wahren Schatz, dem größten Schatz, will nicht verschwinden. Betrachten wir das Gleichnis vom Schatz im Acker näher. Der eine Vers bei Matthäus zeigt uns, was es bedeutet, einen Schatz zu besitzen, und was es bedeutet, evangelischer Christ zu sein. Ich erläutere ihn in vier Punkten: Herrschaft, Schatz, Kosten und Freude.
Herrschaft
Im 13. Kapitel stellte Matthäus gleich sieben Gleichnisse zum Himmelreich zusammen. Allein dies zeigt schon, wie wichtig das „Reich“ ist. Uns ist heute auch dieser Begriff eher fremd geworden – schließlich leben wir nicht mehr im Deutschen Reich, sondern in einer Republik. Im Neuen Testament ist dagegen viel vom Reich, dem Reich Gottes, die Rede. So beten wir ja auch im Vaterunser „dein Reich komme“.
Reich meint allgemein einen Bereich der Regierung oder Herrschaft. Die Bürger eines Landes gehören zu einem Herrschaftsbereich. Innerhalb dieses Bereichs steht man unter dem Schutz der Herrschenden. Andererseits hat man sich auch an bestimmte Verpflichtungen wie an die Gesetze des Landes zu halten. Gesetze und andere Vorschriften werden von oben festgelegt – auch wenn die Bürger in Demokratien an diesem Prozeß indirekt beteiligt sind.
Das Reich Gottes ist anders als die irdischen Reiche und Republiken. Es ist nicht von dieser Welt (Joh 18,36), d.h. sein Herrscher stammt nicht von der Erde, ist kein Mensch wie alle anderen. Gegenüber Pilatus bekennt sich Jesus als der König der Juden (Mt 27,11), aber sein Herrschaftsbereich ist viel größer: Er ist der „König über alle Könige“ (Off 19,16); nach der Auferstehung sagt er: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde gegeben“ (Mt 28,18). Und im Glaubensbekenntnis sagen wir sonntäglich: „er sitzt zur Rechten Gottes, des Vaters…“, und das heißt: er sitzt auf dem Herrscherthron.
Christen sind Bürger eines Staates auf Erden, aber auch hier und jetzt schon „Bürger des Himmels“, des Himmelreichs, so Paulus (Phil 3,20). An anderer Stelle schreibt der Apostel: „er hat uns [Christen] aus der Gewalt der Finsternis befreit und in das Reich versetzt, in dem sein geliebter Sohn regiert“ (Kol 1,13). Christen sind also unter Herrschaft gestellt. Sie anerkennen die Herrschaft Jesu, der nun über seine Kirche herrscht und einst sichtbar über alle regieren wird. Christen dienen ihm und sind ihm gehorsam, weil sie ihm gerne untertan sind.
Martin Luther erklärt den Abschnitt aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis „Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn…“ so: „Ich glaube, dass Jesus Christus“ – wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch – „sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels…, damit ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene…“ Der Christ gehört nicht sich selbst, sondern seinem Erlöser. Von jemandem beherrscht werden oder gar zu seinem Besitz gehören, klingt in unseren Ohren negativ – schließlich schränkt dies unsere Freiheit ein. Aber genau diese Abhängigkeit ist gut für uns, ja sogar der einzige Trost.
Schatz
„Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz…“ Ein Schatz wie im Gleichnis bestand damals wohl aus Gold- oder Silbermünzen. Diese sind äußerst beständig, haben einen hohen Wert haben und verlieren diesen auch so gut wie nicht. Bis heute ist Gold eine sehr sichere Vermögensanlage.
Aber an anderer Stelle bei Matthäus sagt Jesus selbst, dass solche Reichtümer doch nicht wirklich sicher sind. Gold rostet zwar nicht, kann aber geraubt werden. Er fordert daher auf, „Reichtümer im Himmel“ zu erwerben (Mt 6,19–20). Im Gespräch mit dem reichen Jüngling redet Jesus ebenfalls von einem „Schatz im Himmel“ (Mt 19,21).
Auch Paulus spricht im Zweiten Brief an die Korinther von einem „kostbaren Schatz, der uns an vertraut ist“. Ein paar Verse weiter schreibt er, dass wir im Glauben „am Leben von Jesus Anteil“ haben (2 Kor 4,7 und 11). Der Schatz ist nämlich im Grunde Jesus Christus selbst! In ihm „sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (Kol 2,3). Luthers These können wir daher ergänzen: „Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ in Jesus Christus. (Die dispensationalistische Bibelauslegung wie vor allem in der Brüdergemeinden deutet den Finder im Gleichnis als Jesus und den Schatz als Israel oder die Gemeinde, was mir jedoch nicht einleuchtet.)
Das Evangelium verkündigen heißt die Botschaft vom Reich Gottes predigen heißt Jesus Christus verkündigen (s. 1 Kor 1,23). Denn das Evangelium schenkt dem Glaubenden Christus als Gabe. Luther im Jahr 1522: „Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus, ehe du ihn zum Vorbild nimmst, zuvor entgegennimmst und erkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen ist.“
Was bedeutet es, die Gabe des Schatzes Jesus Christus zu bekommen? Ein Christ wird nicht zu Gott, und es ist auch nicht ein Teil von ihm, der sich in Gott oder Christus verwandelt. Der Christ hat Anteil am Leben von Jesus (s.o. 2 Kor), „teil an allen Gütern Christi“ (s.o. Luther). Wir werden Christen genannt, weil wir durch den Glauben Anteil an Christus haben und mit ihm verbunden sind.
Ein Christ hat Anteil an Jesu Gerechtigkeit und Heiligkeit, Weisheit und Kraft. Paulus schreibt in Epheser 3,16: Er, „der unerschöpflich reich ist an Macht und Herrlichkeit gebe euch durch seinen Geist innere Kraft und Stärke“. Ein Christ hat Anteil an den „Schätzen der Weisheit und Erkenntnis“ in Jesus (s.o.). Ein Christ ist nicht unbedingt schlauer als andere, lebt nicht unbedingt heiliger und ist nicht unbedingt innerlich stärker; wir sind, so Paulus, „wie zerbrechliche Gefäße“, in denen aber „die alles überragende Kraft“ Gottes wirksam ist (2 Kor 4,7).
Der Heidelberger Katechismus weist in Frage 57 auf noch etwas anderes hin: „Nach diesem Leben werde ich durch die Kraft Christi auferweckt werden und zu Christus, meinem Herrn, kommen. Er wird mir Anteil geben an seiner Herrlichkeit“. Wir werden nicht Gott werden, aber bei Gott sein, mit ihm sein und mit ihm in seiner Herrlichkeit wohnen (s. Off 21). In Vers 43 des 13. Kapites: „Dann werden die Gerechten im Reich ihres Vaters leuchten wie die Sonne.“ Das ist die große Vision des christlichen Glauben, der Reichtum des Evangeliums, der große Schatz!
Ein Christ hat schon jetzt ein Bürgerrecht im Himmel, und er besitzt Aktienanteile am Schatz Jesu – göttliche, himmlische Aktienanteile. Alle menschlichen Reichtümer, Vermögen und Geldanlagen sind „unbeständig“ (1 Tim 6,17). Diese Anteile sind jedoch ein unzerstörbares Guthaben, das kein Börsencrash zunichte machen kann. Es wird nicht durch die Bundesregierung, die EZB oder wem auch immer gesichert und garantiert, sondern durch Gott selbst.
Kosten
Kommen wir zu wirtschaftlichen Seite dieses Gleichnisses. Der Mann in Vers 44 kauft nur den Acker und mit ihm den Schatz, aber der Kaufmann im nächsten Gleichnis erwirbt die Perle selbst. Kann man sich also das Himmelreich kaufen? Sicher geht dies nicht, denn tatsächlich ist der überaus große Schatz von so großem Wert, dass ihn tatsächlich kein Mensch kaufen könnte. Er ist durch nichts zu bezahlen, mit keinem Geld der Welt zu kaufen. Viele Bibelstellen wie z.B. Paulus im Epheserbrief bekräftigen ja, dass die Rettung aus Gnaden „Gottes Geschenk ist“ (Eph 2,8).
Was sagt uns dann das Verkaufen und Kaufen in beiden Versen? Drei Dinge sind hier zu nennen. Da ist erstens die geringe Bedeutung unseres Besitzes – im Vergleich zum Schatz des Himmelreichs. In beiden Versen wird betont, dass die Männer alles verkaufen, was sie besaßen. Der Bauer (so können wir es uns vorstellen) macht wie der Kaufmann aus Vers 45 ein phantastisch gutes Geschäft. Denn der Schatz und die kostbare Perle sind sehr viel mehr wert als der gesamte verkaufte eigene Besitz.
Worin besteht dieser große Mehrwert des Schatzes im Himmel? Aller irdischer Besitz ist nicht ewig, vielmehr vergänglich – oftmals sogar sehr flüchtig. In den Sprüchen des Alten Testaments heißt es bildreich: „Kaum dass dein Blick darüber gleitet, ist der Reichtum schon wieder weg. Denn ganz bestimmt bekommt er Flügel und fliegt davon…“ (23,5) Und Paulus schreibt: „Haben wir etwas mitgebracht, als wir in diese Welt kamen? Nicht das Geringste! Und wir werden auch nichts mitnehmen können, wenn wir sie wieder verlassen“ (1 Tim 6,7). Der Apostel an anderer Stelle: Die Erkenntnis Jesu, also das Besitzen des Schatzes, ist „etwas unüberbietbar Großes“, im Vergleich dazu ist alles andere sogar „Müll“ (Phil 3,8). Denn die Erlösung, die Jesus erwirkt hat, „gilt für immer und ewig“, so der Hebräerbrief (9,12).
Zig Mal ist im Neuen Testament vom ewigen Leben die Rede. Wir können uns jedoch die Dimension der Ewigkeit kaum vorstellen. Daher bleiben wir nur zu oft am sichtbaren Besitz hängen. Und daher warnt das Neue Testamente an mehreren Stellen eindringlich „vor den Verlockungen des Reichtums“ (Mt 13,22) und davor, sein Herz an Reichtümer zu hängen (Mt 6,21).
Zweitens ist es entscheidend wichtig, den Schatz zu erwerben. Es reicht nicht auf den Schatz zu stoßen und ihn zu finden. Man muss sich diesen Schatz auch aneignen. Ein Schatz, den man nicht besitzt, bringt keinen Nutzen. Nun kann der himmlische Schatz nicht mit Geld, Gütern oder Leistungen erworben werden. Das einzige Mittel ist nach der Bibel der Glaube. Martin Luther: „Glaubst du, so hast du [den Schatz]; glaubst du nicht, so hast du nicht“. Und der Heidelberger Katechismus: „Alle Glaubenden haben als Glieder Gemeinschaft an dem Herrn Christus und an allen seinen Schätzen und Gaben“ (55).
In beiden Gleichnisse verkaufen die Männer alles, um an die wertvollen Güter zu kommen. Wer seinen kompletten Besitz veräußert, der verändert wirklich radikal sein Leben. Das deutet darauf hin, dass der himmlische Schatz unser Leben selbst kostet. Ein glaubender Mensch gibt nicht nur etwas Gott hin, sondern vertraut sich ihm mit seinem ganzen Leben an. Jesus selbst hat kein Blatt vor den Mund genommen: „Wenn jemand mein Jünger [also Christ] sein will, muss er sich selbst verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“ (Mt 16,25).
Christsein ist keine halbe Sache. Es kostet den Menschen die Autonomie, die Unabhängigkeit von Gott. Ein Christ gehört sich nicht mehr selbst, sondern Jesus Christus. Er ist nicht nur eng mit ihm verbunden, sondern sein Eigentum.
Freude
„Der Mann freute sich so sehr…“ Im Zentrum des kurzen Gleichnisses steht die Freude über den Schatz. Sie ist der Motor der ganzen Handlung. Die Nachricht von der Errettung der Menschen, die Botschaft vom Reich Gottes, ist Evangelium – gute und frohe Nachricht (Lk 2,10). Gott selbst ist der Schatz, und daher freut sich der Gläubige über Gott, den Retter (Hab 3,18); diese Freude an ihm ist seine Stärke (Neh 8,10). Auch Gott freut sich, wenn er gefunden wird – über die Errettung jedes verlorenen Menschen (Lk 15,6–7.9–10.32). In drei Punkten können wir diese Freude näher kennzeichnen.
Das sanfte Joch. Der Schatz macht große Freude, aber diese steht nicht allein. Es gibt eben auch die Kostenseite, das Aufnehmen des Kreuzes. In Matthäus 11,28–29 verbindet Jesus beide Aspekte: „Kommt her alle zu mir, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig… Denn das Joch, das ich auferlege, drückt nicht, und die Last, die ich zu tragen gebe, ist leicht“.
Das Evangelium ist ein Abnehmen von Last – die frohe Nachricht. Doch das große Paradoxon ist, dass die erdrückende Last nur beseitigt wird, indem man ein Joch auf sich nimmt, und ein Joch hat von Natur her ebenfalls ein Gewicht. Jesus bezeichnet seine Last aber als leicht, denn die Selbstaufgabe bringt Freude. Diese Last kann nur leicht sein, weil sie von Freude angetrieben wird und Freude zur Folge hat. Das Verkaufen des ganzen Besitzes wird für den Mann des Gleichnisses nicht leicht gewesen sein, aber die übergroße Freude trieb ihn an.
Das Joch der Jüngerschaft ist keine schwere Last. Der Gehorsam des Christen ist freudige Antwort auf die Erlösung. Im Heidelberger Katechismus trägt deshalb der gesamte dritte Teil über das christliche Leben – nach dem zweiten Teil über die Errettung – die Hauptüberschrift „Dankbarkeit“. Man könnte auch ergänzen „Freude“ im Sinne von „aus dankbarer Freude“. Natürlich ist dort auch davon die Rede, dass „herzliches Bedauern über die Sünde“ (89) das Christsein kennzeichnet. Gleich anschließend wird aber die „herzliche Freude in Gott durch Christus“ betont; der Christ hat „Lust und Liebe nach dem Willen Gottes“ (90) und strebt danach, seine Gaben „willig und mit Freuden zum Wohl und Heil der anderen“ (55) einzusetzen.
Gegenwart und Zukunft. An einigen Stellen des Neuen Testaments ist von „vollkommener Freude“ die Rede (z.B. Joh 15,11). Damit ist aber nicht gemeint, dass Christen schon in der Gegenwart völlig ungetrübte Freude erfahren können. Not und Leiden, Schweres und Verfolgungen gehören zum Christein auf Erden (Mt 10,16–39; Apg 14,22; Röm 12,12; 2 Kor 4,9.17; 6,4–5; 1 Thess 3,3; 2 Tim 3,12). Der Heidelberger Katechismus schreibt, dass erst der in Zukunft wiederkommende Jesus „die Auserwählten zu sich in die himmlische Freude und Herrlichkeit nehmen“ wird (55). Diese Freude wird in jeder Hinsicht vollkommen sein, hier erfahren wir schon den „Anfang der ewigen Freude“ (58).
Gott und Mensch. „Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen.“ So lautet die Antwort auf die erste Frage im Kurzen Westminster-Katechismus von 1647. Der Schatz ist Gott selbst, er ist Grund und Quelle der Freude des Menschen. Das Ziel ist ganz erreicht, wenn die Gläubigen dereinst bei der allgemeinen Totenauferstehung „vollkommen gesegnet [werden] durch die vollkommene Freude Gottes in alle Ewigkeit“ (38).
Der Mensch wurde geschaffen, um Gott zu verherrlichen. Gott schuf sich aber kein menschliches Hilfspersonal, das seine Bedürfnisse zu erfüllen hätten. Der Gott der Bibel hat schon alle Fülle und Vollkommenheit in sich. Geschöpfe können ihm nicht geben, was er nicht schon hätte. Die Falschheit der vom Tausch- oder Handelsprinzip durchdrungenen Ablasslehre hat hier ihren letzten Grund.
Der Mensch ist auf Gott ausgerichtet und findet daher in ihm seine Erfüllung und Freude. Gott allein steht im Mittelpunkt, und er bleibt es auch in Ewigkeit, denn der Mensch wird nicht zu Gott. Aber neben diesem Gott löst sich der Mensch nicht einfach auf: Der Schatz vernichtet nicht, begräbt den Christen nicht unter sich – im Gegenteil, in der Verherrlichung Gottes wird das wahre Menschsein wiederhergestellt.
Die Gebote Gottes sind keine willkürlichen Regeln, sondern spiegeln den Charakter von Gott selbst wieder. Gehorsam gegenüber diesen Geboten ist daher von der Verherrlichung Gottes, der klaren Ausrichtung auf ihn, nicht zu trennen. Deshalb spricht auch der Westminster-Katechismus in den Fragen zwei und drei gleich von den Pflichten, die Gott vom Menschen fordert. In den Psalmen heißt es mehrfach, dass der Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes Freude macht (z.B. Ps 119,14: „Es erfüllt mich mit Freude, den Weg zu gehen, den du [Gott] als richtig bezeugst; darüber bin ich glücklicher als über alles, was man besitzen kann“). Und im Neuen Testament ist Freude selbst geboten (Phil 4,4).
Die Reformation begann, weil sich die Menschen über den Kauf von Ablassbriefen von Herzen freuten. Dies war eine falsche Freude – zwar mit Geld erkauft, aber doch billig. Luther sah mit Schrecken, dass damals die ethische Seite – echte Buße und Gehorsam – ignoriert wurden. Die Moral führt nicht zu Gott. Aber wer den Schatz und Anteil „an allen Gütern Christi“ hat, der wird aus dieser Freude heraus auch den Armen helfen (Thesen 43 u. 45).
In den 95 Thesen kommt der Begriff nicht vor – noch nicht. Aber mit dem Hinweis auf den wahren Schatz der Kirche war der Same schon gesät. Luther selbst schrieb im Sommer 1523 sein erstes Kirchenlied (sein allererstes Werk „Ein neues Lied wir heben an“ über die evangelischen Märtyrer in Antwerpen, kurz davor verfasst, ist eher eine Ballade). Es ist bis heute Hauptlied am Reformationstag (EG 341) – und es rückt die Freude in den Mittelpunkt: „Nun freut euch, lieben Christen g’mein, / und lasst uns fröhlich springen, / dass wir getrost und all in ein / mit Lust und Liebe singen, / was Gott an uns gewendet hat / und seine süße Wundertat; / gar teu’r hat er’s erworben.“