Schmecken und Sehen
Jesus ist das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15); wer ihn sieht, sieht den Vater (Joh 14,9). Doch trotz aller populären Darstellungen von Jesus haben wir überhaupt keine Ahnung, wie der Retter der Welt wirklich aussah. Er sitzt nun zur Rechten des Vaters, aber auch dort sehen wir Ihn nicht. „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“, so Paulus, denn der Glaube ist „auf das Unsichtbare“ gerichtet (2 Kor 5,7; 4,18). Jesus selbst sagte: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29). Die Jünger „sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14). Aber erst in der Ewigkeit bei Gott werden wir Ihn „von Angesicht zu Angesicht“ sehen (1 Kor 13,12).
Paulus ging zu den Nichtjuden, „um ihnen die Augen aufzutun, dass sie sich bekehren“ (Apg 26,18). Damit ist aber nicht gemeint, dass Jesus den Heiden in einer Vision körperlich sichtbar wurde. Das Öffnen der Augen ist ein Vergleich: So wie beim Aufmachen der Augen plötzlich alles hell und sichtbar wird, erkennt ein Mensch im Glauben des Herzens, dass Jesus für ihn starb. Die Augen öffnen und das Herz auftun (Apg 16,14) meint daher das gleiche. Paulus Speratus in einem der ersten evangelischen Kirchenlieder: „Der Glaub sieht Jesus Christus an, / der hat für uns genug getan, / er ist der Mittler worden.“ (EG 342) Auf dieser Erde Jesus sehen bedeutet Ihn und „seine Wohltaten erkennen“ (Melanchton) – von Herzen glauben, was Er für uns getan hat.
Die Augen und allgemein alle körperlichen Sinne bleiben dennoch wichtig. Schließlich hat Gott uns mit einem Körper geschaffen. Wir können Ihn nicht sehen und sollen uns auch keine sichtbaren Abbilder Gottes machen. Aber Er hat uns für die Wartezeit bis zum Himmel visuelle Hilfsmittel gegeben: vor allem die Sakramente. Das Taufwasser ist sichtbar und spürbar, und im Abendmahl werden wir vergewissert: Jesu Leib ist „so gewiss für mich am Kreuz geopfert… wie ich mit Augen sehe, dass das Brot des Herrn mir gebrochen und der Kelch mir gegeben wird“ (Heidelberger Katechismus, 75). Die Sakramente sind „sichtbare Sinnbilder innerlicher und unsichtbarer Dinge“, so das Niederländische Bekenntnis (33). In der Predigt hören wir das Evangelium, hier sehen wir es; wir spüren mit allen Sinnen: Wir sind Empfangende.
Beim Abendmahl sehen wir Jesus nicht, denn Er ist mit seinem Leib im Himmel. Durch den Heiligen Geist findet aber echte Gottesbegegnung statt. Nur kommt nicht der Leib Christi aus dem Himmel herab; im Glauben und durch den Geist steigt der Gläubige gleichsam zu Jesus hinauf. Bei der Mahlfeier essen wir nicht den wahrhaftigen Leib Christi, aber schmecken und sehen, „wie freundlich der Herr ist“ (Ps 34,8). Die Gotteserfahrung ist echt, aber nicht unmittelbar, sondern vermittelt.
Paulus fordert für die Mahlfeier eine sichtbare Versammlung der Christen, denn das Abendmahl ist wesentlich gemeinschaftliches Mahl. Dass sich unsere Körper am Tisch des Herrn (Altar) sichtbar begegnen, veranschaulicht, dass wir alle zum Leib Christ gehören. „Weil wir alle von diesem einem Brot essen, sind wir alle… ein Leib“ (1 Kor 10,17). Dass ich dem Mitchristen in die Augen sehe und mit ihm esse, zeigt, dass Gläubige zu einem sichtbaren Leib vereinigt sind.
In der Corona-Pandemie ist die digitale Verkündigung des Evangeliums in den Kirchen wichtig geworden. Allerdings ist das Sehen vor dem Bildschirm ein anderes als das im Gottesdienst in der Gemeinde, und zu fühlen und zu schmecken gibt es dort auch kaum etwas. Das Körperliche kommt schnell zu kurz, denn man ist sich eben nicht in größerer Zahl physisch nahe. Viele Kirchen haben während der Pandemie ein sog. virtuelles Abendmahl abgelehnt. Denn in der kleinen Gruppe im Wohnzimmer empfängt man nichts aus der Hand von Pastoren oder Ältesten, von Beauftragten der Kirche, die mit etwas geben; und von einem „wir alle“ kann keine Rede sein.
Neue Sakramente
Wo sehen wir Jesus? Ein traditioneller Weg ist der Glaube, dass man in bestimmten Abbildern tatsächlich Jesus von Nazareth erkennen könne. Ein sog. Acheiropoíeton (gr. „nicht mit Händen gemacht“) ist ein Kultbild oder eine Ikone, die angeblich nicht von Menschen geschaffen sei, sondern von Gott geschenkt wurde. Eine andere Bezeichnung ist Vera ikon (von lat. vera, „wahr“ und gr. eikon, „Bild“). Dazu gehören das Schweißtuch der Veronika, das Abgar-Bild oder Mandylion von Edessa und auch das Turiner Grabtuch. Manche dieser Bilder wurden wiederum Vorbilder für zahlreiche von Menschen gemalte Ikonen.
An dieser Stelle kann auf die Theologie hinter diesen Vorstellungen nicht weiter eingegangen werden. Nicht zuletzt die Verehrung solcher Bilder und das Zuschreiben von wundersamen Kräften verstärkt die Skepsis der Protestanten. Sie glauben auch nicht, dass in und durch Ikonen, die die Anbetung unterstützen sollen, Jesus als Gottmensch gegenwärtig gemacht werden könne und solcher Bilder gleichsam beseelt seien.
Andere sind überzeugt, dass wir Jesus heute in besonderer Weise in den Armen der Welt begegnen – ursprünglicher und direkter als in den heimischen Gottesdiensten. Dieser Ansatz beruht jedoch auf einer verzerrenden Auslegung von Matthäus 25,34f („was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“). Trotz seiner Popularität führt dieser Weg ebenfalls nicht weiter. Hier sollte man hellhörig werden, wenn die gottesdienstlichen Rituale zwar nicht geleugnet, aber deutlich abgewertet werden. (Ausführlicher s. hier und „Jesus und die Armen“, Teil I und II)
Das Problem beider Ansätze ist, dass der Sakramentsbegriff zu weit ausgedehnt wird. Ikonen, Bilder Jesu, werden gleichsam als Sakramente betrachtet, die Gottesbegegnung vermitteln und den Glauben stärken sollen. Dabei will Er selbst uns gerade nicht durch Bilder begegnen. Besonders die Reformierten nehmen die Warnung des zweiten Gebots in Exodus 20,5 sehr ernst. Das Bilderverbot spricht schließlich von Feindschaft mit Gott, ja Hass auf Gott.
Die behauptete Jesusbegegnung in den Armen enthält ein wichtiges Wahrheitselement: Der Mensch, jeder Mensch, ist Ebenbild Gottes (Gen 1,26–27), und insofern können wir tatsächlich etwas von Gott in den Mitmenschen erkennen. Aber eine sakramentale Qualität hat die persönliche Bekämpfung extremer Armut dennoch nicht. Der Ort der echten Sakramente ist die Gemeinde, denn nur mit dieser identifiziert sich Jesus in besonderer Weise.
Ikonen sind keine heiligen Bilder, und auch die Armutsbekämpfung darf nicht geistlich überhöht und quasi heiliggesprochen werden. Sakrament sind, so Johannes Calvin, „sichtbare Zeichen einer heiligen Sache“, „die sichtbare Gestalt der unsichtbaren Gnade“. Sie sind heilige Zeichen, weil sie auf Heiliges hinweisen. Calvin knüpft an Augustinus an, der das Sakrament als „sichtbares Wort“ bezeichnete, „weil es uns ja Gottes Verheißungen wie auf einem Bilde dargestellt vergegenwärtigt und sie uns in gemaltem und bildhaftem Ausdruck vor Augen stellt“ (Inst. IV,14,1.6). Gott arbeitet hier bildhaft, graphisch (lat. grafice), und für Bild gebraucht Calvin an diese Stelle im lateinischen Text das griechische eikonikos, von dem sich unser „Ikone“ ableitet. Die Sakramente sind unsere wahren Ikonen.
Und es ist gerade die Tischgemeinschaft des Abendmahls, die Versammlung der Heiligen zur Mahlfeier, bei der Gläubige den Leib Christi sehen und erfahren. Was Menschen an Christus Anteil haben lässt, ist das Erkennen seiner Wohltaten (s.o.) und das Empfangen seiner Gaben. Am Tisch des Herrn sind wir wirklich Empfangende. Bei der sakramental überhöhten Armutsbekämpfung geht es wesentlich auch um die guten Taten des Menschen.
Heute ist die kirchliche Gottesbegegnung weitgehend subjektiviert (was auch den Umstieg auf Fernsehgottesdienste nur erleichtert); die Gotteserfahrungen im Gottesdienst sind von aller Sakramentalität fast ganz gelöst. Zurecht haben die Protestanten das Hören des Wortes in den Mittelpunkt gestellt, denn der Glaube kommt aus dem Hören (Röm 10,17). Das Sehen darf daneben aber nicht vernachlässigt werden, denn sonst sucht es sich die falschen visuellen Anreize und Objekte. Gott hat in seinem Wort den Willen ausgedrückt, dass wir auch etwas sehen, spüren und schmecken sollen. Diese heiligen Zeichen sind die beiden Sakramente, und nur sie.