Homo peccator
[Der dritte Vortrag über Gott, Mensch und Technologie, Teil 1 s. hier, Teil 2 hier]
Homo incurvatus
Adam und Eva waren von Gott gut geschaffen worden; ihnen fehlte nichts zu einem guten und erfüllten Leben auf der Erde. Dennoch rebellierten sie gegen Gott – Genesis 3 berichtet uns vom Sündenfall der ersten Menschen.
Der Begriff „Fall“ ist in der Erzählung selbst nicht zu finden, aber beschreibt angemessen die neue Situation der Menschheit: Die Menschen, „wenig niedriger als Gott“ (Ps 8,6) geschaffen, fielen von einer Ebene der direkten Nähe zu Gott. Sie wurden aus Gottes unmittelbarer Gegenwart verbannt (Gen 3,23). Die innige und harmonische Beziehung zu Gott, untereinander und zum Rest der geschaffenen Welt wurde zerstört. Das Bild Gottes im Menschen wurde nicht vollständig ausgelöscht, d.h. die Menschen wurden nicht zu Tieren, Dämonen oder Steinen. Aber das ehemals perfekte Bild ist jetzt verfälscht, beschädigt und verzerrt. Seitdem ist der Mensch „homo peccator“ – der sündige Mensch (von lat. peccare – verkehrt handeln, sündigen).
Die Menschen haben so die wahre Heiligkeit und Gerechtigkeit verloren. Sündhaftigkeit wirkte sich dabei auf den Menschen in seiner Ganzheit aus, auf Geist und Körper, auf Willen und Emotionen, auf das Denken und Begehren. Die tiefe Gefallenheit der Menschheit wird an vielen Bibelstellen bekräftigt (s. z.B. Röm 1–2).
Die Bibel zeigt uns ein klares und sehr realistisches Bild von Sünde – viel klarer als die vagen Beschreibungen von Zerbrochenheit und Entfremdung der heutigen säkularen Kultur. Die Heilige Schrift hat keine Bedenken hinsichtlich strenger Urteile: Sünde ist Gesetzlosigkeit (1 Joh 3,4): Sie beeinflusst jeden Aspekt unserer moralischen Entscheidungen. Sünde ist irrational (Röm 1,19f): Jeder kennt Gott, aber dieses Wissen wird unterdrückt und geleugnet. Sünde ist Götzendienst: Menschen verehren Götzen, erschaffene Dinge anstelle des Schöpfers (Röm 1,25). Sünde ist Unglaube (Joh 16,9): Der gefallene Mensch setzt sein Vertrauen nicht auf Gott, sondern auf sich selbst. Sünde ist daher meistens Selbstsucht.
Selbstsucht ist immer Sünde. Allerdings ist nicht jede Selbstliebe böse, denn Sorge um die eigenen Bedürfnisse im Sinne des gesunden Eigeninteresses ist keineswegs als solche abzulehnen. Moralisch verwerflich ist eine Liebe, die sich nur um sich selbst dreht. Augustinus – wie später dann Martin Luther – prägten den lateinischen Ausdruck incurvatus in se (ipsum) als metaphorische Beschreibung der menschlichen Sünde: „in sich selbst verkrümmt sein“, d.h. sich ganz um die eigenen Wünschen und Begierden drehen. In Augustinus Gottesstaat ist diese fehlgeleitete Liebe das herausragende Merkmal der irdischen Stadt (Kap. XIV, 28).
Das schwerwiegendste Ergebnis des Sündenfalls war, wie schon erwähnt, die Zerstörung der innigen Beziehung zwischen Gott und dem einzigen nach seinem Bild geschaffenen Wesen, dem Menschen. Vor dem Fall ging Gott im Garten umher; zwischen ihm und Adam und Eva gab es keine Distanz. Später versteckten sie sich vor seinem Angesicht und seiner Stimme (Gen 3,8). Wegen der Sünde wurde Gott für die Menschen unsichtbar. Er, das reine und heilige Licht, ist für sündige Menschen nicht mehr zugänglich (Ex 33,20). Doch Gott hat seine Schöpfung nicht aufgegeben und ist immer noch in der Welt aktiv, indem er sie aufrechterhält, regiert und schützt. Einerseits ist er nicht weit weg (s. Ps 139 oder Apg 17,27); auf der anderen Seite gibt es einen Abgrund, eine moralische Distanz, zwischen Ihm und uns aufgrund der Sünde.
Augustinus hatte das grundlegende Defizit der Menschen nach dem Fall genau erfasst. Im ersten Absatz seiner Bekenntnisse schreibt der Kirchenvater, dass wir zu Lob und Verherrlichung Gottes geschaffen wurden und daher nur in Gott selbst Erfüllung finden können: „Du hast uns auf dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
Diese Leere wird nur dann verschwinden, wenn sie von der Liebe Gottes erfüllt wird. Leider sind Menschen aber nicht nur Suchende, sondern auch Rebellen, die aktiv und mehr oder weniger bewusst ihre Erkenntnis von Gott und Wahrheit unterdrücken (Röm 1,18). Sie verlangen törichterweise nach allen möglichen Dingen, die diese spirituelle Lücke füllen könnten. Menschen sind getrieben, unstet dort nach Befriedigung zu suchen, wo sie sie nicht finden können. Es ist die einzige Erklärung, warum Wohlstand, Sexualität und Macht, die ein enormes Potenzial haben, um Güte in das menschliche Leben zu bringen, oft von Gier, Lust und Stolz missbraucht und verfälscht werden.
Homo civilis
Nach dem Essen der verbotenen Frucht erkannten Adam und Eva ihre Nacktheit. Darauf „flochten [sie] Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (Gen 3,7). Ohne auf die Bedeutung dieser Handlung und der Scham genauer einzugehen können wir hier festhalten, dass dies interessanterweise die erste in der Bibel berichtete Handlung einer künstlichen Bearbeitung ist. Mit der Sünde taucht auf einmal die Technologie auf. Stehen Werkzeuge daher nach dem Fall im Dienst der Sünde?
Ein paar Verse weiter lesen wir aber: „Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weib Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.“ (Gen 3,21) Gott selbst betätigte sich als Handwerker oder Technologe. Auch nach dem Fall soll der Mensch weiterhin die Schöpfung bearbeiten und kultivieren, allerdings ist diese Aufgabe nun deutlich erschwert (s. Gen 3,16–19). Die gute Nachricht ist aber, dass Gott selbst daran teilnimmt und auch diese gefallene Schöpfung weiter für seine Pläne nutzt. Nur können Schurze und Röcke, alle Dinge, die wir sonst herstellen und produzieren, und alle Werkzeuge und Technologien das grundlegende Problem der Menschen nicht lösen. Eine tatsächliche Lösung, ein Sieg über den Satan und die Sünde, wird aber auch in schon in Genesis 3,15 angedeutet.
Noch stärker rückt Technologie in Genesis 4 in den Fokus. Nach dem Brudermord zog Kain in das Land Nod, „und er baute eine Stadt“ (Gen 4,17). Eine Stadt steht für Zivilisation, das geordnete Zusammenleben von Menschen und ein recht hohes Maß an Arbeitsteilung (s. Vortrag 2). In den Versen 20–22 werden daher die technologischen Errungenschaften in Viehzucht, Kunst und Handwerk genannt. Gleich im nächsten Vers, der Lamechs Rachephantasien schildert, wird jedoch wieder deutlich, dass Sünde auch dieses Zivilisationsniveau durchdringt.
Nach der Sintflut werden in Genesis 10 verschiedene Städte erwähnt. In Kapitel 11 über den Turmbau zu Babel heißt es dann von den Menschen im Land Schinar: „lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht“ (Gen 11,4). Nicht nur der Turm, sondern auch die Stadt steht für den Hochmut, ja den Größenwahn der Menschen. Gottes Gericht hatte auch das Ende des Stadtbaus zur Folge (V. 8).
Städte sind in der Bibel nicht selten Orte des Bösen (man denke an Sodom und Gomorra oder Babylon). Auch wenn Jesus über eine Stadt redete, war es so gut wie immer im Kontext des Gerichts. Und dennoch war das Heiligtum Israels nicht in einer Wüstenei oder in einem Eichenhain angesiedelt, sondern mitten in einer Stadt, in Jerusalem. Ausführlich werden in 1 Könige 5–6 der Bau des Tempels und alle vorbereitenden Arbeiten geschildert – ein Großprojekt, bei dem wie schon bei der Herstellung der Stiftshütte durch Bezalel (Ex 35,30–38,20) alles handwerkliche und künstlerische Können der damaligen Zeit gefordert war. Der Tempelbau war außerdem ein Projekt der internationalen Kooperation und Arbeitsteilung (s. 1 Kön 5,22–25).
Das irdische Jerusalem diente als Vorbild oder Vorschattung für den endzeitlichen Heilszustand: das Neue Jerusalem, nicht zufällig ebenfalls eine Stadt (Gal 4,26; Hbr 12,22; Off 3,12; 21,2.10; 22,14). Die heilsgeschichtliche Linie führt also vom Garten Eden zu einer Stadt – nicht zum Garten zurück. Beide verbindet die Tatsache, dass der Baum des Lebens (Gen 2,9) auch in der zukünftigen Stadt stehen wird (Off 22,2). Wir können daher davon ausgehen, dass schon der Garten Eden auf Weiterentwicklung angelegt war. Adam und Eva waren von Anfang an zum Kultivieren und zur Arbeitsteilung und damit auch zur Gründung von Städten und zur Zivilisation berufen.
Sodom als Symbol des moralischen Verfalls und Jerusalem als Bild des Heils – das Beispiel der Stadt zeigt, dass Werkzeuge, Technologien und alle Errungenschaften unserer Zivilisation an sich keinerlei Übel sind, denn sonst würde Gott sie nicht so intensiv nutzen. Aber es gilt genauso, dass unser gesamtes Leben im Schatten der Sünde steht. Alle Schöpfungsbereiche, alle Schöpfungsordnungen wie Familie, Arbeit und Wirtschaft sowie die Obrigkeit und sogar die Kirche sind von Sünde infiziert. In allen Bereichen ringen Gläubige mit ihrer Gefallenheit.
Die Sünde des Menschen ist das Kernproblem in der gefallenen Welt. Der Hammer ist ein gutes Werkzeug, mit dem blutrünstige Menschen aber auch den Schädel ihrer Mitmenschen einschlagen. Der Hammer ist in gewisser Weise ethisch neutral. Doch Werkzeuge und Technologien sind nicht in jeder Hinsicht neutral. Das führt uns zum nächsten Punkt.
Homo loquens et scribens
Gott ist ein kommunizierendes Wesen. Nachdenken kann man auch allein (der ‘einsame’ Gott des Aristoteles), aber Gemeinschaft von Personen erfordert Sprache. Auf eine uns unbekannte Weise kommunizieren auch die drei Personen der Trinität seit Ewigkeit miteinander. Nicht zufällig ist die erste Handlung Gottes in der Bibel, die Schöpfung, mit dem Sprechen verbunden: „Und Gott sprach…“ (Gen 1,3).
Der Mensch als Ebenbild Gottes ist ebenfalls ein auf Kommunikation angelegtes Sprachwesen, ein „homo loquens“ – der sprechende Mensch. Die erste vom Menschen vollzogene Handlung, über die uns die Bibel berichtet, ist die Namensgebung der Tiere (Gen 2,19–20; s. Bild u.). Adam setzte also die Sprache als allererstes Werkzeug ein. Sie ist unser wichtigstes Instrument der Weltgestaltung. Technologie, die sich allgemein mit dem „wie“ unseres Schaffens befasst, ist daher viel mehr als High Tech-Spielzeug. Alle Menschen sind Sprachtechnologen. Neil Postman betont ebenfalls, dass unser wichtigstes Instrument bei unseren Bemühungen, „der Welt Gestalt und Kohärenz zu geben… die Technologie der Sprache selbst“ ist (Das Technopol).
Menschen sind eben auf vielfältige Weise schöpferisch tätig: wir stellen physische Dinge her; wir schaffen Bilder bzw. Abbilder dieser Dinge; wir tun mit diesen Dingen und Bildern etwas, was man kulturelle Rituale und Sitten nennen kann; und schließlich reden wir über all dies mit menschlichen Sprachen. Sprache ist also eine Art Meta-Werkzeug. Ohne sie sind die ersten beiden Dimensionen des Schaffens nur sehr eingeschränkt möglich; Rituale und Kultur können sich ohne Sprache überhaupt nicht bilden. Nicht zuletzt die schon genannte Arbeitsteilung funktioniert nur durch intensive Kommunikation.
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das griechische Wort technologia als systematische Untersuchung einer Kunst das erste Mal in der Rhetorik des Aristoteles als Studium von Grammatik, Rede und Schrift – also von Sprache! – Erwähnung findet. Und es ist sicher kein Zufall, dass Gottes Mittel der Strafe für den Hochmut der Menschen bei Turm- und Stadtbau zu Babel die Sprachverwirrung war (s. Gen 11,7).
Sprache kann gleichsam dauerhaft gemacht werden, indem man ihre Worte aufschreibt. Seit etwa viertausend Jahren schreiben Menschen mit Alphabeten aus Buchstaben – der „homo loquens“ ist allermeist auch der „homo scribens“, der schreibende Mensch. Die Anfänge der Alphabete liegen in Ägypten. Aus dem protosemitischen Alphabet gingen die phönizische, die hebräische und später die griechische Schrift hervor.
Neil Postman beginnt sein Technopol (1991) mit einer sagenhaften Episode aus Platons Dialog Phaidros. Sokrates erzählt Phaidros die Geschichte von Thamus und Theuth. Thamus ist König in einer ägyptischen Stadt. Ihn besucht der Gott Theuth, der viel erfunden hat wie die Zahl und das Rechnen, Geometrie und Astronomie. Thamus fragt nach dem Nutzen einer jeden Kunst bzw. Erfindung.
Als Theuth zu den Buchstaben kommt, sagt er: „Diese Kunst, mein König, wird die Ägypter klüger machen und ihr Gedächtnis verbessern. Denn meine Erfindung ist ein Mittel für Gedächtnis und Wissen [oder Weisheit].“ Thamus entgegnet dem „Vater der Buchstaben“ jedoch, dieser habe „das Gegenteil von dem gesagt, was ihre [der Buchstaben] Wirkung ist“. Thamus fährt fort:
„Denn diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergeßlichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. Also hast du ein Mittel nicht für das Gedächtnis, sondern eines für die Erinnerung gefunden. Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon, nicht wirkliches Wissen. Denn da sie durch deine Erfindung vieles hören ohne mündliche Unterweisung, werden sie sich einbilden, vieles zu verstehen, wo sie doch gewöhnlich nichts verstehen, und der Umgang mit ihnen ist schwierig, da sie überzeugt sind, klug zu sein, es aber nicht sind.“
Natürlich irrte Thamus in gewisser Weise. Die Schrift ist keineswegs nur eine Bürde. Er sah nicht die Vorteile der Schrift, die ja auf der Hand liegen: Sprache wird durch sie fixiert und so dauerhaft und allgemein zugänglich gemacht. Aber der König lag auch nicht völlig falsch. Wer sich auf geschriebene Texte stützen kann, muss nicht mehr alles auswendig lernen und allein im Kopf mit sich herumtragen. Insofern wird durch Buchstaben und Texte tatsächlich nicht das Gedächtnis gefördert, sondern das Erinnern im Sinne der Möglichkeit des Nachlesens.
Schreiben wirkt also, es verändert die Bedeutung von „Erinnerung“ und „Weisheit“. Denn in einer Schriftkultur gilt derjenige, der viel Gedrucktes konsumiert, eher als schlauer oder weiser als der, der wenig liest. Eine Buchkultur führt somit tendenziell zur Überschätzung des Buchwissens, zur Aufwertung des Intellektuellen und zur Abwertung der praktischen, ethischen Lebensweisheit. Thamus hat genau dies treffend formuliert.
Buchstaben sind also keineswegs völlig neutral. Sie haben wie jede Technologie, wie jedes Werkzeug, eine innewohnende Tendenz, die sich in unterschiedlichem Maße Ausdruck verleiht. Postman: „Jede Technik ist beides, eine Bürde und ein Segen.“ Natürlich setzen sich Technologien durch, wenn der Nutzen groß und viele darin einen subjektiven Segen für sich erkennen. Menschen entscheiden über ihre Anwendung, doch die Werkzeuge prägen auch wiederum uns durch die Richtungen, in die sie uns drängen.
Postman nennt einige Beispiele: „Der Telegraph und die Massenpresse haben das, was wir früher unter ‘Bildung’ oder ‘Information’ verstanden haben, verändert. Das Fernsehen hat verändert, was wir früher unter ‘politischer Debatte’, ‘Nachricht’ und ‘öffentlicher Meinung’ verstanden haben. Und der Computer verändert das Wort ‘Information’ noch einmal.“ In Wir amüsieren uns zu Tode (1985), Postmans ersten wichtigen Buch, schreibt er über den Telegraphen: „Er verschaffte der Belanglosigkeit, der Handlungsunfähigkeit und der Zusammenhanglosigkeit Eingang in den Diskurs“ und zwar dadurch, dass „die Telegraphie die Idee der kontextlosen Information Legitimität verlieh“. Information musste nun nur noch „neu, interessant und merkwürdig“ sein.
Technologien führen „ein unnachgiebiges Kommando über unsere wichtigsten Begriffe“, so Postman. Sie prägen deren Definitionen neu. Der „Medienökologe“ weiter: „In jedem Werkzeug steckt eine ideologische Tendenz, eine Neigung, die Welt so und nicht anders zu konstruieren, bestimmte Dinge höher zu bewerten als andere, einer bestimmten Auffassung, einer bestimmten Fertigkeit, einer bestimmten Einstellung mehr Gewicht beizumessen als anderen.“ (Das Technopol)
Ein gutes Beispiel für diese Zusammenhänge sind die Zensuren in der Schule – ein sprachliche bzw. mathematisches Instrument, das erst seit gut zweihundert Jahren in Gebrauch ist. Zensuren machen geradezu zwangsläufig etwas mit unserer Vorstellung von Bildung; konkret prägen sie die Vorstellung von dem, was einen guten oder schlechten Schüler ausmacht. Zensuren als der wichtigste oder gar einzige Gradmesser für Lehr- und Lernqualität lässt Lehrer dazu tendieren, Wissen auf solch eine Weise abzufragen, die sich mit Zahlen leicht erfassen lässt. Wer schnell Wissen abrufen kann, wird klar bevorteilt; langsame, aber vielleicht kaum weniger intelligente Schüler, werden tendenziell benachteiligt.
Der große kanadische Philosoph und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan (1911–1980), in dessen Tradition auch Postman stand, betonte, dass Technologien immer mehrere Wirkungen haben: Sie verstärken Dinge und vergrößern unsere Handlungsmöglichkeiten; so erweitert das Automobil unsere natürliche Fortbewegung. Auf der anderen Seite wird immer auch etwas beseitigt oder unterdrückt. Das Automobil vereinzelt den Menschen; es unterdrückt unsere natürliche Bewegungsart, das Gehen. Das Mobiltelefon erweitert unsere Kontaktmöglichkeiten, macht aber das Alleinsein oder Unerreichbarsein schwerer.
Ein Beispiel macht die Dynamik diese Faktoren deutlich. Zwei Erfindungen, das Automobil und das Mikrophon, haben christliche Gemeinden von vielen Tausend Besuchern möglich gemacht. Entfernung zur Kirche und die begrenzte Reichweite der menschlichen Stimme verschwanden als natürliche Grenzen setzende Faktoren. Ortsgemeinden konnten zu ganz neuen Größen wachsen – die sog. „mega churches“ entstanden (s. u. die Lakewood Church in Houston, Texas). Damit ging jedoch einher, dass man die anderen Gottesdienstbesucher kaum noch kannte. Es ergab sich die Notwendigkeit von Kleingruppen, die es so vorher nur wenig gab.
Gar nicht selbstverständlich ist, dass Gott sich auf diese Prozesse, diese Dynamik, eingelassen hat. Gott benutzte menschliche Wörter und menschliche Schrift, um sich zu offenbaren. Schließlich kann Er nur so mit Geschöpfen kommunizieren, himmlische Sprache würden wir schließlich nicht verstehen. Als die Hebräer in Ägypten waren, war das Land gleichsam das Silicon Valley der damaligen Zeit, Buchstaben eine noch junge Erfindung. Mose und das Volk hatten offensichtlich das protosemitische Alphabet gelernt, denn nach dem Auszug, beim Bundesschluss am Sinai, sagte Gott zu Mose: „Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst, dass ich dir gebe die steinernen Tafeln, Gesetz und Gebot, die ich geschrieben habe…“ (Gen 24,12). Das Gesetz wurde aufgeschrieben, geschrieben „von dem Finger Gottes“ (Gen 31,18). Man bedenke: Gott selbst nutzte ein gerade erst von Menschen erdachtes Werkzeug!
Homo technologicus
All das bisher Gesagte zeigt, dass die Sünde gar nicht so leicht zu verorten oder Dingfest zu machen ist. Technologien sind an sich nicht Sünde. Das Schwert ist eine Folge des Sündenfalls; in einer sündlosen Welt hätte Adam nur die Pflugschar erfunden, nicht das Schwert. Das Schwert kann zum Rauben und Morden benutzt werden. Aber auch die Engel Gottes führen Schwerter, und das Schwert ist ein wichtiges Bild des nötigen und guten göttlichen Gerichts. Eine simple Verdammung des Schwertes verbietet sich also.
Was wir daher tun können und müssen ist Folgendes: Die schon genannten Tendenzen in Technologien verstärken natürlich auch sündige Veranlagungen und Triebe. Diese müssen wir bewusst wahrnehmen, um vor ihnen gewappnet zu sein und ihnen, wenn nötig, zu widerstreben.
Ein aktuelles Beispiel sind Kommentare auf Internetseiten und in sozialen Medien. Sie erweitern die Möglichkeit der verbalen Reaktion, verbessern also die Kommunikations-möglichkeiten; andererseits sind sie sehr leicht abzugeben und zudem meist unpersönlich – auch in dem Sinne, dass man niemandem etwas direkt ins Gesicht sagt. Dies senkt die Schwelle für Pöbeleien und üble Nachrede, Lüge und Verleumdung, gewaltig.
Abschließend seien drei große Tendenzen erläutert, die von konkreten Technologien unserer Zeit verstärkt werden und uns Sorgen bereiten sollten, weil sie Sünde erleichtern können.
Erstens ist die Erweiterung der Machtfülle durch moderne Biotechnologien zu nennen. Alle Werkzeuge geben uns Macht in die Hand. Macht im Sinne der Gestaltung, Bearbeitung und Kultivierung der Erde ist nichts Böses. Allerdings verführen uns einige der heutigen Biotechnologien dazu, die großen neuen Möglichkeiten zu nutzen und den Gott der Machbarkeit anzubeten.
Seit gut vierzig Jahren wird es immer leichter möglich, das Zeugen von Nachwuchs von der Sexualität von Mann und Frau abzukoppeln. Auf einmal hat der Mensch bisher ungeahnte Macht über das Kinderbekommen. Künstliche Befruchtung als solche ist im evangelischen Verständnis keineswegs verwerflich. So haben protestantische Ethiker gegen die Insemination (Samenzellen werden direkt in die Gebärmutterhöhle eingebracht) unter Ehepaaren nichts einzuwenden. Ganz anders sieht dies bei der In-Vitro-Fertilisation (IVF) aus, der Befruchtung im Reagenzglas.
Für eine erfolgreiche IVF müssen mehrere Eizellen befruchtet werden. Dabei werden mehrere Versuche und die Herstellung von ‘überflüssigen’ Embryonen, die eingefroren, für Forschungszwecke verwendet oder getötet werden, in Kauf genommen. Der IVF liegt in der Praxis häufig die Annahme zu Grunde, dass Paare ein Recht auf eigene biologische Kinder und Frauen ein Recht auf eine Schwangerschaft haben. Menschliches Leben wird nun im Labor ‘geschaffen’ und nicht mehr ‘empfangen’.
Vor allem macht es die IVF nun auch Alleinstehenden und gleichgeschlechtlichen Paaren möglich, Nachwuchs zu bekommen – Kinder können auch ohne Familie (im traditionellen Sinn) erworben-hergestellt-produziert-geliefert werden. Eine Büchse der Pandora tat sich auf: Samenspende aus dem Katalog, Leihmutterschaft und Präimplantationsdiagnostik (PID) lauten die Stichworte. Was heute in Deutschland (noch) nicht erlaubt ist, ist in anderen Ländern schon lange möglich. Die Biotechnologie hat einen globalen Markt geschaffen.
Zweitens muss der Verlust der verorteten Gemeinschaft in den sozialen Medien Sorgen bereiten. Die Nutzung von Medien ist grundsätzlich kein Problem. Schließlich ist, wie wir sahen, auch das geschriebene Wort Gottes ein wichtiges Medium der Offenbarung. Doch die Bibel selbst anerkennt ihre eigenen Grenzen. In 2 Joh 12 schreibt der Apostel: „Ich hätte euch viel zu schreiben, aber ich wollte es nicht mit Brief und Tinte tun, sondern ich hoffe, zu euch zu kommen und mündlich mit euch zu reden, damit unsere Freude vollkommen sei.“ (s. auch 3 Joh 13–14 und Röm 15,22–24) Johannes und Paulus wussten um die Wichtigkeit der persönlichen Gemeinschaft vor Ort.
Besonders die sozialen Medien erweitern unsere Kontaktmöglichkeiten. Sie führen aber auch dazu, dass möglichst viel Präsenz in diesen Medien demonstriert werden soll, und konkret wirkt sich dies nicht selten in narzisstischer Selbstdarstellung aus. Die sozialen Medien verbinden zwar mit wmgl. Tausenden von „Freunden“, doch sie produzieren tendenziell auch isolierte Individuen, die jede Form der Gemeinschaft frei wählen und die sich auch einer Ortsgemeinde nur noch recht unverbindlich zugehörig fühlen.
1964 sprach Marshall McLuhan erstmals vom „globalen Dorf“. Die elektronischen Medien und Technologien, angefangen beim Telegraphen über das Radio und das Fernsehen bis zu den vernetzten Medien des Internetzeitalters, haben die Menschen tatsächlich die Menschen besser miteinander bekannt gemacht und sie in gewisser Weise zusammenrücken lassen. Doch bestimmte menschliche Funktionen und Handlungen, so McLuhan, werden auch „gedimmt und abgeblendet“.
Die heutige radikale Mobilität und die Gefährdung der Verwurzelung und Verortung in einer konkreten Ortsgemeinde führt zum Verkümmern einer ganz wichtigen Funktion: des Zuhörens. Der Christ ist schließlich zuallererst ein Hörender, der auf Gott hört; der Weise hört auf Rat, und auch der Christ, der lernen will, hört auf andere. Dietrich Bonhoeffer formulierte sehr gut in Gemeinsames Leben:
„Der erste Dienst, den einer dem anderen in der [christlichen] Gemeinschaft schuldet, besteht darin, dass er ihn anhört. Wie die Liebe zu Gott damit beginnt, dass wir sein Wort hören, so ist der Anfang der Liebe zum Bruder, dass wir lernen, auf ihn zu hören… Christen, besonders Prediger, meinen so oft, sie müssten immer, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind, etwas ‘bieten’, das sei ihr einziger Dienst. Sie vergessen, dass Zuhören ein größerer Dienst sein kann als Reden. Viele Menschen suchen ein Ohr, das ihnen zuhört, und sie finden es unter Christen nicht, weil diese auch dort reden, wo sie hören sollten. Wer aber seinem Bruder nicht mehr zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören, sondern er wird auch vor Gott immer nur reden. Hier fängt der Tod des geistlichen Lebens an, und zuletzt bleibt nur das geistliche Geschwätz, die pfäffische Herablassung, die in frommen Worten erstickt.“
Das Zuhören braucht den Menschen gegenüber, die Gemeinschaft vor Ort. Schließlich gehört zum Hören auch nonverbale Kommunikation. Die frei durchs Netz und soziale Medien fließende Kommunikation macht geduldiges Zuhören jedoch so gut wie unmöglich, erschwert diese wichtige Übung ungemein. Bonhoeffer hat nun aber sehr treffend auf die geistliche Dimension dabei hingewiesen. Das Zuhören ist unbedingt nötig und von Gott geboten, weshalb das Verlernen dieser Tugend zur Sünde führt.
Drittens ist die Preisgabe des Denkens in der Datenwelt des Netzes zu nennen. Das Internet macht die globale Vernetzung von gewaltigen Informationsmengen möglich, Stichwort Big Data. In der Netzkultur werden nun vor allem die Daten befragt, um uns Orientierung zu geben – Daten aller Art, seien es Umfragedaten oder Messdaten.
Yuval Noah Harari spricht in Homo Deus von der „Datenreligion“, so die Überschrift des letzten Kapitels. Das traditionelle Verständnis des Lernens, so der israelische Autor, gilt nun nicht mehr. „Bisher wurden Daten nur als der erste Schritt in einer langen Reihe von geistigen Aktivitäten angesehen. Die Menschen waren angehalten aus Daten Informationen zu machen, Informationen in Wissen zu verwandeln und Wissen wiederum in Weisheit.“ Die Anhänger der Datenreligion sind jedoch, so Harari, „skeptisch gegenüber dem menschlichen Wissen und der Weisheit und bevorzugen es, ihr ganzes Vertrauen auf Big Data und Computeralgorithmen zu setzen“.
Auch Neil Postman beklagte, dass das „Immunsystem gegen die Informationsfülle“ nicht mehr intakt ist. Das Technopol ist für ihn die „totalitär gewordenen Technokratie“. Und eines der „Grundprinzipien des Technopols“ ist, „dass die Technik das Denken ersetzen kann“. Genau dies, das fast schon blinde Vertrauen auf die Big Data-Technik, hat nun z.B. dazu geführt, dass keine echte Klimadebatte geführt wird; vielmehr ist von Klimahysterie oder –panik zu sprechen. Aktionismus statt gründlichem Nachdenken.
Dabei hat Gott hat den Menschen den Verstand gegeben zur Kommunikation untereinander, mit ihm und für seine Aufgaben auf der Erde. Ein Gläubiger ist ein gern und bewusst denkender Mensch. Durch die Heilige Schrift hat Gott gesprochen, das heißt, er hat sich durch Worte mitgeteilt, die verstanden werden können und über die wir nachdenken sollen. Gott will der Ausgangspunkt unseres Denkens sein, aber nicht unser Denken ersetzen!
Wir sollen nicht gedankenlos in den Tag hineinleben (Spr 15,28; 14,15). Ein Christ unterstellt alles Denken dem Gehorsam Christi (2 Kor 10,3–6). Selbstbeherrschung/ Besonnenheit hat viel damit zu tun, nicht den Trieben zu folgen, sondern erst nachzudenken und dann zu handeln (Spr 15,28; Apg 24,25; Röm 12,3). In Band 1 von Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit forderte auch John Stott nachdrücklich ein „konsequentes Nachdenken“ der Christen über die ethischen Herausforderungen der Gegenwart. Was würde er nun, über dreißig Jahre später, sagen?
Nicht jede Nachlässigkeit im Denken ist eine Sünde. Und natürlich ist Denken nicht alles im Leben. Wir sollen schließlich auch handeln, uns vergnügen usw. Aber Torheit und Dummheit sind eben keinerlei Tugenden; ihr Maß ist zu verringern. Die Zunahme in der Weisheit ist ein Gebot, wir haben die von Gott auferlegte Pflicht zum Nachdenken. Vieles in unserer heutigen Welt drängt uns aber in eine ganz andere Richtung.
Eine letzte Bemerkung: Diese drei genannten Dinge gehören eng zusammen. Nachdenken ist auf das aufeinander Hören und damit auf Gemeinschaft angewiesen, denn das Zuhören speist unser Denken. Außerdem kann besonders das Reden mit anderen, die uns zuhören und dann auch treffend korrigieren, unsere Macht begrenzen. Denn es sind vor allem einsame Entscheidungen, die zu Machtmissbrauch und Sünde führen. Die ersten Menschen gaben ein schlechtes Beispiel. Der Versucher nahm sich Adam und Eva einzeln vor. Sie hörten einander nicht zu, dachten nicht über die Folgen nach und überschritten so selbstherrlich eine gute Grenze Gottes.