Homo gratus
[Hier der erste von vier Vorträgen über Gott, Mensch und Technologie, gehalten auf der Tagung des Deutschen Christlichen Techniker-Bundes, DCTB, im GRZ Krelingen, 25–27. Oktober; Homo gratus (1; der dankbare Mensch), Homo faber (2; der Mensch als Handwerker), Homo peccator (3; der sündige Mensch), Homo deus? (4; der göttliche Mensch?)]
Staunen, danken, verstehen – die technische Revolution der letzten zweihundert Jahre
Wie selbstverständlich leben wir heute in einer Welt, die von Technologie und Technik dominiert wird. Errungenschaften, die noch um 1900 unbekannt waren wie das Fliegen oder Telefonieren, sind heute Teil unseres Alltags. Mit immer größerer Geschwindigkeit gewöhnen wir uns an neue technische Möglichkeiten, gerade im Bereich der Kommunikation und Datenübertragung.
Jahrtausende mussten größere Informationsmengen auf einem physischen Träger wie Papierblätter in einem Buch von einem Ort zum anderen transportiert werden. Vor knapp 200 Jahren sprengte der elektrische Telegraph diese engen Grenzen. Auf einmal konnten Informationen in Windeseile über den Globus geschickt werden. Heute rauscht durch ein Glasfaserkabel, kaum dicker als ein menschliches Haar, zu den normalen Kunden pro Sekunde (!) die Datenmenge, die etwa in 50 gedruckten Bibeln steckt.
Ob es nun die Kommunikation, der Verkehr oder die Medizin, die Lebensmittelfertigung, die Energiegewinnung, die Abwasserentsorgung oder die Bautechnik ist – überall sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Leistungen der menschlichen Wissenschaft, Technologie und Ingenieurskunst geradezu überwältigend. Wir sollten vor allem das Staunen über diese Dinge neu entdecken und einüben. Denn ohne Stauen nehmen wir das Wesen dieser Leistungen in ihrer Größe (aber auch mit ihrem Gefahrenpotential) nur zu leicht gar nicht wahr. Was nicht richtig wahrgenommen wird, für das kann auch nicht richtig gedankt werden. Außerdem fehlt die Grundlage für das rechte Verstehen dieser Phänomene.
Der griechische Philosoph Platon meinte: „Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“ (Theaitetos) In Kurt Wuchterls Lehrbuch der Philosophie heißt es: „Philosophie beginnt mit der Verwunderung über Selbstverständlichkeiten“. In Jostein Gaarders Philosophieroman Sofies Welt stellt der Erzähler fest: „Die Fähigkeit uns zu wundern ist das einzige, was wir brauchen, um gute Philosophen zu werden“. Allerdings erleben „die meisten Erwachsenen die Welt als etwas ganz Normales“. Gaaders Erzähler weiter: „Das Traurige ist, dass wir uns im Heranwachsen nicht nur an die Gesetze der Schwerkraft gewöhnen. Wir gewöhnen uns gleichzeitig an die Welt selber. Anscheinend verlieren wir im Laufe unserer Kindheit die Fähigkeit, uns über die Welt zu wundern.“
Die Wichtigkeit des Staunens wurde 800 Jahre nach Platon auch von dem Kirchenvater Augustinus bekräftigt. In seinem Gottesstaat (Anfang des 5. Jhdt.) gibt es einen hervorragenden Abschnitt über die Größe des Geistes, den Gott den Menschen gegeben hat (XXII,24). Er ist „für Wissen und Belehrung empfänglich“. Dieser kreative Geist ist ein „solch hohes Gut, solch ein Wunderwerk des Allmächtigen, dass niemand es richtig mit Worten beschreiben oder in Gedanken erfassen kann“. Natürlich sind auch „die Künste rechter Lebensführung, die zur Seligkeit verhelfen“ äußerst wichtig; und sicherlich bemühen wir uns oft um „überflüssige, ja gefährliche und verderbliche Dinge“. Augustinus betont aber, die „hervorragende Kraft des Geistes“ diene genauso auch „dem Unterhalt“ und dem „Schmuck des Lebens“.
Und dann lässt er seiner Begeisterung freien Lauf und fragt rhetorisch: „Was für ein großes natürliches Gut ist dieser Menschengeist, der all das erlernen und ausüben konnte?“ Er nennt die „wunderbaren und erstaunenswerten Erzeugnisse im Bekleidungs- und Baugewerbe“, die „Fortschritte im Ackerbau und Schiffahrt“; was hat sich dieser Geist „nicht alles ausgedacht und ausgeführt in Herstellung aller möglichen Gefäße oder auch der mannigfaltigsten Skulpturen und Malereien!“ Er erwähnt das Theater, spricht von der Zähmung der Tiere, von der „Fülle von Heil- und Hilfsmitteln“, von Speisen und Gewürzen, von der Vielfalt der Sprache und Schrift, von der Musik, vom „Scharfsinn“ in Mathematik und Astronomie; „ja, wer kann es beschreiben, welche Unsumme weltlichen Wissens er angehäuft hat“.
Man bedenke bei all dem, dass Augustinus im 5. Jahrhundert schrieb – eine Zeit, die uns im Rückblick doch eher rückständig erscheint und den Übergang zum „dunklen“ Mittelalter markiert. In welches Staunen würde den Kirchenmann heute ein Stahlwerk, eine Autofabrik, eine Werft, ein Flughafen, ein Fernsehstudio oder eine Intensivstation versetzen, ganz zu schweigen von unseren Informationstechnologien?
Es müssen aber gar nicht die offensichtlich hochkomplexen Dinge sein, über die wir staunen können. Leonard Read hat 1958 mit „I, Pencil“ („Ich, der Bleistift“) einen berühmten Essay verfasst, der auf kreative Art grundlegendes ökonomisches Wissen weitergibt. Der „gewöhnliche hölzerne Stift“ ist nämlich gar nicht so gewöhnlich. „Ich, der Bleistift, so simpel ich auch erscheinen mag, verdiene Dein Wundern und Staunen“, so der erzählende Stift. Denn „nicht eine einzige Person auf dem Boden dieser Erde weiß, wie ich hergestellt werde“.
Natürlich wissen Firmen wie Faber-Castell oder Staedtler, wie man Buntstifte herstellt. Was Read meint, ist Folgendes: Um vom reinen, unbearbeiteten Naturprodukt, von den Rohstoffen, zum Endprodukt zu gelangen, sind – insgesamt betrachtet! – ungeheuer viele Arbeitsschritte nötig; dabei ist die Kette der beteiligten Menschen, die Werkzeuge und Technologien einsetzen, fast unendlich.
Read geht die einzelnen Bestandteile des Bleistifts durch wie das Holz des Mantels. Dies stammt von Bäumen, die aber erst einmal gefällt werden müssen. Dafür braucht es Werkzeuge, die wiederum hergestellt werden müssen. Das Holz wird in einem Sägewerk verarbeitet, über das Read schreibt: „Wieviel Können, Sachkenntnis und Fertigkeiten sind erforderlich für das Färben, Trocknen, das Bereitstellen der Hitze, des Lichtes, der Energie, der Förderbänder, Motoren und all der weiteren Dinge, die ein Werk benötigt!“
Der Bleistift fasst zusammen: „Es verhält sich in der Tat so, dass Millionen menschlicher Wesen ihre Hand bei meiner Herstellung anlegen und ein jedes nur ganz wenige der anderen kennt.“ Read beschreibt in seinem Essay also die ungeheuer weite Verflechtung unserer durch sehr hohe Arbeitsteilung gekennzeichneten Wirtschaft. Auf diese Weise weiß zwar kein einzelner Mensch, wie alle nötigen Bestandteile des Bleistifts, angefangen bei den Rohstoffen, zusammenzufügen sind; aber unser aller Wissen ist so eng mit einander vernetzt, dass dies auch gar nicht nötig ist.
Christen sind aufgerufen, über all die guten Gaben aus Gottes Hand zu staunen und zu danken. Schließlich ist der Mensch berufen homo gratus, der dankbare Mensch zu sein. Wofür sollen wir nun, im 21. Jahrhundert, dankbar sein? Fünf Dinge bzw. Perspektiven sind hier zu nennen.
An erster Stelle ist das menschliche Leben zu nennen: ein langes Leben, das Überleben der allermeisten Kinder und das Leben vieler Menschen.
Noch nie in der Weltgeschichte haben Menschen auch nur annähernd so lange gelebt wie nun (wenn man einmal die Frage um die langen Lebenszeiten in der Frühgeschichte, s. Genesis 5, ausklammert). Dank der Industrialisierung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hat sich die Lebenserwartung zwischen 1750 und 1950 fast verdreifacht. Die Lebenserwartung stieg weltweit in einem halben Jahrhundert von durchschnittlich 55 Jahren 1964 auf deutlich über 70 Jahre heute. Sie beträgt in China nun 76, in Brasilien 75 und sogar in Indien 68 Jahre. Selbst in den Industrieländern lag sie noch Mitte des 19. Jahrhunderts bei im Schnitt höchstens 50 Jahren. Ein langes Leben ist wohl der wichtigste Indikator des Wohlergehens und nicht zufällig auch in der Bibel ein Zeichen von Gottes Segen.
Dank neuer Technologien in der Medizin können immer mehr Menschen früher todbringende Krankheiten überleben. Ökonom Julian L. Simon nannte Letzteres die „größte historische Leistung der Menschen“. Immer neue Medikamente und Therapien nahmen den einstigen Geiseln der Menschheit ihren Schrecken. Noch vor ein paar Generationen starben Millionen an heute banalen Infektionen; Seuchen und Epidemien rissen Unzählige in den Tod. Nun steht sogar schon ein Impfstoff für Ebola zur Verfügung, und womöglich kann auch bald die Malaria besiegt werden.
Der frühe Tod, bis zur Industrialisierung eine Geisel der ganzen Menschheit, ist natürlich nicht von unserem Planeten verschwunden. Doch früher war die Kindersterblichkeit äußerst hoch. Selbst Wohlhabende mussten damit rechnen, dass nur einige ihrer Kinder die Volljährigkeit erreichen. Auch in Herrscherhäusern kam es nicht selten vor, dass von einem halben Dutzend Kindern nur eines erwachsen wurde. Heute ist der frühe Kindstod eine schreiende Ausnahme, und auch in den sich entwickelnden Ländern geht die Kindersterblichkeit seit Jahrzehnten stark zurück.
Jahrhunderte lang, von der Antike bis zur Reformation, lebten einige Hundert Millionen Menschen auf der Erde – und dann ging die Kurve nach oben. Erst um 1800 wurde die Marke von einer Milliarde überschritten. Der Bevölkerungsanstieg war dann ab dem 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika fast schon explosionsartig. In Deutschland z.B. verdreifachte sich die Einwohnerzahl von 1800 bis 1910. 1960 bevölkerten schon 3 Milliarden Menschen den Planeten, zur Jahrtausendwende 6 und heute etwa 7,5 Milliarden. Noch nie haben so viele Menschen so gut und so lange und so gesund gelebt wie heute, und das erleben praktisch alle Gesellschaften. Die Mehrung der Nachkommenschaft ist grundsätzlich ein Segen (Gen 1,22) und sollte keineswegs (wie heute üblich) reflexhaft abgelehnt werden.
Das Bevölkerungswachstum führt uns direkt zum zweiten Punkt: der großen Befreiung oder konkret dem Entfliehen aus der „Malthusischen Falle“.
Thomas Robert Malthus war ein Pfarrer der Kirche von England, der ab 1805 auch eine Professur für Geschichte und Politische Ökonomie (heute Volkswirtschaftslehre) innehatte. Bekannt wurde Malthus vor allem durch seine Bevölkerungstheorie, die er zuerst in An Essay on the Principle of Population (Erstauflage 1798) vorstellte. Er stellte die These auf, dass die Bevölkerungszahl immer exponentiell wachse (also nach der Reihe 2, 4, 8, 16 usw.), die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear (2, 4, 6, 8, 10 usw.). Das habe zur Folge, dass Nahrungsmittelangebot und -nachfrage sich auseinanderentwickelten.
Starkes Bevölkerungswachstum, so Malthus, führe zwangsläufig zu Überbevölkerung. In früheren Zeiten haben Hungersnöte, Kriege und Seuchen das Problem gleichsam gelöst und den Überschuss durch Massensterben wieder beseitigt. Malthus hatte als Christ natürlich moralische Vorbehalte gegen das Sterbenlassen sehr vieler Menschen. Er befürwortete deshalb effektive Hemmnisse in der Bevölkerungsentwicklung.
Malthus hatte fast recht. Die Bedingungen der damaligen Existenz sah er im richtigen Licht. Das vorindustrielle Wirtschaften konnte seine Theorie recht gut erklären. Bis um etwa 1800 lebte die Masse der Weltbevölkerung, auch in Europa, in relativem Elend. Dürre, Missernten, Seuchen und Hunger waren fast schon alltägliche Bedrohungen. Die Fortschritte, die es in der Produktion von Lebensmitteln gab, wurden durch das Bevölkerungswachstum gleich wieder aufgefressen. Aus dieser Falle sah Malthus kein Entkommen. Man müsse die Bevölkerung daher unbedingt am Wachsen hindern.
Malthus unterschätzte jedoch, zu welchen Leistungen der Mensch fähig ist; er unterschätzte die Dynamik, die das Zusammenwirken von Knappheit und Kreativität auslösen kann. Dies beeinträchtigte seinen Blick in die Zukunft. Jenseits seiner Vorstellungskraft lag die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts, die vor allem in der Landwirtschaft die Produktivität erheblich erhöhte.
Dank neuer Techniken in Industrie und Landwirtschaft konnten immer mehr Menschen ernährt werden; die realen Löhne – jahrhundertelang auf gleich niedrigem Niveau – stiegen z.B. in England ab 1800 deutlich. Neue Technologien ließen die Weltwirtschaft seitdem sehr viel stärker wachsen als die Erdbevölkerung (grob gesagt war das Wachstum der Wirtschaft zwischen 1800 und 2000 zehn Mal so groß wie das der Bevölkerung!). Peter Jay: „Was den Unterschied in Europa oder zumindest in Großbritannien ausmachte, waren vor allem die Erfindungen, Kohle als Energiequelle und die Ressourcen der Neuen Welt. Ohne diese Faktoren hätte Europa nicht die Ressourcenknappheit entgehen können, die Smith, Malthus und andere Denker des 18. Jahrhunderts für eine unüberwindliche Wachstumsschranke hielten.“ (Das Streben nach Wohlstand)
Der Malthusischen Falle konnte die Menschheit entkommen, weil, so drittens, der Wohlstand ab dem 19. Jahrhundert sprunghaft zunahm. Das größte säkulare Ereignis der Weltgeschichte in den letzten Jahrtausenden sind nicht die vielen Kriege und Revolutionen. Es ist in den Worten von Deirdre McCloskey „the Great Enrichment“, der große Wohlstandszuwachs in den letzten zweihundert Jahren. Wir produzieren und konsumieren nun siebzig Mal mehr Waren und Dienstleistungen als um 1800. Der Planet ernährt sieben Mal so viele Menschen wie damals. Die realen Einkommen sind fast um das Zehnfache gestiegen. In den OECD-Ländern hat das reale Pro-Kopf-Einkommen sogar um den Faktor 30 zugenommen, also nicht um 30 Prozent – es ist 30 Mal höher als noch einige Generationen zuvor.
Der materielle Lebensstandard hat sich allein im vergangenen Jahrhundert zumindest in den Industrieländern (je nach Staat) um das Zehn- bis Zwanzigfache erhöht. Und auch in den früher Entwicklungsländern genannten Staaten ist der Fortschritt mitunter gewaltig. Den größten Sprung hat wohl das einst bettelarme und von Kriegen geplagte Südkorea gemacht. Auch andere asiatische Länder mit schwerem Erbe wie Vietnam machen große Fortschritte. Heute leben die meisten Mexikaner und Brasilianer auf einem ähnlichen Wohlstandsniveau wie die Briten vor sechzig Jahren. Fast allen geht es besser, nicht wenigen geht es viel besser als in den 50er Jahren, und nur sechs Ländern geht es tatsächlich schlechter als damals: Haiti und Afghanistan sowie in Afrika die von Bürgerkriegen ausgelaugten Sierra Leone, Liberia, DR Kongo und Somalia (den Rückwärtsgang haben nun auch Libyen und Jemen eingelegt, ganz zu schweigen von Syrien).
Der große Wohlstandszuwachs muss erklärt werden, und McCloskey hat dies in den drei Bänden ihrer „Bourgeois Era“-Reihe (2006–2016) umfassend getan. Im abschließenden Bourgeois Equality – How Ideas, Not Capital Or Institutions, Enriched the World ruft sie, die sich selbst als gläubige episkopale (anglikanische) Christin bezeichnet, zum Dank an Gott für den „Bourgeois Deal“ auf. Dieser setzte sich zuerst in den Niederlanden und Großbritannien durch und meint dies: Lasst uns, die Bürger und Unternehmer, in Freiheit erfinden und produzieren und handeln, und am Ende wird Wohlstand für alle das Ergebnis sein.
McCloskey betont ausdrücklich, dass das „thank God“ kein reines Ornament ist – sie meint dies tatsächlich so. Ein Geist der Dankbarkeit, so die Professorin aus Chicago, durchzieht bewusst ihre Buchreihe. Gott will schließlich, so McCloskey, dass es uns im Diesseits wie im Jenseits gut geht; wir sollen für alle seine Gnadenerweise dankbar sein und daher genau hinsehen, was tatsächlich zum Wohlstand auf dieser Erde beiträgt: „Gott sei Dank herrschen der Wettbewerb, die Kooperation und das Preissystem…“
Bevor wir näher auf Gott und Gnade eingehen, sei ein vierter Punkt genannt: Dank für konkrete Maschinen.
Das ‘Wunder‘ des großen Wohlstandszuwachses hat komplexe Ursachen. Eine wichtige Rolle, so McCloskey, spielte die dem Tun der Unternehmer, Händler und Erfinder gesellschaftlich zuerkannte Würde. Der Forschungstrieb zeichnete die Menschen schon immer aus, und Erfindungen gab es auch in der Antike und bis ins Mittelalter in China nicht wenige. Aber in Europa kam die Erfindungsgabe zu ganz ungeahnter Blüte, weil die drei genannten Gruppen viel größere Freiheit erringen und ihre Produkt auf echten Märkten testen und die Früchte ihres Fleißes ernten konnten. Peter Jay hat in Das Streben nach Wohlstand – Die Wirtschaftsgeschichte des Menschen auf über sieben Seiten die bedeutenden Erfindungen von 1700 bis 1850 einfach nur genannt und aneinandergereiht – was für eine Liste! Und es ging ja immer weiter: vom Automobil bis zu Antibiotika, von der Atomkraft bis zur „Artificial Intelligence“.
Heute gewöhnen wir uns allzu schnell an all diese Erfindungen. Wir sind kaum noch dankbar für die große Hilfe durch all diese Maschinen und Werkzeuge, die uns den Alltag erleichtern. Hier kann uns Hans Rosling helfen. Der Anfang 2017 verstorbene Schwede war Mediziner und Statistiker, Professor für Internationale Gesundheit. Mit Sohn und Schwiegertochter (die beide nun seine Arbeit fortführen) gründete er die „Gapminder“-Stiftung. Auf ihrer Internetseite macht sie interaktiv aufbereitete Statistiken zugänglich. Der Rosling-Familie ist es so gelungen, Unmengen von Daten verständlich zu kommunizieren und Entwicklungslinien der Geschichte zu verdeutlichen. Auch auf YouTube sind zahlreiche Vorträge von Hans und Ola Rosling zu sehen.
Einer der besten Vorträge von Rosling sen. ist „The magic washing machine“, den der Schwede so beginnt:
„Ich war erst vier Jahre alt, als ich meine Mutter das erste Mal in ihrem Leben eine Waschmaschine beladen sah. Das war ein besonderer Tag für meine Mutter. Meine Mutter und mein Vater hatten seit Jahren Geld gespart, um sich die Maschine leisten zu können. Und an dem Tag, als sie das erste Mal laufen sollte, wurde sogar Oma eingeladen, um die Maschine zu sehen. Und Oma war sogar noch aufgeregter. Ihr ganzes Leben lang hatte sie mit Feuerholz Wasser erhitzt und die Wäsche für sieben Kinder mit der Hand gewaschen. Und jetzt würde sie zusehen, wie Elektrizität diese Arbeit verrichtet.“
Rosling schildert den großen Segen der Waschmaschine. Und er weitet den Blick in die Gegenwart und auf die Milliarden ohne dieses wichtige Hilfsmittel. Auch die Ärmeren wollen so eine Maschine, doch was ist mit dem Energieverbrauch? Und wie wird die Entwicklung weitergehen? Der Schwede weiß durchaus um die komplexen Probleme der Welt, aber beendet seinen Vortrag sehr positiv, und ganz am Schluss stimmt er ein Loblied auf die Industrialisierung an:
„Meine Mutter erklärte den Zauber der Waschmaschine am allerersten Tag. Sie sagte: ‘Jetzt, Hans, haben wir die Wäsche hinein getan; die Maschine wird die Arbeit machen. Und wir können jetzt in die Bücherei gehen.’ Denn das ist der Zauber: man füllt die Wäsche hinein, und was bekommt man aus der Maschine heraus? Du bekommst Bücher aus der Maschine heraus, Kinderbücher. Und meine Mutter bekam Zeit mir vorzulesen. Sie hat es geliebt. Ich bekam das ‘ABC’. Das war der Punkt, an dem ich meine Karriere als Professor begann, als meine Mutter Zeit hatte mir vorzulesen. Sie holte auch Bücher für sich selbst. Sie hat es geschafft, Englisch zu lernen und dies als Fremdsprache zu lernen. Sie hat so viele Romane gelesen, so viele verschiedene Romane. Wir haben diese Maschine wirklich, wirklich geliebt. Und meine Mutter und ich haben gesagt: ‘Danke Industrialisierung. Danke Stahlwerk. Danke Elektrizitätswerk. Und danke chemieverarbeitende Industrie, die uns Zeit verschafften, Bücher zu lesen’.“
All die bisher genannten Phänomene können auch unter dem Begriff Gnade zusammengefasst werden. Fünftens ist daher die „allgemeine Gnade“ zu nennen.
In den Kirchen und Gemeinden steht meist das Erlösungshandeln Gottes im Mittelpunkt, folglich auch die Dankbarkeit für die zahlreichen geistlichen Segnungen, die uns durch Christus aus der Gnade Gottes zukommen. Neben dieser rettenden, „speziellen“ Gnade gibt es die „allgemeine“ Gnade Gottes, von der auch die Nichtgläubigen Nutzen haben und für die jeder Mensch dankbar sein soll. Der Gott des Evangeliums zeigt sich nicht nur in der Erlösung als gnädig, sondern auch in der Erhaltung und Lenkung der Schöpfung.
Sehr schön wird dies in Martin Luthers Auslegung von „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden“ in seinem Kleinen Katechismus deutlich:
„Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens (mich) reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte öund Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“
Auch der Heidelberger Katechismus erläutert zum ersten Artikel des Apostolischen Bekenntnisses über den Schöpfer: Gott hat die Erde „aus nichts erschaffen und erhält und regiert sie noch immer durch seinen ewigen Rat und seine Vorsehung“ und zwar so, „dass er mich mit allem versorgt, was ich für Leib und Seele nötig habe“ (Fr. 26). Die Schöpfung ruht nicht in sich selbst, sondern wird von einem mächtigen und guten Gott unverdient erhalten. Dies ist genauso Grund für Dankbarkeit wie das Erlösungshandeln.
In Fr. 27 führt Autor Ursinus dann zur Vorsehung Gottes aus, dass diese die „allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes“ ist, mit der er die Schöpfung regiert und lenkt, so dass „Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre… Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut… uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.“
Es gibt immer noch Dürren und Krankheiten und Armut. Doch die extreme Armut geht immer weiter zurück: die Rate des im Elend lebenden Teils der Menschheit fiel von 85% um 1800 auf heute 8%. Nun kann sogar die völlige Ausmerzung des allerschlimmsten Elends anvisiert werden. Krankheiten (s.o.) werden nun fast alle erfolgreich bekämpft und sind oft heilbar. Und Missernten wegen der Unwägbarkeiten des Wetters führen nur noch sehr selten zu Hungerkatastrophen. Daher kommen uns heute aus der „väterlichen Hand“ Gottes ungeahnt viel Gesundheit, sehr viel Reichtum und allgemein viele gute Jahre zu.
Wie genießen alle die Früchte einer globalen Kooperation der Menschen, einer weltweiten Arbeitsteilung. Entscheidend mit dazu beigetragen haben natürlich moderne Kommunikationstechnologien. Das ungeheuer weite Netz der menschlichen Zusammenarbeit ist natürlich nicht nur ein Segen (schließlich gibt es auch weltweit agierende Netze von Verbrechern und Terroristen). Doch es wäre noch viel törichter und auch nicht christlicher, würde man das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Es hat Gott offensichtlich gefallen, die jetzt lebenden Generationen mit den Segnungen allgemeiner Gnade reich zu beschenken.
Technologien haben viel mit Kommunikation und Sprache zu tun. Sprache selbst ist unser wichtigstes Werkzeug, unsere Basis-Technologie. Sie hat es möglich gemacht, das Handeln von Menschen über die kleine Gruppe hinaus zu koordinieren. Mehr dazu im nächsten Vortrag.
Wörter einer Sprache verstehen wir, wenn wir ihren Gebrauch verstehen. Dies gilt auch für Werkzeuge im Allgemeinen. Wir verstehen sie und Technologien, wenn wir ihren Gebrauch verstehen. Natürlich werden dabei dieselben Dinge vielfältig eingesetzt, und nicht zu selten für böse Zwecke. Viele Werkzeuge werden genutzt, um zu töten und zu quälen. Im letzten Jahrhundert forderten die beiden Weltkriege auch deshalb so viele Opfer (der Erste insgesamt 20 Millionen Tote, der Zweite mind. 60), weil den Menschen, die schon immer mehr oder weniger böse waren, nun noch zerstörerische Techniken zur Verfügung standen (von denen frühere Gewaltherrscher wohl nur geträumt hätten).
Doch man beachte: Der Erste Weltkrieg kostete 1% der Weltbevölkerung das Leben, der Zweite 2,5%. Historisch gesehen sind dies erstaunlich niedrige Zahlen (im Vergleich zur Antike und zum frühen Mittelalter). Vor Jahrtausenden bedeutete Krieg meist nichts anderes als die weitgehende Auslöschung eines feindlichen Stammes, und wenn die gebärfähigen Frauen geraubt und damit am Leben gelassen wurden, dann war die Tötungsrate nicht ein paar Prozent, sondern 70, 80% und höher. Von der Antike bis ins Mittelalter hinein bedeuteten Kriege öfter als man heute denkt die Vernichtung von großen Teilen einer Bevölkerung. Ab 1400 haben wir immer noch nicht wenige sehr blutige Kriege, aber wenige ‘Ausreißer’ wie den Dreißigjährigen Krieg (s.u. Grafik; dort wird deutlich, dass auch die Napoleonischen Kriege prozentual kaum weniger Leben kosteten als die Weltkriege).
Selbst wenn man also die zerstörerischen Aspekte von Technologien mitberücksichtigt, bleibt aufgrund der oben geschilderten fünf Punkte in der Gesamtbilanz ein großes Plus. Technologien sind grundsätzlich etwas Gutes – auch wenn noch genug Differenzierendes und Kritisches zu sagen sein wird. Gewiss, mit einem Hammer kann auch ein Schädel eingeschlagen werden; dies passiert immer wieder. Aber allermeist werden eben doch Nägel mit Hämmern traktiert. Der Hammer ist ein gutes Werkzeug. Diese positive Note ist grundlegende für das Verstehen von Technologien.