Die Kirche rettet tatsächlich
„Aussetzung rechtsstaatlicher Regeln“
Mitte September machte die Nachricht die Runde, dass nun auch die EKD ein eigenes Schiff zur Seenotrettung ins Mittelmeer schicken will. In einer Pressemeldung des Kirchenbundes vom 12. September („Seenotrettung: ‘entsetzliche Bilanz’“) wird der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm zitiert: „Wir wollen ein Schiff schicken. Der Rat der EKD hat auf seiner jüngsten Sitzung beschlossen, einen Verein zu gründen, in dem Kirchen, Institutionen und Engagierte gemeinsam schnellstmöglich ein weiteres Schiff in den Rettungseinsatz bringen wollen.“
Die in der Migrantenrettung aktive Bewegung „Seebrücke“ begrüßte auf ihrer Internetseite – unter dem Foto des Wormser Luther-Denkmals – diese Entscheidung geradezu euphorisch: „Danke an die EKD, dass ihr es wahr macht: Die EKD schickt ein Schiff!“ Auch in der Pressemeldung kommt ein Vertreter der „Seebrücke“ zu Wort: „Alle Menschen müssen das Recht haben, sich frei zu bewegen und auf sicherem und legalem Wege nach Europa zu kommen.“
Die EKD sieht sich zwar nicht als Gruppe von „Experten für Seenotrettung“, so Ratsmitglied Michael Diener im Interview mit „pro“, doch mitmachen will man eben doch, und der Hashtag „#Kirche rettet“ soll ja gewiss signalisieren: Fachwissen hin oder her – wir sind bei der Rettung mit dabei. Die evangelisch-reformierte Kirche in der EKD stellte übrigens als erstes Mitglied schon Ende August Mittel für das eigene Seenotrettungsschiff zur Verfügung.
Anfang des Monats nahmen die Bischöfe Meister (Hannover) und Bedford-Strohm (Bayern) im Kirchanamt in Hannover eintausend Faltschiffchen, gebastelt von einer niedersächsischen Kirchengemeinde, entgegen. Mit dieser Aktion sollte die Resolution des Dortmunder Kirchentages zur Seenotrettung unterstützt werden. Das Foto der beiden mit großem Papierschiff und einem von Kinderhand ausgeschnittenen „#Kirche rettet“ kommentierte Ulrich H.J. Körtner in „Verpeiltes Kirchenschiff“ bissig: „Das also ist das Niveau, auf dem die EKD inzwischen komplexe politische Fragen wie die europäische Migrations- und Asylpolitik diskutiert.“
Der aus Deutschland stammende reformierte Theologe, der an der Universität Wien lehrt, führt weiter aus – auch im Hinblick auf Äußerungen wie die oben zitierte des „Seebrücke“-Vertreters: „Zivile Seenotretter und ihre Unterstützer rechtfertigen ihr Handeln keineswegs nur mit dem Willen, Menschen aus unmittelbarer Lebensgefahr zu retten, sondern auch damit, dass jeder Mensch das Recht habe, in ein Land seiner Wahl zu flüchten oder zu migrieren. Da es ein solches Recht juristisch nicht gibt, begründen sie es moralisch. De facto wird Rettung aus Seenot zum Eintrittsticket nach Europa, und zwar nicht für die Ärmsten der Armen, sondern für die, die sich die hohen Schlepperkosten finanziell leisten können. Letztlich laufen die Forderungen der NGOs auf eine Politik der offenen Grenzen hinaus. Das gilt auch für die Position der EKD. Die politischen und sozialen Folgen einer solchen Willkommenskultur, die das Erstarken rechter und fremdenfeindlicher Parteien in ganz Europa gefördert hat, werden heruntergespielt oder einseitig einer rassistischen ‘rechten’ Gesinnung angelastet.“
Körtner kommt zu einem ernsten Schluss: „Gerade aus moralischen und theologischen Gründen ist die Einhaltung politischer Pflichten und der Verteidigung des Rechtsstaats geboten, die bei undifferenzierter Ausdehnung von Fluchtgründen auf alle Menschen in jedweder Not unterlaufen wird. Mit ihrer migrationspolitischen Position und ihrer Haltung in der Frage privater Seenotrettung nimmt die EKD das Recht in Anspruch, aus moralischen Gründen den politischen Ausnahmezustand auszurufen, der im Zweifelsfall die Aussetzung rechtsstaatlicher Regeln legitimiert.“
Körtner hat natürlich recht, dass Flucht und Migration „komplexe politische Fragen“ sind. Der Ethikexperte bedauert, dass die EKD es sich leicht macht und nicht auf Differenzierung, sondern auf eine einfache Losung setzt: die Kirche rettet aus Seenot. Nun mag man über das Für und Wider der Rettung von Migranten im Mittelmeer im Einzelnen streiten und denken wie man will. Aus theologischer Perspektive wäre aber zu wünschen, dass diese klare Formulierung, dieser unbedingte Einsatz, diese Bestimmtheit, dieser Wille zur Tat auch einmal wieder auf den klassischen Rettungsauftrag der Kirche angewendet werden würde: auf die Seelenrettung.
„Denn sie haben den HERRN Christum nicht“
In der Bibel steht das Meer meist für eine Bedrohung, sind Sturm und Flut ein Zeichen des Gerichts. Entsprechend wird das Heil mit der Rettung aus dem wilden Meer verglichen. Heinrich Bullinger im Zweiten helvetischen Bekenntnis: „Wie außerhalb der Arche Noahs keine Rettung war, als die Menschheit in der Sintflut umkam, so glauben wir, dass außerhalb Christus, der sich den Erwählten in der Kirche zum Genusse darbietet, kein gewisses Heil vorhanden sei.“ (XVII,13)
Auch im Niederländischen Bekenntnis heißt es in Art. 28, dass außerhalb der Kirche „kein Heil ist“. Ebenfalls in der reformierten Tradition formuliert das Westminster-Bekenntnis: „Außerhalb von ihr [der Kirche] gibt es keine ordentlich Möglichkeit der Errettung“ (25,2). Das Wort „ordentlich“ oder normal ist hier natürlich bewußt hinzugefügt. Denn sicher ist die Mitgliedschaft in einer sichtbaren Gemeinde keine absolute Notwendigkeit. Es lassen sich ja Fälle denken, dass eine Art Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel eine Bibel entdeckt, zum Glauben kommt und dann sicher auch ohne Kirche – eben auf außergewöhnliche Weise – errettet ist.
Der historische, orthodoxe Glaube bekennt mit Cyprian (3 Jhdt.): extra ecclesiam nulla salus – außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Die großen kofessionellen Gruppen –römische Katholiken, Orthodoxe und Protestanten – deuten den Satz des Kirchenvaters durchaus unterschiedlich. So betonen die Evangelischen, dass nicht die Kirche an sich und auch nicht Kirchenmitgliedschaft rettet. Doch der Grundgedanke wird auch von ihnen geteilt. Martin Luther: „Denn außer der christlichen Kirche ist keine Wahrheit, kein Christus, keine Seligkeit“ (Kirchenpostille). In seinem Großen Katechismus schreibt der Reformator im Abschnitt über den dritten Artikel des Apostolikums: „Denn wo man nicht von Christus predigt, da ist kein Heiliger Geist, welcher die christliche Kirche macht, beruft und zusammenbringt, außerhalb welcher niemand zu dem Herrn Christus kommen kann.“
Und weiter: „Darum scheiden und sondern diese Artikel des Glaubens uns Christen von allen andern Menschen auf Erden. Denn was außer der Christenheit ist, es seien Heiden, Türken, Juden oder falsche Christen und Heuchler, ob sie gleich nur einen wahrhaftigen Gott glauben und anbeten, so wissen sie doch nicht, wie er gegen ihnen gesinnt ist, können auch keine Liebe noch Gutes von ihm erwarten, darum sie in ewigem Zorn und Verdammnis bleiben. Denn sie haben den HERRN Christum nicht, sind dazu mit keinen Gaben durch den heiligen Geist erleuchtet und begnadet.“
„Gewisses Heil“ gibt es nur in der christlichen Kirche. Nur in ihr ist Rettung versprochen. Außerhalb von der Kirche Christi droht auch weiter der ewige geistliche Tod. Diese Überzeugung macht das Bild des vernichtenden Meeres und des rettenden Schiffes für die Kirche so stimmig.
Der Reformator Bullinger vergleicht die Kirche mit der Arche, einem Schiff (s.o.). Das rettende Schiff im stürmischen Wasser war damals ein beliebtes Symbol der Kirche, gerade unter den verfolgten Reformierten. Am Portal der Großen Kirche in Emden ist in einem Sandsteinrelief von 1660 um das „Schepken Christi“ herum zu lesen: „Godts Kerck, verfolgt, verdreven, heft Godt hyr Trost gegeven“ (Gottes Kirche, verfolgt, vertrieben, hat Gott hier Trost gegeben). Auch Johannes a Lasco, der aus Polen stammende Reformator Ostfrieslands, hatte das Schiff in seinem Siegel, dazu den lateinischen Satz „in portu navigo“: ich schiffe in den [himmlischen] Hafen ein.
Das „Schiffchen Christi“ ist auch Teil des Logos des Ökumenischen Rats der Kirchen. Dort ragt ein großes Kreuz aus einem Boot heraus. Die Implikation dieses Bildes ist eindeutig: außerhalb des Schiffes ist man im tosenden Meer dem Untergang geweiht. Das Kreuz Christi bildet den Masten. Das ganze Schiff, so auch Bullinger, ist Christus selbst. Im Schiff sein bedeutet in Christus sein.
„… damit niemand die Rettung verpasst“
Die römisch-katholische Kirche hält zwar weiterhin an der Auffassung fest, sie selbst sei die umfassend rettende Heilsinstitution. Inzwischen glaubt man in Rom aber auch daran, dass alle Menschen „ohne jede Ausnahme… von Christus erlöst worden“ sind; jeder Mensch sei schon mit Christus verbunden (Johannes Paulus II, Redemptor hominis). Die römische Kirche bleibt also das rettende Schiff, doch von ihm aus wurde gleichsam ein weites Rettungsnetz ins Meer geworfen. Außerhalb des Schiffes muss also niemand mehr verloren gehen. Nicht zuletzt der refomierte Roger Schutz, einst Gründer von Taizé, hat diese Sicht verbreitet: „Die Kirche im Herzen Gottes ist so weit wie die ganze Menschheit“ – wozu da noch ein Rettungsboot?
Auch der US-Amerikaner Dallas Willard, Philosoph und einflußreicher Autor zum Thema Jüngerschaft, schreibt in Knowing Christ Today, dass viele, die nicht getauft oder Kirchenmitglieder sind oder die sich sonstwie nicht äußerlich zum Christentum bekennen, von Gott angenommen werden, „wenn sie das innerliche Herz haben, nach dem Gott sucht“.
Für viele Postevangelikale wie Rob Bell ist die Kirche wie selbstverständlich nicht mehr das große Rettungsboot außerhalb dessen man verloren ist. Sie wird vielmehr nur noch als eine weite Gemeinschaft von Gläubigen gesehen, die ihre Erfahrung in Riten, Sprache und Symbolen ausdrücken; die dem Mysterium, das in aller Welt gegenwärtig ist, einen sprachlichen Ausdruck geben. Die Kirche ist demnach der Ort, an dem auf das Evangelium, das schon aller Kreatur unter dem Himmel angekündigt ist, in besonderer Weise reagiert wird.
Die rettende Botschaft vom Heil, das Evangelium, sei also schon präsent in der Welt. Daraus folgt, dass es dann nicht mehr die primäre Aufgabe der Kirche und ihrer Glieder ist, dieses Evangelium einer Welt, die es nicht kennt, bekannt zu machen. Der dringende Ruf, doch ins das rettende Schiff zu steigen, bleibt aus.
So wundert es nicht, dass inzwischen alles Mögliche gerettet und bewahrt werden soll wie natürlich auch das Klima. Dabei hat die EKD in ihrer Schrift „Das Evangelium unter die Leute bringen“ aus dem Jahr 2001 unter der Überschrift „Die Perspektive der Rettung“ selbst festgehalten: „Leben ohne Gott, ohne Glauben an Jesus Christus, ist Leben in der Verlorenheit.“ Daher sei „Dringlichkeit geboten“. Evangelisation wird als „eine Einladung mit doppeltem Akzent“ bezeichnet: „Sie lädt herzlich zum Vertrauen auf Jesus Christus ein und sie tut das dringlich, damit niemand die Rettung verpasst.“
Gewiss ist daran zu arbeiten, dass möglichst wenig Menschen im Mittelmeer ertrinken. Über diesen grausamen Tod sollte man nicht zynisch hinwegsehen. Es ist tatsächlich nicht einfach so hinnehmbar, dass Tausende im Jahr vor den Toren Europas umkommen. Gehandelt werden muss daher von vielen, und die EKD gibt ebenfalls selber zu, dass die Kirche nur eine Art symbolischen Beitrag leisten will. Die Seenotrettung sollte vor allem Sache der staatlichen Organe sein.
Bei der Seelenrettung bietet sich ein ganz anderes Bild. Auch hier muss gehandelt werden, aber die Lage ist sogar noch ernster und die Herausforderung an die Kirche bzw. die Kirchen noch größer. Denn allein der Christus der Kirche rettet tatsächlich vor der ewigen Verlorenheit. Die Kirche ist das Schiff des Heils, durch sie wirkt Gott zur Rettung der Menschen. Nur die Kirchen allein haben diese Botschaft weiterzusagen. Wenn die Seenotrettung schon dringlich ist, ist die Seelenrettung für die Kirchen dann nicht noch viel dringender? Wenn schon mit viel Aufwand ein Schiff finanziert wird, muss nicht viel mehr und noch viel engagierter gehandelt werden, um den Kernauftrag der Kirche auszufüllen, „damit niemand die Rettung verpasst“?
[…] de la paroisse réformée de Vilnius (Lituanie). Il a publié cet article en allemand pour son blog personnel en septembre […]