Vergangenheitsbewältigung – evangelisch und katholisch
„Verrat am Evangelium“
In Zürich wird in diesem Jahr auf 500 Jahre Reformation zurückgeblickt. Offiziell wurde der evangelische Glaube erst nach den drei Disputationen 1523/24 eingeführt. Ein wichtiges Datum war auch das sog. „Wurstessen“ am 9. März 1522 im Haus des Zürcher Druckers Froschauer – ein bewusster Bruch der katholischen Fastenvorschriften. Eine wohl noch wichtigere Weichenstellung geschah aber schon zu Beginn des Jahres 1519: Ulrich Zwingli begann seinen Dienst als Hauptpfarrer am Grossmünster in Zürich. Er belebte dabei die altkirchliche Praxis der lectio continua neu – die fortlaufende Predigt durch einzelne Bücher der Bibel hindurch. Zwingli begann mit dem ersten Vers des Neuen Testaments, ging ganz Matthäus durch, gefolgt von der Apostelgeschichte.
Die Reformation in der Eidgenossenschaft hatte aber auch eine dunklere Seite. Ab etwa 1523 breitete sich in Zürich die Täuferbewegung aus. Die Täufer lehnten vor allem die Säuglingstaufe ab und forderten radikalere Schritte bei der Umsetzung der Reformation. Bald kam es zum Bruch mit Zwingli und dem Rat der Stadt, denn die Disputation mit den Täufern vom Januar 1525 scheiterte. Die Kindertaufe wurde von der Stadt unter Androhung der Verbannung eingeschärft. Zwingli veröffentlichte 1525 eine gegen die Täufer gerichtete Schrift, in der er vor Aufruhr warnte. Auch Heinrich Bullinger verfasste in dem Jahr eine erste Schrift zu Tauffrage.
Die Situation in der Stadt eskalierte, und am 5. Januar 1527 wurde der Täuferführer Felix Manz in der Limmat, mitten in der Stadt, zur Strafe für wiederholte Missachtung der Vorschriften der Obrigkeit ertränkt. Im Film „Zwingli“, der im Januar Kinostart in der Schweiz hatte, ist auch diese Szene dargestellt: der gefesselte Manz wird aus einem Boot in den Fluß gekippt (s. Foto unten und ganz oben).
Anderthalb Jahre später fanden in Zürich weitere Hinrichtungen statt: Die beiden Täufer Jakob Falk und Heini Reimann wurden auf die gleiche Weise ertränkt wie Felix Manz. 1530 wurde Konrad Winkler hingerichtet. Während Bullingers Zeit in Zürich ab 1531 gab es zwei Hinrichtungen (im Jahr 1532). 1614 erfolgt in Zürich die letzte Hinrichtung eines Täuferführers in der Person von Hans Landis.
Diese Todesurteile sind bekannt, weil sie auch von den Reformierten in der Schweiz seit Jahren in keiner Weise verschwiegen werden, im Gegenteil. Die Zürcher Reformierten haben sich z.B. 1983 bei bei einem Gedenkgottesdienst im Grossmünster zum Abschluss des zehnjährigen Dialogs mit den Baptisten für die Todesurteile des 16. Jahrhunderts entschuldigt und um Vergebung gebeten. Auch 2004 gedachte die reformierte Landeskirche nicht nur des 500. Geburtstag des Zürcher Reformators Heinrich Bullingers. Bei einem Tag der Begegnung und Versöhnung wurde festgehalten: „Wir bekennen, dass die damalige Verfolgung nach unserer heutigen Überzeugung ein Verrat am Evangelium war und unsere reformierten Väter in diesem Punkt geirrt haben.“
Ausgerechnet im Geburtsmonat Bullingers, im Juli, wurde damals eine Gedenktafel an der Stelle der Limmat angebracht, an der Manz ertränkt worden war (s. Foto). Außerdem befindet sich in Zürich eine Tafel am Wohnhaus von Konrad Grebel am Neumarkt, einem weiteren wichtigen Täufer, der 1526 an der Pest verstarb.
Die Zürcher haben sich also ihrer Vergangenheit gestellt, und dies ist um so bemerkenswerter, da sie wahrlich nicht zu den eifrigsten Verfolgern der Täufer gehörten. Im benachbarten Kanton Bern ging man deutlich schärfer gegen sie vor; dort wurden insg. 40 Personen hingerichtet. Dies hatte sicher auch damit zu tun, dass Bullinger in Zürich eher der Linie von Martin Bucer folgte, der bei aller Kritik und auch Diskriminierung (wie wir heute sagen würden) ein gewisses Verständnis für das Anliegen der Täufer zeigte und das Gespräch suchte. Bullinger setzte Zeit seines Lebens stärker auf die inhaltliche Bekämpfung der Lehren der Täufer und veröffentlichte z.B. 1560 eine Geschichte der breiten, ganz und gar nicht einheitlichen Täuferbewegung. Dennoch bleibt es dabei, dass natürlich auch Bullinger Mitverantwortung an der Verfolgung der Täufer hat.
Aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind Namen von etwa 1000 hingerichteten Täufern in Süddeutschland und der Schweiz überliefert (in etwa noch einmal so viele wurden im Norden, vor allem in den spanisch beherrschten Niederlanden getötet). Davon kamen etwa 85% in katholischen Gebieten ums Leben. Die Regierungen Tirols, Österreichs und Bayerns, die alle katholisch waren, gingen deutlich rigoroser gegen die Täufer vor und hatten weitaus mehr Hinrichtungen zu verantworten als die umgebenden protestantischen Herrschaften. Nur in katholischen Territorien wurden Täufer verbrannt, vor allem die männlichen Anführer.
Diese Relationen werden leider längst nicht immer beachtet. In einem Faltblatt zu den Anabaptisten, das auch in litauischer Sprache erschien, hieß es aus der Feder des Mennoniten John H. Redekops, dass insg. 20–40.000 Täufer umgekommen seien – das ist schlicht eine Null zu viel. Außerdem behauptet der Autor, es seien wahrscheinlich mehr Taufgesinnte durch Protestanten als durch Katholiken getötet worden. Dies ist jedoch mit nichts zu belegen und verdreht die historischen Tatsachen.
Abgesehen von Bern erwies sich kein reformiertes Territorium als besonders eifrig in der Verfolgung. Es ist aber immer noch Johannes Calvin, der sich schwere Vorwürfe gefallen lassen muss. Die Hinrichtung des Spaniers Michael Servetus (Miguel Serveto) im Jahr 1553 wird vor allem ihm angelastet. Servetus hatte geradezu verbissen die Dreieinigkeit Gottes geleugnet. Im August 1553 wurde der von der Inquisition schon Verurteilte und sich unter falschem Namen Versteckende in Genf erkannt und verhaftet. In den folgenden Monaten des Prozesses nahm Calvin als theologischer Experte teil, aber er spielte gewiss nicht die erste Geige. Das Todesurteil fällte der Rat der Stadt, der damals mehrheitlich nicht auf Calvins Seite stand. Dennoch kann man immer wieder lesen, Calvin habe die Vernichtung von zahlreichen Menschen, vor allem der Wiedertäufer, inspiriert.
Wie immer dem auch sei – im reformierten Genf wurde 1903 ein (wenn auch kleiner) Gedenkstein für Servetus aufgestellt. Eine 1908 gefertigte, etwa mannshohe Skulptur des sitzenden Servetus („Servetus im Gefängnis“ von Clotilde Roch) konnte vor gut einhundert Jahren nur in Annemasse (im franz. Savoyen) errichtet werden. Aber seit 2011, dem 500. Geburtsjahr des Spaniers, befindet sich eine Kopie des Werkes auch in Genf, neben dem Gedenkstein unweit des Hinrichtungsortes.
„Das Tier steckt in der Falle“
Viele Kirchen haben Dreck am Stecken. Die römisch-katholische tut sich aber deutlich schwieriger mit der Bewältigung der eigenen Vergangenheit und ihren wenig ruhmreichen Seiten als die evangelischen. Und dies, obwohl auf ihr Konto eine sehr große Zahl von Opfern geht. Öffentlich sichtbare Gedenkstellen für durch die Hand Roms Hingerichtete, welcher Art auch immer, gibt es meines Wissens nach nicht.
Genauer muss man sagen: Es gibt sie nicht mit dem Segen oder der Zustimmung des Vatikans. Im Jahr 1600 wurde Giordano Bruno wegen diverser Irrlehren in Rom verbrannt. Seit 1889 dominiert ein Denkmal Brunos auf mächtigem Sockel den Campo de Fiori in der Stadt. Die Kirche hielt jedoch gar nichts von diesem Gedenken und lehnte damals den Beschluss der Stadt Rom vehement ab. In einer Enzyklika zum Freimaurertum aus dem 1890 bezeichnete Papst Leo XIII die Statue von Bruno als eine Beleidigung des Papsttums.
Natürlich geschah auch im Vatikan ein Umdenken, aber eben nur in Teilen. Denn das Kirchenverständnis Roms ist ein deutlich anderes als das der Evangelischen. Die Kirche ist der fortlebende Christus. Wie dieser eine Doppelnatur hat, Göttliches und Menschliches in sich vereint, so ist auch die sichtbare Kirche göttlich und menschlich zugleich. Eine klare biblische Begründung für dies organologisch-mystischen Leib-Christ-Verständnis gibt es jedoch nicht. Natürlich ist Christus mit seiner Kirche auf vielerlei Weise verbunden. Die biblischen Bilder wie das Haupt und der Leib, Bräutigam und Braut, Eckstein und Gebäude, Weinstock und Reben usw. drücken ja alle eine enge Beziehung aus. Doch alle Bilder beinhalten genauso einen klaren Unterschied zwischen Christus und seiner Kirche: der Leib ist nicht das Haupt, die Braut nicht der Bräutigam, die Reben sind nicht der Weinstock. Gerade diese Unterscheidung wird von der römisch-katholischen Lehre verwischt.
Für die Geschichte der Kirche bedeutet dies, dass die Kirche als Kirche in ihrer Lehre und ihrer Moral nicht irren kann. Deutlich wird dies an der Betrachtung der Bartholomäusnacht vom 24. auf den 25. August 1572 in Paris – das wohl größte Massaker der Geschichte an Protestanten. (Ein guter Überblick der Abläufe ist hier zu finden.)
Frankreich war Mitte des 16. Jahrhunderts konfessionell gespalten. Einer katholischen Mehrheit stand die Minderheit der protestantischen Hugenotten gegenüber. Die Könige Franz I und Heinrich II versuchten die Evangelischen klein zu halten und griff zu Unterdrückungsmaßnahmen. Es kam zu ersten gewalttätigen Konflikten und Massakern wie 1562 in Vassy. Bis 1570 allein gab es drei Religionskriege (insg. sollte man acht zählen).
Auf Betreiben von gemäßigten Katholiken hin war es 1570 zu einem Frieden gekommen, der den Protestanten recht weit entgegenkam. Krönen sollte diese Politik eine politische Fürstenhochzeit: Vereinbart wurde die Heirat zwischen Margarethe von Valois, Schwester des Königs Karl, und dem Protestanten Heinrich von Navarra. Der junge Heinrich wurde damit zu einem Thronkandidaten, da der französische König und die anderen Brüder Margarethes kinderlos blieben. Die Vermählung wurde am 18. August 1572 in der Kathedrale Notre Dame in Paris vollzogen. Es folgte eine standesgemäße, sich über mehrere Tage hinziehende Feier mit einem fürstlichen Bankett, viel Musik, Tanz, Tierhatzen und Schauspiel, der auch an die Tausend protestantische Adelige als Gäste im Gefolge Heinrichs beiwohnten.
Doch die große Hochzeit der Versöhnung sollte sich bald in die „Bluthochzeit“ verwandeln. Den Anfang macht am 22. August ein Attentat auf Admiral Gaspard de Coligny. Der politische Kopf der Hugenotten war natürlich auch unter den Gästen. Eine Gewehrkugel verfehlt jedoch ihr Ziel, so dass der Admiral nur verletzt wurde. Es kam nun das Gerücht auf, die protestantischen Gäste würden einen Anschlag auf den König oder sogar Staatsstreich planen. Der wankelmütige Karl, eigentlich ein Freund Colignys, glaubte schließlich selbst an den Abfall und Verrat der Hugenotten. Am 24. wurde Coligny in seinem Krankenquartier erstochen, auf die Straße geschmissen und die Leiche dort weiter verstümmelt.
Was nun begann, wird sich historisch wohl nie völlig aufklären lassen. War es nur ein spontaner Haß auf die Hugenotten, der sich nur unter dem Pariser Volk entlud? Oder war alles genau geplant und organisiert? Oder beides? Welche Rolle spielte die Königsmutter Katharina von Medici? Wie auch immer – die Extremisten sahen ihr Stunde gekommen. Der König ließ alle Stadttore schließen und die Soldaten alarmieren. Das Abschlachten unter den Protestanten in der Stadt begann. Seinen als Katholiken durch ein weißes Kreuz am Hut gekennzeichneten Offizieren rief der Herzig von Guise zu: „Der Tag der Vergeltung ist gekommen! Auf Befehl des Königs soll das Gezücht der Gotteslästerer vernichtet werden: Das Tier steckt in der Falle… Laßt es nicht entkommen!“
In der Nacht vom 24. auf den 25. August, den Tag des Hl. Bartholomäus, versank die Stadt nun in einen Blutrausch. Die ahnungslosen Protestanten, die sich immer auf ihre Loyalität zum König verlassen hatten und meist unbewaffnet waren, wurden erbarmungslos umgebracht, jeder Adelige in hugenottisch-schwarzer Kleidung niedergemetzelt. Die ganze Bevölkerung wurde von einem Blutrausch erfaßt und mordete, raubte, plünderte und warf die Leichen in die Seine. Umstritten ist, ob auch der aufgestachelte König selbst der Menge vom Palast aus zurief: „Bringt sie um! Bringt sie alle um!“ Erst nach Tagen ebbte das Massaker, das inzwischen auch auf die Provinz übergegriffen hat, ab. Am Ende sind rund 4.000 Tote in Paris und womöglich 30.000 auf dem Land zu verzeichnen.
Katharina von Medici war durch das Ausmaß des Mordens selbst überrascht, zeigte aber überhaupt keine Reue – schließlich hatte sie auch viel erreicht: Die hugenottische Elite war vernichtet, und Heinrich, ihr Schwiegersohn, der als ihr Gefangener das Gemetzel überlebt hatte, war nun ihre Geisel. Auch auf katholischer Seite zeigte man sich triumphierend. Der Kardinal von Lothringen zelebrierte am 8. September einen Dankgottesdienst für diesen Sieg über die Ketzer, und der gerade gewählte Papst Gregor XIII ließ einen Gedenkmünze prägen, auf deren einer Seite ein Engel mit Kreuz und Schwert Hugenotten niedermacht.
Den Ereignissen der Bartholomäusnacht widmete der italienische Künstler Giorgio Vasari drei Fresken, die bis heute in der Sala Regia, dem Königssaal, des Päpstlichen Palastes im Vatikan betrachtet werden können. In einer Szene wird im Vordergrund das Niedermetzeln der Hugenotten gezeigt. Im Bildhintergrund oben ist der aus dem Fenster geworfene nackte de Coligny zu sehen (der übrigens 1519, vor 500 Jahren, geboren wurde). Dass die Kirche dieses Massaker in irgendeiner Weise bedauert, wird in dem Raum und auch sonst nirgendwo deutlich; wie sie diese propagandistischen Fresken heute deutet, bleibt unklar.
Auf dem Weltjugendtreffen in Paris 1997, genau 425 Jahre nach der Bartholomäusnacht, distanzierte sich Johannes Paul II von dem Jubel seines Vorgängers Gregors über das Abschlachten der Häretiker. Der Papst sprach von einem „schmerzvollen“ oder „traurigen Massaker“. Vor den Teilnehmern aus 160 Ländern legte er eine Art von Schuldbekenntnis ab: „Christen haben Taten verübt, die das Evangelium verurteilt. Wenn ich die Vergangenheit ins Gedächtnis rufe, so deshalb, weil das Eingestehen des Versagens von gestern ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes ist, der uns dadurch unseren Glauben zu stärken hilft…“ Er gestand ein: „Christen tun Dinge, die das Evangelium verbietet“. Es gäbe „Schwächen der Vergangenheit“, und allgemein sprach er über Dialog, Vergebung und Versöhnung.
Es gäbe persönliche Sünden, erschreckendes Versagen und unverantwortliches Handeln der Glieder der Kirche und ihrer Repräsentanten – so wird von römisch-katholischer Seite immer eingestanden. Das sollte nicht kleingeredet werden. Aber wie schon bei Johannes Pauil II im Jahr 1997 so fehlt immer ein Wort davon, dass die Kirche als Institution damals versagt oder falsch geurteilt habe. Bis heute ist auch kein Wort der Selbstkritik zu den Darstellungen von Vasari im Vatikan zu hören. Der Raum ist Besuchern eher selten zugänglich, aber man stelle sich vor, Evangelische müssen in einem kirchlichen Gebäude ansehen, wie Christen ihrer Konfession abgeschlachtet werden. Wenn man die Fresken schon nicht zuhängen will, sollte man sie dann nicht öffentlich und ständig lesbar kommentieren? Aber genau das wird ja nicht passieren, weil nicht der Eindruck erweckt werden darf, die Kirche als solche hätte schwere Schuld auf sich geladen.
So wird die Öffentlichkeit in gewisser Weise getäuscht: Die Erklärungen der Päpste wie jüngst natürlich durch Franziskus erwecken den Eindruck „die Kirche“ stehe zu ihrer Schuld. Bei genauerem Hinsehen, zeigt sich aber immer, dass man ‘nur’ von den Gliedern der Kirche redet. Man stelle sich im Vergleich dazu vor, die Zürcher Kirche würde bis heute die Ertränkung der Täufer öffentlich in solch triumphierender Art wie bei Vasari darstellen und dann kommentieren: das gehört eben zu unserer Geschichte. Auch in der Strategie der Vergangenheitsbewältigung bleiben wichtiger Unterschiede zwischen den Konfessionen.