Die Saat ging auf
Zum Osterfest brachte „Der Spiegel“ wie gewohnt eine Titelgeschichte mit religiöser Thematik. „Wer glaubt denn sowas? – Warum selbst Christen keinen Gott mehr brauchen“ hieß es eher spöttisch auf dem Titelblatt. Doch der Beitrag ist weniger religionskritisch, als man zuerst vermutet. Christliche Glaubenslehren werden nicht direkt aufs Korn genommen. Der Artikel schildert vielmehr, wie sich Deutschland und andere westliche Länder immer weiter vom christlichen Erbe entfernt haben und weiter entfernen.
Die Titelgeschichte basiert auf Daten, die das vom „Spiegel“ beauftragte Institut Kantar Public in einer repräsentativen Umfrage gewonnen hat. Die Ergebnisse sind ernüchternd.
Christen ohne Glauben
Nur noch 28 Prozent der Deutschen sind Katholiken, 26 Prozent Protestanten, zusammen nur noch eine knappe Mehrheit der Gesamtbevölkerung. Auch an irgendeine Art von Gott glaubt heute nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen. Dabei befinden sich in der großen Gruppe außerhalb der (großen) Kirchen nicht nur Atheisten – nicht wenige Konfessionslose halten an „Glauben“ fest, und nicht zu vergessen sind die Muslime, die ganz überwiegend fester als die Christen in ihrer Religion verwurzelt sind. So kommt es, dass nur noch Dreiviertel der Katholiken und Zweidrittel der Protestanten an Gott glauben. Die Christen, die keinen Gott mehr brauchen, sind also gar keine Christen.
Nur noch 54 Prozent all derer, die noch irgendwie an Gott glauben, halten auch die Auferstehung Jesu für wahr. Gerade Zweidrittel der ‘Gläubigen’ halten an der Trinität fest. 55 Prozent glauben, dass Jesus Gott und Mensch war. In Jesus Christus sehen nur 57 Prozent der Protestanten und 63 Prozent der Katholiken Gottes Sohn.
Auf ein Leben nach dem Tod hofft lediglich bei den Katholiken noch eine knappe Mehrheit (53 Prozent). Bei den Protestanten sind es gar nur 41 Prozent. An die Existenz des Teufels glaubt nur noch ein Viertel der Bevölkerung. Nur jeder Siebte ist überzeugt, dass die Hölle als ein Ort der ewigen Verdammnis existiert.
Trotz all dieser Skepsis halten viele Deutsche dennoch an bestimmten übernatürlichen Glaubensinhalten fest. Das Magazin schreibt: „Zwei Drittel von ihnen zeigen sich überzeugt, dass es Wunder auf der Welt gibt, bei den Frauen sind es sogar drei Viertel, eine deutliche Diskrepanz zu den offenbar rationaleren Männern. Auffallend ist außerdem, dass die weitgehend gottlosen Ostdeutschen in dieser Hinsicht fast genauso viel Fantasie aufbringen wie ihre Landsleute im Westen. An die Existenz von Engeln glauben im deutschen Osten mehr Menschen als an Gott [40% in Gesamtdeutschland] –Wunder überall.“
Atheistische Geistliche
Der Artikel wird aufgelockert durch Expertenstimmen und vor allem die Beispiele von Pastorinnen, die ihren Glauben verloren haben. Eingangs wird dem Leser Gretta Vosper von West Hill United Church in der kanadischen Millionenstadt Toronto vorgestellt. Sie ist bekennende Atheistin. „Schon lange glaubt sie nicht mehr an Gott, und schließlich hat sie sich dafür entschieden, das auch deutlich auszusprechen.“
In ihrer Gemeinde wurde das Vaterunser durch selbst formulierte „Worte der Verpflichtung“ ersetzt. Der gesamte Gottesdienstverlauf wurde dem neuen (Nicht)Glauben angepasst: „Spricht jemand die Worte ‘In dieser bedürftigen Zeit…’, dann ergänzt die Gemeinde: ‘… sei Liebe im Überfluss da.’ Alles Biblische und Transzendente ist aus den Texten getilgt. Was ist daran noch christlich? Vosper muss nicht lange nachdenken, ehe sie antwortet: ‘Ich habe kein Problem damit, die Kirche aus dem Christentum herauszuführen.’ Alles wolle sie lieber sein, sagt sie, als bigott.“
Die United Church of Canada versuchte gegen Vosper vorzugehen, knickte am Ende aber ein und beließ die Atheistin auf ihrem Posten in der Kirche. Gar keine Probleme mit der Kirchenleitung bekam bisher Ella de Groot von der reformierten Gemeinde in Muri-Gümligen bei Bern in der Schweiz. Auch sie ist bekennende Ungläubige und predigt entsprechend. „Einen ernsthaften Versuch, sie als Pastorin abzulösen, gab es bisher nicht. Ihre Gottesdienste, die weiterhin so heißen, sind gut besucht.“
In der Analyse der Entkirchlichung und Entchristlichung bietet der Beitrag nicht allzu viel. Gerade die Fälle der beiden Pastorinnen zeigen aber nur zu deutlich, dass die Kirchen sich auch selbst die Soße eingebrockt haben. Die Schweizer reformierten Kirchen sind insofern ehrlich, als sie schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts jeden konfessionellen ‘Ballast’ über Bord geworfen haben. Im Ergebnis sind in Calvins Genf nur 8 Prozent der Bevölkerung Mitglied der reformierten Kirche.
Doch die große Mehrheit der protestantischen Kirchen gibt sich immer noch bekenntnistreu und verpflichtet das eigene geistliche Personal auf bestimmte und klar formulierte Glaubensinhalte. Was soll man von Kirchen erwarten, die für ihre eigenen Grundsätze kaum noch einstehen und sich um ihre offizielle Lehre nur noch wenig kümmern?
De Groots Gemeinde ist voll, und dies pragmatische Kriterium befriedigt sicher auch die dortigen Kirchenoberen. Hauptsache, die Leute kommen überhaupt noch. Da mag dann der Pfarrer Arianer (die Trinität leugnend) oder Pelagianer (die Erbsünde ablehnend), Humanist oder Esoteriker sein. Doch dieser nackte Pragmatismus wird den Niedergang sicher nicht aufhalten.
Wohlhabend und religiös
Die Verantwortung der Kirche kommt im „Spiegel“-Artikel also nur indirekt ins Spiel. Stärker werden globale soziale Trends in den Blick genommen. Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Universität im schweizerischen Lausanne, kommt mehrfach zu Wort. „Seit ungefähr zwei Jahrhunderten ist jede Generation weniger religiös als die vorherige.“ Hinzu komme die große Konkurrenz zur Religion, so dass der existentielle Halt in einer Religionsgemeinschaft längst nicht mehr so notwendig wie früher ist. Treffend heißt es: „Wer seine Therapie von der Kasse bezahlt bekommt, braucht keinen Seelsorger mehr.“
Es wird durchaus gesehen, dass weltweit die Tendenz jedoch in die entgegengesetzte Richtung geht: „Die Welt wird nicht säkularer, sondern immer religiöser.“ Der „Spiegel“ weiter: „Der entscheidende Faktor ist Stolz zufolge die demografische Entwicklung in ärmeren Ländern wie Nigeria oder Afghanistan. Eine hohe Geburtenrate in einem Umfeld, von dem wenig konkrete Lebenshilfe zu erwarten ist, führe wie von selbst zum Aufblühen von Religion. Unglaube ist also, soziologisch gesehen, das Ergebnis des zivilisatorischen Fortschritts.“
An dieser Stelle wird der Beitrag leider konfus und bleibt in Halbwahrheiten stecken. Es wird zu verstehen gegeben, dass die Armen in rückständigen Ländern noch viele Kinder bekommen und zivilisatorisch zurückhängen und dies allgemein den Zuwachs der weltweiten Religiosität erklärt. Nun stimmt es zwar, dass arme und rückständige Länder deutlich religiöser sind, doch den globalen Trend erklärt dies gerade nicht.
Es wird leider nicht darauf hingewiesen, dass die Entwicklung weg von Gott und den etablierten Kirchen einige westliche Länder betrifft. Aber eben längst nicht alle! Die USA sprengen dies Klischee (wohlhabend und immer noch sehr religiös), und Umfragen auf dem Balkan hätten ein ganz anderes Bild als in Deutschland oder der Schweiz ergeben.
Vor allem ist der Zusammenhang zwischen Wohlstandswachstum und Entkirchlichung keineswegs ein zwingender. Das Beispiel Südkoreas zeigt, dass beides durchaus parallel laufen kann: Das frühere Armenhaus Asiens hat sich zu einem der reichsten Länder der Welt gemausert, gleichzeitig wuchsen die christlichen Kirchen so stark, dass das Land bald als christlich – und nicht mehr buddhistisch – geprägt gelten kann.
Zivilisation und Wohlstand führen allgemein zu einem Geburtenrückgang, d.h. die Zahl der Kinder pro Frau stabilisiert sich bei zwei bis drei, denn diese überleben un meist auch. Eindeutig nimmt auch die religiöse Vielfalt tendenziell zu, da allgemein Freiheit und Demokratie immer noch auf dem Vormarsch sind.
Der „Spiegel“ unterschlägt, dass in Asien und auch Afrika der allgemeine Trend zu Wohlstands- und Freiheitswachstum geht – und dabei wachsen auch die Kirchen, manche Kirchen. Global sind die Geburtenraten schon deutlich zurückgegangen. Aber wie eingestanden wird die Welt dennoch religiöser. Mehr Zivilisation und mehr Wohlstand müssen also keineswegs zu weniger Religion und Kirche führen. In einigen Ländern ist dies der Fall, in anderen zeigt sich ein viel bunteres Bild (man denke an die südamerikanischen Staaten), in anderen gehen aktives Christentum und zivilisatorischer Fortschritt durchaus zusammen.
Die angesprochene „demografische Entwicklung“ wirkt nun aber tatsächlich in gewisser Weise. Die Atheisten bzw. Konfessionslosen bekommen im Schnitt einfach viel zu wenige Kinder, sie reproduzieren sich nicht selbst. Selbst ein Spötter wie Richard Dawkins hat dies durchaus erkannt. Dieser Trend ist eindeutig und wird Folgen haben. Er zeigt im Übrigen, dass das Verwerfen von Gott, Jenseits und Rettung wirklichkeitsfremd ist. Schon G.K. Chesterton hatte erkannt: Auf der Wirklichkeit lässt sich nicht ewig herumtrampeln, irgendwann setzt sie sich durch und schlägt gleichsam zurück.
Virus im System
Die Wirklichkeit braucht nur manchmal eine Weile, bis sie zum Zuge kommt. (Das kommunistische System der Planwirtschaft hat es in einigen Ländern immerhin auf siebzig Jahre gebracht – dann bescherte die Realität dem Unsinn den Garaus.) Der „Spiegel“ spricht es natürlich gar nicht an, aber ich glaube, dass in Deutschland und anderen Ländern nun geerntet wird, was man an den theologischen Ausbildungsstätten der Pfarrer vor fünfzig, einhundert oder einhundertfünfzig Jahren gesät hat. Damals ließ man den religions- und kirchenkritischen, bibelverachtenden und gar nicht so selten atheistischen Virus ins System. Die Saat ging auf und zeigt nun, ein paar Generationen später, ihre Blüten, die man seltsamerweise erstaunt betrachtet. Ideen haben eben Folgen.
Auch in Litauen übernahmen lutherische und reformierte Kirchen vor über fünfundzwanzig Jahren das deutsche Modell einer universitären theologischen Ausbildung. Der Lehrstuhl in Klaipėda stand außerhalb der direkten Kontrolle der Kirchen. Dort gab es gute Dozenten, aber auch solche, die mit Glauben nichts oder wenig am Hut hatten. Selbst Atheisten. Doch von Kirchenleitern hörte ich durchaus auch: „Die dürfen das“; „die sind eben so“ – liberaler, kritischer und sich kaum um die Kirchen scherend. Der Lehrstuhl war nur etwa zwanzig Jahre aktiv, und beide Kirchen haben sich von diesem kritischen Erbe weitgehend gelöst. Wohl gerade noch rechtzeitig.
Die litauischen evangelischen Kirchen werden also womöglich die Kurve bekommen. Aber in Deutschland zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die theologischen Fakultäten sind teilweise Jahrhunderte alt und denken gar nicht daran, ihre Privilegien aufzugeben. Viel gute Arbeit wird dort getan, doch es wird eben nicht an einer breiten Gegenbewegung zu dem Trend gearbeitet, den der „Spiegel“ wieder aufzeigte. Es werden nicht „klare Überzeugungen“ gelehrt wie es schon Alexis de Tocqueville Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von den Kirchen verlangte. Es wird sicher auch in Zukunft so sein, dass dem Zeitgeist hinterhergelaufen wird.
Die theologischen Fakultäten haben es vor allem geschafft, sich eine monopolistische Aura der Wissenschaftlichkeit und damit Unersetzlichkeit zu verschaffen. Und die wirkt. Immer noch viele Fromme und Pietisten, auch die Gebildeten unter ihnen, lassen kaum etwas auf das Studium der Theologie an den Unis kommen. Das steht für sie immer noch für Gründlichkeit und Qualität. Irgendwie. Ich selber musste mir von einem bekannten evangelikalen Leiter vor einigen Jahren vorhalten lassen, ich hätte ja nicht (wie angegeben) „Theologie studiert“, schließlich besuchte ich ja ‘nur’ das Theologische Seminar Rheinland (früher Neues Leben Seminar). Wissenschaft – die werde ja nur an den Uni betrieben.
Genau diese Denke der immer noch Frömmeren wird auch den schrumpfenden Großkirchen den Rest geben. Denn Hoffnung für diese gäbe es, wenn endlich auch die Ordination und Ausbildung liberalisiert, d.h. wenn das Monopol der universitären Pastorenausbildung aufgebrochen werden würde. Aber genau das wird ja gewiss nicht geschehen. In der Zeit knapper Kassen (und wie der Beitrag schreibt werden sie in einigen Jahren wirklich richtig knapp werden) ist nicht zu erwarten, dass der kirchliche bürokratische Apparat sich öffnet, im Gegenteil. Alte Privilegien werden mit Klauen und Zähnen verteidigt werden. Frischer Wind von außen ist nicht erwünscht, echte Konkurrenz gefährlich. Sie würde ja offen legen, dass die verteuerte Uni-Ausbildung nicht die Resultate liefert, die den Kirchen wirklich helfen könnte. Wenn denn die theologischen Fakultäten so qualitativ arbeiten, warum muss dann Konkurrenz eigentlich gefürchtet und ausgegrenzt werden?
Die Landeskirchen, aufgeschreckt durch Umfragen wie die im „Spiegel“, reißen das Ruder herum und besinnen sich wieder auf Bibel und Bekenntnis – wer glaubt denn sowas? Ich befürchte, dass da schon so manche Züge abgefahren sind. Litauen ringt mit ähnlichen Problemen wie Deutschland; wegen vieler Jahre Sowjetatheismus ist die Säkularisierung ebenfalls schon weit fortgeschritten. Das Ausmaß des Unglaubens ist unter einer noch recht dicken religiösen Außenhaut wohl ähnlich groß wie in Deutschland. Doch die Kirchen sind allesamt faktisch freikirchlich organisiert; es ist viel mehr Freiheit und Spielraum vorhanden, vor allem auch in der theologischen Ausbildung. Hemmende Monopolstellungen werden eher ab- als ausgebaut. So hat sich unsere Kirche vor ein paar Jahren vom Zwang der universitären Ausbildung für alle geistlichen Amtsträger verabschiedet. Der Zukunft der Kirche wird es nicht schaden, im Gegenteil.