Mehr als „Fromme Wünsche“
Der Pietismus war im 17. und 18. Jahrhundert „neben dem angelsächsischen Puritanismus die bedeutendste religiöse Bewegung des Protestantismus seit der Reformation“, so Johannes Wallmann (Der Pietismus). Der Begriff leitet sich vom lat. pietas für Frömmigkeit oder Religiosität ab. Als einer der ersten Vordenker des Pietismus gilt der lutherische Pfarrer Johann Arndt, der 1621 in Celle starb. Sein vierbändiges Werk Vom wahren Christenthum, zwischen 1605 und 1610 in Frankfurt am Main herausgegeben, wurde bald zu einem Bestseller und Klassiker der Erbauungsliteratur.
Die evangelische Erneuerungsbewegung breitete sich auch unter den Reformierten wie in den Niederlanden (Wilhelm a Brakel, Jodocus van Lodenstein) und in Deutschland aus (Theodor Undereyck, F. A. Lampe und der bis heute bekannte Liederdichter Joachim Neander). Den unbestritten größten Einfluß hatte aber mit Philipp Jakob Spener (1635–1705) ein weiterer lutherischer Pfarrer.
Spener stammte aus dem Elsaß. Schon mit achtzehn Jahren erwarb er an der Universität Straßburg den Magister in Philosophie. Neben Geschichte studierte er auch noch Theologie, erlangte 1664 den Doktortitel in diesem Fach. Über zwei Jahrzehnte, von 1666 bis 1686, wirkte Spener als lutherischer Pastor in Frankfurt. Dort scharte er ab 1670 in den „frommen Versammlungen“ (lat. collegia pietatis) Kollegen und andere Gleichgesinnte um sich – eine Art Haus- oder Bibelgesprächskreis. Obwohl das collegium Speners nicht sehr lange Bestand hatte und der Pietismus in Frankfurt selbst nicht tiefere Wurzeln schlagen konnte, wurden die neuen Bibel- und Erbauungsstunden in anderen Teilen Deutschland (und selbst im fernen Finnland oder im Baltikum) fester Teil der evangelischen Kultur.
Spener wirkte vor allem durch seine Schriften. Ende des 17. Jahrhunderts war er der am meisten gelesene Autor deutschsprachiger protestantischer Literatur! 1675 erschien sein wichtigstes und bis heute bekanntestes Werk: Pia Desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche – die „Frommen Wünsche“, die Programmschrift des Pietismus.
„Das Verderben unserer evangelischen Kirche“
In einem ersten Teil beklagt Spener den Zustand der evangelischen Kirche seiner Zeit. Er spricht vom „geistlichen Elend unserer Kirche“. Neben den Verfolgungen „der wahren Lehre, vor allem von der römischen Kirche“, ist „die andere und vornehmste Ursache des Jammers unserer Kirche, dass sie innerlich fast durch und durch zerrüttet ist“.
Er kritisiert die Verdorbenheit der weltlichen Herrschaft. „Dass wir Prediger in unserm Stande so viel Reformation bedürfen wie sonst kein anderer Stand“, ist aber noch viel ernster zu nehmen. Es gäbe so manch einen Prediger, „dem alle Glaubensfrüchte fehlen“. Es mangelt vielen seiner Kollegen am Glauben selbst, und was ihnen als Glauben erscheint, ist oftmals nur „eine menschliche Einbildung“. Wie wollen sie andere heilen, wenn sie diese eigenen Wunden nicht sehen?
Spener geht aber auch mit den einfachen Menschen hart ins Gericht. „Man sehe doch das gewöhnliche Leben unserer sogenannten Lutherischen an“, die den Namen Luthers mit Unrecht tragen, weil sie „die Lehren des teuren Luthers von dem lebendigen Glauben nicht erkennen.“ Die „leidige Gewohnheit [also Traditionen] hat die Regeln unseres Christentum verdunkelt“.
Neben Trunksucht und ständigen Prozessiererei nennt Spener den Mangel an konkreter Nächstenliebe. Viele meinten auch schon damals, dass sie über den Besitz völlig frei verfügen können. Spener widerspricht und erinnert an das Beispiel der Gütergemeinschaft in der Gemeinde in Jerusalem: „So steht mir [dem Einzelnen] keineswegs frei, das Meinige für mich zu behalten wie und so lange ich will“. Leidet nämlich mein Nächster Not, „darf mich kein Bedenken zurückhalten [das Meinige] als ein gemeinschaftliches Gut hinzugeben“. Das weltliche Recht zwingt nicht zu solchen Taten der Barmherzigkeit, wohl aber „das göttliche Recht der Liebe“. Redet man nun aber so, wird dies als „fremde Lehre“ empfunden, obwohl es doch „eine notwendige Folge der christlichen Liebe“ ist. Leider geht auch die Mildtätigkeit der großzügigsten Menschen „fast niemals weiter als von dem Überfluß mitzuteilen“. Der Zehnte ist zwar kein Gesetz mehr, aber wir sollten bereitweillig noch mehr als den Zehnten im Alten Testament geben. Spener stellt allerdings ernüchtert fest, „wie fern wir von der Übung rechter ernster Bruderliebe“ sind.
Nicht wenige meinen außerdem, sie hätten schon genug getan, „wenn sie eben getauft wären, das Wort Gottes in der Kirche hören…, zum heiligen Abendmahl gingen, mag nun das Herz dabei sein oder nicht, mögen Früchte folgen oder nicht.“ Spener bemängelt gerade die Abendmahlspraxis. Das Herrenmahl ist doch eigentlich ein „kräftiges Mittel des evangelischen Trostes“. Allerdings „trösten sich damit so viele, bei denen sich nicht das Geringste von dem wahren Glaubens findet.“ Sie verharren in ihrer „Unbußfertigkeit“, sind mit dem Herzen nicht dabei und kümmern sich nicht darum, „ob sie den alten Adam noch auf seinen Thron lassen“, d.h. gegen die Sünde ankämpfen. Spener diagnostiziert einen Rückfall in katholische Praxis und kommt zu dem Schluß: Es ist „der Menschen Bosheit und Teufels List, der die von Gott verordneten Mittel zur Seligkeit den Menschen zur Veranlassung größerer Sicherheit und desto schwerer Verdammnis zu machen sucht.“
Den „höchst verderbten, gefährlichen und fast verzweifelten Zustand unserer Kirche“ kann Spener nur „bitterlich beweinen“. Dies „Verderben unserer evangelischen Kirche“ sei auch die Hauptursache, warum sich viele „aus den irrgläubigen Gemeinden“, vor allem der Kirche Roms, sich weigern den Evangelischen anzuschließen, und das, „obwohl sie den in ihrer Kirche herrschenden Greuel so deutlich erkennen“. Es genügt eben nicht eine intakt Lehre, wenn das Leben der Menschen zerrüttet und krank ist.
„Brüderliche Unterredungen“
In der zweiten Hälfte des Buches schlägt Spener sechs konkrete Reformmaßnahmen vor. Die erste und wichtigste lautet: Man muss „das Wort Gottes reichlicher unter uns bringen“.
„Wir wissen, dass wir von Natur aus nichts Gutes an uns haben“, so Spener. Das Gute muss „von Gott ins uns gewirkt werden, und dazu ist das Wort Gottes das kräftigste Mittel.“ Deshalb gilt: „Je reichlicher also das Wort Gottes unter uns wohnen wird, je mehr werden wir Glauben und dessen Früchte entspringen sehen.“
Die Predigten „wie sie gewöhnlich gehalten werden“, verwirft er nicht. „Aber ich finde, dass dieses nicht genug sei“. Die ganze Heilige Schrift soll der Gemeinde bekannt sein, was aber durch das Predigen allein kaum zu leisten ist. Über die Jahre hinweg kann über viele Bibeltexte gepredigt werden, doch „das Übrige hört die Gemeinde gar nicht oder [in den Predigten] nur einzelne Sprüche daraus“. Vor allem der doch so wichtige Zusammenhang der biblischen Bücher und der Heilsgeschichte bleibt unbekannt. Auch das an sich so lobenswerte Lesen zu Hause genügt allein nicht.
Spener fordert öffentliche Vorlesungen von längeren Bibelabschnitten in der Gemeinde, da viele damals noch nicht oder nur schlecht lesen konnten und keine Bibel besaßen. Seine Hauptforderung war, dass „neben unseren gewöhnlichen Predigten auch andere Versammlungen gehalten würden“, wo „nicht einer allein aufträte, um zu lehren…, sondern auch andere, die mit Gaben und Erkenntnis begnadigt sind“. Ohne „Unordnung und Zanken“ sollen auch sie „ihre gottseligen Gedanken über die vorgelegte Materie [ein bestimmter Bibeltext oder ein biblisches Thema] vortragen, die übrigen mögen aber darüber urteilen“.
An diesen Versammlungen können „mehrere Prediger“ oder „unter der Leitung des Predigers mehrere andere Gemeindeglieder“ teilnehmen, die von Gott mit Erkenntnis begabt oder darin zunehmen wollen. Sie sollen zusammenkommen, „sich die Heilige Schrift vornehmen, daraus laut lesen und sich über jede Stelle dieser brüderlich unterreden“. Wer das eine oder andere nicht versteht, könne „seine Zweifel vorbringen“. Spener verbindet also den Grundsatz der freien Äußerung mit gemeinsamer kritischer Untersuchung der vorgetragenen Gedanken.
Solche Bibelstunden haben auch den Vorteil, dass die Prediger sich mit ihren Gemeindemitgliedern besser vertraut machen, ihren Fortschritt und auch ihre Schwächen besser kennenlernen. Vor allem wird zwischen allen Teilnehmern Vertrauen gestiftet. Außerdem stellen Gesprächsgruppen dieser Art einen Raum zur Verfügung, in dem Fragen an die Bibel, die meist nicht so ernst sind, dass man dafür gleich den Pfarrer aufsuchen mag, vorbringen kann. Schließlich können die Gemeindemitglieder auf diese Weise „für sich selbst wachsen“ und „tüchtiger werden“, um in der „Hauskirche“, also bei Andachten und Katechese in der Familie und mit den Mitarbeitern im familiären Betrieb oder Hof, „besser zu unterrichten“. Die Bibelstunden sind in Speners Vision also ein Zwischenglied zwischen „öffentlicher Predigt“ und „Hausandacht“.
Spener fasst am Ende der ersten Forderung noch einmal zusammen: Die „fleißige Beschäftigung mit Gottes Wort“, konkret die gemeinsamen „Unterredungen“, nicht nur das Anhören von Predigten, seien das „vorzüglichste Mittel“, etwas in der Kirche zu bessern. Denn „das Wort Gottes bleibt der Same, aus dem alles Gute bei uns herkommen muss; und gelingt es uns, die Leute eifrig zu machen, dass sie darin fleißig forschen und in diesem Buche des Lebens ihre Freude suchen, so wird das geistliche Leben bei ihnen herrlich gestärkt und aus ihnen ganz andere Leute werden. Was hat doch unser seliger Luther eifriger gesucht, als die Leute zum fleißigen Lesen der Schrift anzureizen.“
Der Lutheraner Spener stand fest in der Tradition seiner Konfession, grenzte sich z.B. – wie damals, im 17. Jahrhundert üblich – klar von der Sakramentstheologie der Reformierten ab. Dennoch zeigen sich in der Betonung des gemeinsamen Schriftstudium erstaunliche Parallelen zu Johannes Calvin. Möglicherweise liegt dies daran, dass Spener theologisch in Straßburg geprägt wurde – der Stadt, in der Reformator Martin Bucer viele Spuren hinterließ. In der elsässischen Stadt wirkte auch Calvin (1538–41) und lernte dort viel von seinem Mentor Bucer.
So fordert die Genfer Kirchenordnung von 1561 folgendes: „Um Reinheit und Eintracht der Lehre untereinander zu bewahren“, sollen alle Pfarrer „an einem bestimmten Wochentag zu einem gemeinsamen Schriftstudium zusammenkommen“. Rei um soll jeder einmal einen Bibelabschnitt auslegen, und die Pfarrer „mögen alles gemeinsam besprechen“. Auch diese sog. congregation war offen für interessierte Nichttheologen. Spener wie Calvin betonten also die Schriftauslegung in der Gruppe und die gemeinsame Diskussion über Bibeltexte.
„Eine besondere List des leidigen Teufels“
Der zweite Reformpunkt ist die „fleißige Übung des geistlichen Priestertums“. Wie auch Luther knüpft Spener an 1 Pt 2,5.9 (alle Gläubigen bilden die „heilige“ oder „königliche Priesterschaft“). Wie der Reformator betont er, „dass allen Christen insgesamt ohne Unterschied alle geistlichen Ämter zustehen“, denn „nicht nur die Prediger, sondern alle Christen sind von ihrem Erlöser zu Priestern gemacht, mit dem heiligen Geist gesalbt und zu geistlichen, priesterlichen Verrichtungen berufen“. Nur die „ordentliche und öffentliche Verrichtung“ des Dienstes an Wort und Sakrament ist Aufgabe der „dazu bestellten Diener“, der Pfarrer oder Pastoren.
Spener nennt Luthers „Schriften an die Böhmen“ und meint damit vor allem die lat. Schrift De instituendis ministris ecclesiae aus dem Jahr 1523. Tatsächlich räumte Luther mit dem römisch-katholischen Amtsverständnis in seinen frühen Schriften aus den Jahren 1520 bis 1523 radikal auf und betonte das Priestertum aller Gläubigen. Ein spezielles Priestertum leugnete er. Luther unterstrich, dass durch Glaube und Taufe alle Christen gesalbte Priester sind. „Alle Christen sein wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist unter ihn kein Unterscheid, denn allein des Amts wegen“, so der Reformator in An den christlichen Adel deutscher Nation (1520).
In De instituendis nimmt Luther kein Blatt vor den Mund. Es ist für ihn ein „weit verbreitetes und allerstärkstes Ärgernis“, „dass man damit angefangen hat, diejenigen, welche die Bischöfe geschoren [die Tonsur der Priester und Mönche, endgültig abgeschafft erst im 20 Jhdt.] und gesalbt haben, in menschlichem Irrtum ‘Priester’ zu nennen“. Dies sei ein „aufgeputzter Name“, mit dem „Satan betrügerisch dahergekommen“ ist. „Diesen Skandal wirst du nicht in den Griff bekommen, wenn du hier nicht mit geschlossenen Augen an allem vorbeigehst, was Brauch, Alter und Menge verlangen, und stattdessen mit offenen Ohren dich ganz an das Wort Gottes hältst“.
„Christus ist Priester, also sind die Christen Priester“, so Luther. Diejenigen, die die Sakramente und das Wort verwalten, „können oder dürfen nicht Priester genannt werden.“ Wird an dieser Praxis festgehalten, geschieht dies „zum großen Schaden der Kirche“.
Nur auf diesem Hintergrund sind auch Speners scharfe Worte zu verstehen. Er bezeichnet es als eine „besondere List des leidigen Teufels“, dass dieser „es im Papsttum dahin gebracht hat, dass alle solche geistlichen Ämter allein der Klerisei überwiesen wurden“. Nur diese haben sich auch noch in „hochmütiger Weise“ allein „Geistliche“ genannt – eine Bezeichnung, „die tatsächlich allen Christen gehört“. Schließlich sollen alle Christen „im Wort des Herrn fleißig forschen“, andere „unterrichten, vermahnen, strafen, trösten“. Nun wird jedoch so getan, „als wären dies lauter Dinge, die an dem Predigtamte allein hingen“. Spener dedauert, dass die sog. Laien auf diese Weise „träge gemacht wurden und so eine schreckliche Unwissenheit entstanden ist.“ Die „sogenannten Geistlichen“ tun nun, „was sie wollten, da ihnen niemand in die Karten sehen und die geringste Einrede tun darf“.
Spener kritisiert scharf das „angemaßte Monopol des geistlichen Standes“ in der Bibelauslegung und Verkündigung. Jeder Christ ist nämlich „verpflichtet“, „in dem Wort des Herrn emsig zu forschen“ und vor allem „seine Hausgenossen nach der Gnade, die ihm gegeben ist, zu lehren, zu strafen, zu ermahnen, an ihrer Bekehrung zu arbeiten, zu erbauen, ihr Leben zu beobachten, für alle zu beten und für ihre Seligkeit nach Möglichkeit zu sorgen.“ „Wo hingegen solche Lehre nicht bekannt und getrieben wird, entsteht alle Sicherheit und Trägheit, indem niemand denkt, dass ihn dergleichen angehe“ – wird doch Theologie und alle Lehre als Vorrecht der Pfarrer wahrgenommen.
Spener betont, dass aber gar kein Eingriff in die Pflichten des Predigers vorliegt, denn der ist allein sowieso viel zu schwach: „ein Mann ist nicht genug“ für alle Aufgabe der Lehre und Seelsorge (auch hier wiederholt hier mglw. Gedanken Bucers). Dies ist ja auch die positive Zielsetzung des zweiten Reformpunktes. Er ist die Antwort auf die Frage, wie das das Wort Gottes reichlicher unter die Menschen gebracht werden kann: Eben auch durch den Einsatz der sog. Laien, nicht nur der ordinierten Pfarrer.
Spener bedauert Lehre „nach Luthers Zeiten kaum mehr getrieben wurde“. Viele lutherische und reformierte Kirchen mutierten trotz allem zu Pastorenkirchen. So deuten auch heute selbst Lutheraner den sehr wichtigen 5. Artikel im Augsburger Bekenntnis in einem klerikalen Sinne. Dieser ist deshalb so wichtig, weil dort geschildert wird, auf welche Weise die in Art. 4 geschilderte Rechtfertigung durch den Glauben erworben werden kann, also wie der Glaube durch den Geist gewirkt wird.
Der Heilige Geist hat sich an das Wort gebunden und schafft Glauben durch dieses „Mittel”. Prof. Oswald Bayer aus Tübingen gibt nun zu bedenken: „Gegen den ersten Anschein – der Gebrauch des Wortes ‘Predigtamt’ [im deutschen Text des Bekenntnisses von 1530] scheint dies nahezulegen – ist hier nicht etwa nur das ordinationsgebunde Amt, das Pfarramt, gemeint; davon ist in großem Abstand erst im Artikel 14 die Rede… Artikel 5 spricht nicht speziell vom Pfarramt, sondern vom ‘ministerium… evangelii’ ganz grundsätzlich, d.h. vom Amt des Wortes, wie es jedem Getauften anvertraut ist.” (Martin Luthers Theologie)
Der Heilige Geist wirkt den Glauben „wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören“, so im Art. 5. Dieses Wecken kann überall dort geschehen, wo das Evangelium verkündigt oder weitergesagt wird – egal, von wem, seien es nun professionelle Prediger oder Laien. Der Art. 5 betont also die allgemeine Aufgabe der Kirche als ganzer. Alle Mitglieder der Kirche nehmen an diesem Predigtamt, an der Weitergabe des Wortes, teil; alles sollen „die Botschaft von der freien Gnade Gottes“ an „alles Volk“ ausrichten, so mit den Worten der Barmer theologischen Erklärung von 1934 (6. These).
„Und wenn er auch ein doppelter Doktor wäre“
Der dritte Punkt in Speners Reformkatalog unterstreicht, dass es nicht nur um Wissen, sondern die praktische „Ausübung“ des Glaubens geht. Es geht nicht nur um die rechte Lehre und den rechten Glauben, sondern auch um das entsprechende Handeln. Dies zeigt sich praktisch in der Bruder- und Nächstenliebe.
Im vierten Punkt behandelt Spener Religionsstreitigkeiten. Sie sind kein Selbstzweck, sondern zielen darauf, den Irrenden zur Wahrheit zu führen. „Der einzige Zweck des Disputierens an sich ist die Rettung der wahren Lehre vor den falschen Meinungen“. Dies soll in Liebe geschehen und von Fürbitte getragen sein. Auch wenn die Wahrheit unbedingt zu schützen gilt, ist eine Bekehrung höherwertig als ein intellektueller Sieg. Spener: „Denn eine intellektuelle Einsicht und das Überzeugtsein von einer Wahrheit ist bei weitem noch nicht der Glaube… Daraus wird klar, dass Disputieren nicht genug ist, weder um bei uns selbst die Wahrheit zu erhalten, noch um sie den noch Irrenden beizubringen. Sondern dazu ist heilige Liebe Gottes vonnöten.“
Anschließend geht Spener im fünften Punkt zu Predigern und ihrer Ausbildung über. Vom Predigtamt hinge Entscheidendes ab, denn „die Mängel, die sich an Predigern finden, schaden am meisten“. Daher sollen „nur solche Männer zum Predigtamt berufen werden, die dazu tüchtig wären“. Schon bei den Theologiestudenten müsse das übliche unchristliche Leben „abgeschafft und gebessert werden“. Es müsse ihnen „fleißig eingeschärft werden, dass nicht weniger an ihrem gottseligen Leben als an allem Fließ und Studieren gelegen sein soll“, ja das zweite ist ohne das erste „nichts wert“. In geistlichen Dingen müsse „alles auf die Ausübung des Glaubens und Lebens gerichtet werden“. Professoren sollen daher auf Leben wie Studium der Studenten achten.
Spener ist sich sicher, „dass ein zwar mit wenig Gaben gezierter Mensch, der aber Gott herzlich liebt, mit seinem geringen Talent und Wissen der Gemeinde Gottes mehr nützen wird, als ein eitler Welt-Narr, wenn er auch ein doppelter Doktor wäre und voller Kunst steckte, aber von Gott nicht gelehrt wäre.“ Universitäten sollen deshalb auch Zeugnisse „über ihr gottseliges Leben“ ausstellen. Schließlich „müssen die Studenten anfangen, das selbst zu tun, was sie dermaleinst anderen lehren sollen“.
Abschließend wendet sich Spener den Predigten selbst zu. Sie sollen darauf ausgerichtet sein „Glauben und dessen Früchte hervorzubringen“. Ihr Zweck darf nicht sein, „Ruhm der Gelehrsamkeit“ zu mehren oder rhteorische Fähigkeiten darzustellen. „Die Kanzel ist nicht der Ort, wo man seine Kunst mit Pracht sehen lässt“. Das Wort soll „einfältig, aber gewaltig“ gepredigt werden, um „die Leute selig zu machen“. Glaube soll geweckt und der „innere Mensch“ gestärkt werden. „Der Prediger solle sich überhaupt viel mehr nach seinen Zuhörern richten“.
„Was wir wünschen, ist nicht unmöglich“
Spener sah, anders als Luther, durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft. Wir „dürfen nicht daran zweifeln, dass Gott seiner Kirche auf Erden einen besseren Zustand versprochen habe“. Luther habe Rom zwar „einen merklichen Stoß“ gegeben, aber der „größere Fall“ dieser Kirche stehe noch aus. Luther schenkte „das helle Licht des Evangeliums neu“, weshalb wir nun wir nichts unterlassen dürfen, dass die Kirche weiter erneuert wird.
Gegen Ende des Werkes blickt Spener zurück auf die frühe Kirche und ihre Vision einer lebendigen Gegenkultur: „Es bezeugt die Kirchengeschichte, dass die erste christliche Kirche in solch seligem Stand gewesen ist, dass man die Christen insgesamt an ihrem gottseligen Leben erkannt und von anderen Leute unterschieden habe.“ „Der Zustand der christlichen Kirche damaliger Zeit“ hält uns gleichsam aber auch den Spiegel vor, entlarvt „unser kaltes und laues Wesen“.
Vor allem schöpft Spener aus dem Vorbild der ersten Christen Mut und die Gewissheit, „dass das, was wir wünschen, nicht unmöglich ist“. „Denn derselbe heilige Geist, der damals in den ersten Christen all solches gewirkt hat, ist auch uns von Gott geschenkt und noch eben kräftig und willig, das Werk der Heiligung in uns zu verrichten. Die einzige Ursache kann also nur sein, dass wir ihn nicht in uns wirken lassen, sondern seine Gnadenwirkungen selbst hindern.“
Spener war ein Intellektueller, der scharf kritisieren konnte, aber auch ein Prediger, der seine Kirche von Herzen liebte. Er entwarf eine Reformprogramm der Reinigung und Neubesinnung, das in vielem dem der Puritaner in England ähnelte. Hier wie dort war man überzeugt, dass „in die Theologie viel Fremdes, Unnützes und mehr nach Weltweisheit Schmeckendes eingeführt“ worden war. Wie kann es mit der evangelischen Kirche weitergehen? Auf Spener wird immer noch zu hören sein, denn die Herausforderungen sind im Grunde immer noch die gleichen.