„Ein neues System der Knechtschaft”
1848 wurde Europa von Revolutionen durchgeschüttelt. Wie schon 1789 brachen wieder zuerst in Frankreich Unruhen aus. Dort regierte seit 1830 der „Bürgerkönig“ Louis Philippe – so genannt, weil er dank des Bürgertums an die Macht gekommen war. Es herrschte also in Paris gar kein rückständiges Regime wie in Russland oder Österreich. Doch Louis Philippe näherte sich ausgerechnet diesen ‘reaktionären’ Staaten der „Heiligen Allianz“ an; diverse Skandale in Frankreich brachten das Fass zum Überlaufen, und so musste der König im Februar ins Exil weichen. Frankreich wurde wieder Republik.
Nur einige Tage vor Ausbruch der Februarrevolution war Das Manifest der kommunistischen Partei von Marx und Engels in London erschienen. Einige Monate noch wirkten in Frankreich Sozialisten, Liberale, Bürgerliche und Konservative zusammen. Doch Arbeiteraufstände, die blutig unterdrückt wurden, und Versuche, den Sozialismus in konkrete Politik umzusetzen, ließen die revolutionäre Einheitsfront zerbrechen.
Zu den Mitgliedern der Nationalversammlung während der Republik gehörte auch Alexis de Tocqueville (1805–1859), ein Adeliger aus der Normandie. Im Jahr 1849 amtierte er für einige Monate als Außenminister. Berühmt hatte Tocqueville ein umfangreiches zweibändiges Werk gemacht, das nach einer neunmonatigen Amerikareise 1831 entstanden war: De la démocratie en Amérique – Über die Demokratie in Amerika (1835/40).
Tocqueville sah in den USA in für Europa vorbildlicher Weise die Demokratie verwirklicht. Dennoch war er keineswegs naiv und sah genau die Schwächen dieser Gesellschafts- und Regierungsform. Aber der Weg zur modernen, freiheitlichen Demokratie ließe sich nicht mehr aufhalten; die damals noch recht schwachen USA werden zu einem Modell werden, so der Franzose weitsichtig. Vielen Politikwissenschaftlern gilt das Buch bis heute als bestes Buch über die Demokratie und über Amerika überhaupt.
In Europa bestand die Alternative zur freiheitlichen Demokratie in den Augen Tocquevilles im Sozialismus, der damals ein erstes Mal nach Durchsetzung drängte. Das Recht auf Arbeit, staatliche Arbeitsprojekte und Mindestlöhne sollten festgeschrieben werden. Am 12. September 1848 griff Tocqueville in die Debatte über ein konkretes Gesetz ein und wurde in seiner Rede bald grundsätzlich: Man stehe vor der Wahl zwischen Demokratie und Sozialismus. (Eine Übersetzung der Rede ins Englische gibt es hier.)
Demokratie oder Sozialismus
„Früher oder später“ müsse „die Frage des Sozialismus“ offen angesprochen, ja auch abschließend geklärt werden, so Tocqueville in seiner Rede zur Gesetzesvorlage. „Ist die Februarrevolution [von 1848] eine sozialistische Revolution oder ist sie es nicht?“
Tocqueville will zeigen, welche Kennzeichen allen sozialistischen Strömungen, von denen es damals ja zahlreiche gab, eigen sind. Alle „appellieren in extremer Weise an die materiellen Leidenschaften des Menschen“, sind also im Grunde materialistisch gesinnt. In Über die Demokratie in Amerika sieht Tocqueville die Gefahr des Materialismus ebenfalls für die Demokratie, weshalb in ihr „die Seelen auf den Himmel gerichtet“ sein müssen. Die „Liebe zum Wohlstand“ kennzeichnet auch die Demokratie, doch „unbegrenzter Wohlstand für alle” ist leider das einzige oberste Ziel im Sozialismus.
Ein zweites allgemeines Kennzeichen des Sozialismus ist nach Tocqueville ein „direkter oder indirekter Angriff auf das Privateigentum“: Die Sozialisten „verwandeln, verringern, behindern, begrenzen und formen es in etwas gänzlich Fremdes“.
Drittens sei allen damaligen sozialistischen Strömungen ein „tiefgründiger Widerstand gegenüber der persönlichen Freiheit und Verachtung gegenüber dem Verstand des Individuums“ eigen, ja Tocqueville sieht die Gefahr einer „vollständigen Verachtung des Individuums“. Unermüdlich strebe der Sozialismus danach, „auf alle möglichen Arten die persönliche Freiheit zu verstümmeln, zu beschneiden und zu unterdrücken“. Es wird behauptet, dass der Staat „Herr, Beschützer und Erzieher eines jeden Menschen“ sein müsse. Dies führe jedoch unweigerlich zu einem „neues System der Knechtschaft“.
Tocqueville leugnet ausdrücklich, dass der Sozialismus die Fortsetzung und Vollendung der Französischen Revolution von 1789 sei, was die Sozialisten behaupteten. Er sieht im Gegenteil eine überraschend große Nähe des Ancien Régime vor der Revolution zum Sozialismus. Im Frankreich der Bourbonen des 18. Jahrhunderts herrschte die Überzeugung, „dass letztlich nur der Staat die Weisheit besitzt und die Bürger schwach und so hilfsbedürftig sind, dass sie immer an der Hand geführt werden müssen, damit sie sich nicht selbst schaden. Das Ancien Régime hielt es für notwendig, die persönliche Freiheit zu behindern und zu unterdrücken; um Wohlstand zu sichern seit es nötig, die Industrie zu steuern und den freien Wettbewerb zu behindern”. All dies würden 1848 auch die Sozialisten glauben und fordern. Der Revolution von 1789 hatte hingegen das Ziel, so Tocqueville, dem Menschen seine Individualität, vor allem natürlich seine individuelle Freiheit, zurückzugegeben.
Tocqueville befürchtet eine „geschlossene Gesellschaft”, in der „der Staat für alles verantwortlich ist, in der das Individuum nichts zählt, wo die Gemeinschaft alle Macht, alles Leben vereinnahmt, wo das Ziel des Menschen nur noch in der materiellen Wohlfahrt besteht.” Eine solche Gesellschaft passe eher zu abgerichteten Tieren als zu freien und zivilisierten Menschen. In den USA dagegen hatte er ein Land gesehen, in dem die Individuen wirklich frei, völlig frei, und die Demokratie „ganz souverän“ ist; den amerikanischen Staatenbund bezeichnet er als die „einzige vollständig demokratische Republik, die die Welt je gesehen hat”.
Etwa in der Mitte der Rede fasst Tocqueville zusammen: „Demokratie und Sozialismus sind Konzepte, die nichts miteinander zu tun haben. Sie sind nicht nur unterschiedliche, sondern sich widersprechende Philosophien. Ist es mit der Demokratie vereinbar, die aufdringlichste, allumfassendste und restriktivste Regierung einzurichten – auch wenn sie durch allgemeine Wahlen entsteht und im Namen des Volkes spricht? Würde das nicht in Tyrannei in der Verkleidung einer legitimen Regierung enden…? Demokratie erweitert den Raum der persönlichen Unabhängigkeit; Sozialismus schränkt ihn ein. In der Demokratie steht der einzelne Mensch am höchsten; Sozialismus macht aus jedem Einzelnen einen verlängerten Arm, ein Werkzeug, eine Zahl. Demokratie und Sozialismus haben eines gemeinsam: die Gleichheit. Aber man beachte den Unterschied. Demokratie strebt Gleichheit in Freiheit an. Sozialismus will Gleichheit unter Zwang und Knechtschaft.”
Tocqueville hat gerade in den letzten Sätzen einen politischen Grundkonflikt der letzten beiden Jahrhunderte gut auf den Punkt gebracht. Die demokratische Auffassung fordert, dass alle Bürger gleich frei sein sollen; privilegierte Klassen und an sich unfreiere Bürger darf es nicht geben. Der Sozialismus strebt jedoch eine andere Gleichheit an: die der materiellen Lebensbedingungen. Diese kann aber nur durch staatliche Zwangsmaßnahmen erreicht werden, was jedoch im Konflikt zur Freiheit des Einzelnen steht.
Die Februarrevolution dürfe daher keine „soziale” sein, „und wir müssen auch den Mut haben dies zu sagen”, ja dies müsse „laut verkündet werden” – so wie er dies nun in der Rede tut. Er warnt davor, sich auf einen falschen Weg zu begeben, der unvermeidlich zu einem falschen Ziel führen wird; am Tag der Rede, so Tocqueville, ginge es im Parlament genau um diese ersten Schritte in die ganz falsche Richtung. Fast einhundert Jahre später hat Friedrich August von Hayek in The Road to Serfdom (1944; Der Weg zur Knechtschaft) an Tocquevilles Warnung angeknüpft und manche Gedanken des Franzosen weiter ausgeführt.
„Die Februarrepublik muss demokratisch und darf nicht sozialistisch sein”, fordert Tocqueville. Sie solle die „letzte Revolution” sein und die Revolution von 1789 vollenden. Diese stand „für die Idee, dass es in der Sozialordnung keine Klassen geben dürfe. Sie lehnte die Aufteilung der Bürger in Eigentumsbesitzer und Proletarier ab.”
Die Aufgabe des Staates ist es, den Bürgern Freiheit zu geben und zu sichern. Dennoch plädiert Tocqueville nicht für den sog. Nachtwächterstaat, der keinerlei soziale Aufgaben mehr übernimmt. Er sieht durchaus einen Raum für „Wohltätigkeit in der Politik“. Aber dies müssen einzig Hilfe in echter, existenzieller Not, also Bewahrung vor dem Elend sein – wenn der Einzelne keinerlei Möglichkeiten mehr hat, sich selbst aus dieser Not zu befreien. Diese Verpflichtung gegenüber den Armen sei aber kein Sozialismus, sondern christliche Barmherzigkeit, angewandt auf die Politik. Gegen echte Nothilfe durch den Staat hatten auch Liberale wie Hayek nie etwas einzuwenden. Mit der Gleichmacherei des Sozialismus hat diese so gut wie nichts zu tun.
Tocqueville lehnt Anspruchsrechte an den Staat ab. Dieser solle auch nicht die persönliche Vorsorge und Vorsicht ersetzen. Der Staat dürfe sich außerdem nicht in die Industrie einmischen und ihr seine Regeln aufdrücken. Er grenzt sich damit klar von dem ab, was wir heute Paternalismus nennen: die Individuen dürfen nicht tyrannisiert werden; auch nicht, um sie vor sich selbst zu schützen. „Die Februarrevolution muss christlich und demokratisch sein, aber sie darf in keinen Fall sozialistisch sein“, lautet Tocquevilles Fazit.
Tocquevilles Warnungen zum Trotz haben die späteren Sozialdemokraten fleißig an der Quadratur des Kreises gearbeitet. Im Godesberger Programm (1959) der SPD heißt es: „Wir widerstehen jeder Diktatur, jeder Art totalitärer und autoritärer Herrschaft; denn diese mißachten die Würde des Menschen, vernichten seine Freiheit und zerstören das Recht. Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt. Zu Unrecht berufen sich die Kommunisten auf sozialistische Traditionen. In Wirklichkeit haben sie das sozialistische Gedankengut verfälscht. Die Sozialisten wollen Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen, während die Kommunisten die Zerrissenheit der Gesellschaft ausnutzen, um die Diktatur ihrer Partei zu errichten.“
Die Abgrenzung von kommunistischer Diktatur ist löblich. Allerdings bleibt der Grundkonflikt bestehen. Wenn Gleichheit der (materiellen) Lebensbedingungen durch Wahlen und parlamentarische Mehrheiten umgesetzt werden soll, dann ist dies zwar nicht die völlig willkürliche Gewalt einer einzigen Partei und einer Clique an ihrer Spitze; dennoch geht die Freiheit Einzelner unter die Räder. Was ist z.B. mit denen, die nicht wollen, dass solch ein Sozialismus – und sei es auf demokratische Weise – verwirklicht wird? Auch die Mehrheit kann schließlich zum Feind der Freiheit werden – und ist heute wohl ihr Hauptfeind. Genau dies sah Tocqueville schon voraus.
Was eine sozialistische Gleichmacherei heute bedeutet, kann bei Christian Felber in seiner Gemeinwohl-Ökonomie nachgelesen werden. Der Österreicher fordert eine Demokratisierung der Wirtschaft. Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen erinnern jedoch an ein Rätesystem. Vor allem verbirgt sich hinter der nett klingenden Demokratie ein massiver Eingriff in privates Eigentum. Was ist aber Freiheit wert, wenn mir mein Eigentum geraubt wird? Auch hier wirkte Tocqueville wie ein Prophet.
Tocquevilles berühmte Sätze über die unterschiedlichen Gleichheitsvorstellungen in Demokratie und Sozialismus („Democracy aims at equality in liberty. Socialism desires equality in constraint and in servitute.“) gingen in den Titel einer Tageskonferenz des Acton Institutes ein: „Reclaiming the West: Liberty in Equality or Constraint“. Am 29. November werden in München mehrere Redner wie auch der Baptist John D. Wilsey zum Thema Freiheit sprechen. Einen Vortrag wird übrigens auch der Ökonom Douglas Puffert halten, der nun an der LCC International University in Klaipeda, Litauen, unterrichtet.