Die Preisgabe der Theologie

Die Preisgabe der Theologie

Vor einem guten Monat sprach Tobias Faix auf der Bundesratstagung der Baptisten in einem Vortrag zur Frage „Warum ist Spiritualität in und Kirche out?“ Der Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel begrüßte eingangs, dass der Bund sich diesem „sehr, sehr spannenden Thema“ zu widmen wagte und wollte die „schwierige Frage“ beantworten, wenn auch nicht vollständig.

Die fast einstündige Präsentation wurde hier und da von Applaus unterbrochen und allgemein wohl positiv aufgenommen, hat aber auch auf der Tagung selbst und im Internet zu Kontroversen geführt. Die Bemerkungen mancher Kritiker möchte ich vor allem um drei Aspekte ergänzen: Ich halte die Analyse und Gesamtbewertung unserer Zeit für unzureichend, weil zu unhistorisch und überzeichnend; außerdem kann ich im gesamten Vortrag kein einziges theologisches Argument erkennen; schließlich kommt Gott nur ganz am Rande vor.

Der große Sturm?  

Die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahre seien die „Grundvoraussetzung“ für alle weiter im Vortrag entwickelten Gedanken. Das gestiegene Interesse für Spiritualität ist der „Megatrend“; es sei zu fragen, was das für Christen und Gemeinden bedeutet. „Wir leben in ganz großen Umbrüchen“, so Faix, wozu er eigentlich gar nicht mehr viel sagen will, man kenne ja die Stichworte wie „Globalisierung“, „Digitalisierung“ und „Singularität“, gemeint ist der neuzeitliche Individualismus.

Wir leben „in soziokulturellen Umbrüchen von ganz großer Tragweite“. Faix stellt außerdem einen „großen Traditionsabbruch“ fest: Der überkommende Glaube verändert sich „auf ganz dramatische Weise“. Was lange prägend war, wird nun in Frage gestellt. Stichwort „Paradigmenwechsel“. Mal ist es „vieles“, das sich verändert, dann „sozusagen alles im Leben“. Das mehrfach gebrauchte Bild ist das eines „großen Sturms, der über die Welt geht“ und diese tatsächlich „in ihren Strukturen verändert“.

Der Sturm steht in Zusammenhang mit dem Bild des Flusses und der Brücke. Durch die großen Umbrüche, den Sturm, hat sich der Fluss in seinem Lauf verändert; die alte Brücke, die den Fluss bisher überquerte, ist stehen geblieben und überquert den Fluss nicht mehr. Das Bild gibt die Zeit, in der wir leben, wieder: „Der gesellschaftliche Sturm… verändert die Realität so sehr, dass die Antworten, die wir [Christen] auf das Leben geben [d.h. die Brücke], nicht mehr ans Ziel führen.“ Wir haben über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg bewährte Antworten im Glauben und in den Kirchen gegeben, und die haben immer Menschen mit ihren Problemen – in Flüssen symbolisiert – geholfen. „Die Menschen konnten über diese Brücken gehen, und dann war ihr Problem gelöst.“ Nun aber merken wir: „Die Brücken stehen, aber die Fragen der Menschen sind ganz andere. Warum? Weil die Welt sich so sehr verändert.“

Faix skizziert diese Grundlagen nur. Seine These ist, dass wir einen solch großen und fundamentalen Wandel durchmachen, dass die alten und lange bewährten Antworten nicht mehr taugen bzw. den meisten Menschen nicht mehr helfen. Wir müssen daher, so gegen Ende, an unserer Sprache, aber auch am Inhalt der christlichen Botschaft selbst arbeiten – ganz neue Brücken bauen.

Hat er Recht? Nur in Teilen, gewissermaßen an der Oberfläche. Es ist sicher richtig, dass wir heute gesellschaftliche Umbrüche erleben. Wer würde das leugnen? An dieser für die meisten intuitiven Einsicht knüpft Faix ja gerade an. Aber ich glaube, dass er das Ausmaß und die historische Tragweite der Veränderung überschätzt und ihre Bedeutung falsch einordnet.

Traditionsabbrüche hat es in den letzten Jahrtausende schon zahlreiche gegeben, manche waren langsamer, manche wahrlich abrupt, und die meisten waren wohl auf Krieg und Gewalt zurückzuführen.

Einen Abbruch gewaltigen Ausmaßes gab es in manchen Ländern nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches. Als Rom 410 von den Westgoten geplündert wurde, war das ein unbegreiflicher Schock für die Römer, hatte doch mehr als ein halbes Jahrtausend lang kein Eroberer seinen Fuß in die Stadt gesetzt. Für die Briten im 5. Jahrhundert veränderte sich nach dem plötzlichen Abzug der Römer wirklich fast ‘alles’;  für die Heiden im Römischen Reich war innerhalb von zwei, drei Generationen nach der Legalisierung des Christentums im 4. Jahrhundert ‘alles’ anders als zuvor; der Mongolensturm im hohen Mittelalter wirbelte ‘alles’ in Osteuropa durcheinander; schreckliche Folgen hatte die spanische Eroberung für fast alle indianischen Völker Mittel- und Südamerikas im 16. Jahrhundert.

Manchmal waren es Technologien wie der Buchdruck, der ab etwa 1500 die Welt in Europa radikal veränderte und die Reformation erst möglich machte. Ab 1800 wälzte die Industrialisierung das Leben vieler um – schon das 19. Jahrhundert war eine Epoche der „ganz großen Umbrüche“. Im 20. Jahrhundert stellten die Kommunisten fast die Hälfte Europas auf den Kopf und rissen vieles Althergebrachte radikal aus – Stalins äußerst brutale Zwangskollektivierung machte aus der Sowjetunion „soziokulturell“ ein anderes Land.

Die Geschichte ist eine große Gemengelage aus Umbrüchen und fortgeführter Tradition.   Es gab schon immer viele Stürme und viel Dramatik, manchmal sehr viel Dramatik. Schon Heraklit (um 500 v. Chr.) wusste: „alles fließt“. Gewiss, der technologische Wandel beschleunigt manche Prozesse und lässt uns innerhalb einer Generation Umwälzungen erfahren, die früher länger dauerten. Und dennoch: „soziokulturelle Umbrüche von ganz großer Tragweite“ hatten wir in der Geschichte schon viele. Der gegenwärtige Wandel ist zwar zugegebenermaßen recht zügig, aber historisch gesehen in den Folgen für die Menschen geradezu sanft.

Faix nennt den Paradigmenwechsel. Hier wäre zu ergänzen, dass dieser Begriff aus der Wissenschaftsphilosophie stammt. Dort ist klar, dass es schon so manche dieser grundlegenden Perspektivwechsel gegeben hat. Auch sonst gilt, dass es nicht „den“ Paradigmenwechsel gibt. Bestimmte leitende Sichtweisen, Paradigmen, kommen und gehen. In der christlichen Ethik geschieht nun gerade ein Paradigmenwechsel von der klaren Ablehnung, ja Verurteilung von homosexueller Lebensweise hin zu deren Akzeptanz innerhalb von nur rund 30 Jahren.

Faix Skizze der religiösen Landschaft in Deutschland und Europa ist durchaus richtig: Die Kirchen als Institutionen verlieren oft auf dramatische Weise den Einfluss, den sie jahrhundertelang hatten. Verändert sich damit aber „alles“? Verändert sich die Welt „in ihren Strukturen“? Da alles im Fluss ist, verändert sich in gewisser Weise immer alles. Faix Aussage macht aber nur dann Sinn, wenn sie im historischen Kontext aufgefasst wird: heute verändert sich alles so schnell, so radikal, so tiefgreifend, wie nie zuvor; und deshalb müssen wir auch den radikalen Umbau des Glaubens gehen. Das sind aber eine Schlussfolgerung und ein historisches Urteil, das erst einmal begründet werden müsste.

Ich habe da meine Zweifel. Einmal, weil es radikale Umbrüche schon früher genug gab (s.o.). Außerdem gibt es auch breite Kontinuitätslinien und fortgeführte Traditionen – es ist eben ganz und gar nicht „alles“, was sich ändert, im Gegenteil. Man könnte auch genauso gut darstellen und belegen, dass so gut wie alles gleich bleibt.

Die Welt hat sich in den letzten 200 Jahren stark verändert, weitgehend zum Positiven. Es hat großen zivilisatorischen und wirtschaftlichen Fortschritt gegeben (hier mehr dazu). Die grundlegenden menschlichen Verhaltensweisen sind dabei jedoch die gleichen geblieben. Der Mensch ist zu allen Zeiten kreativ und erfinderisch; wir tauschen wie seit eh und je zu gegenseitigem Nutzen (die Marktmechanismen, die auch hinter der Globalisierung stehen); wir streben nach Verbesserung des Lebens, aber auch nach Macht und Einfluss, und nicht selten missbrauchen wir Macht – sie korrumpiert damals wie heute; wir schätzen die stabile Zweierschaft in der Ehe, ringen aber auch mit gegenläufigen Bestrebungen. Diese Liste ließe sich natürlich fortsetzen. Auch „Was ist das gute Leben?“ ist keineswegs eine neue Frage, wie Faix meint. Schon die alten Griechen beschäftigten sich mit ihr. Und nicht nur sie.

Faix spricht vom „Schengener Abkommen des Glaubens“: die Grenzen der Konfessionen und Religionen fallen weg, werden immer weniger bedeutsam; allgemein ist man heute spirituell suchend und greift sich aus den religiösen Angeboten das heraus, was subjektiv für hilfreich empfunden wird. Natürlich gibt es diesen Trend, aber ein ähnliches synkretistisches Klima gab es schon im Römischen Reich, auch damals bot ein vielfältiger Markt der Religionen jedem das Passende an. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt oft, dass vieles von dem, was uns heute so radikal neu erscheint, eine alte Geschichte hat.

Ja, die Welt verändert sich, die Welt unserer Waren, Produkte, Erfindungen, kulturellen Schöpfungen hat ein gewisses Eigenleben und entwickelt sich dynamisch. Wir Menschen selbst verändern uns längst nicht so deutlich, im Gegenteil. Im Grunde sind wir seit Kain und Abel immer noch die gleichen. Oder etwa nicht? Ich glaube, dass die Grundkonstanten im menschlichen Leben und Zusammenleben eben dies sind: Konstanten. Arbeiten und herrschen, lieben und hassen, erfinden und zerstören, trauern und sich vergnügen, singen und dichten, feiern und sich berauschen, enttäuschen und enttäuscht werden, lügen und betrügen, helfen und heilen, loben und beneiden – das Portrait des Menschen, der Menschen, ist bunt, wird aber in allen Epochen, über alle Stürme der Geschichte hinweg, mit den immer gleichen Farben gemalt.

Nun richtet sich das Evangelium direkt an Menschen. Sind diese etwa in ihren „Strukturen“ anders als früher? Haben sie ein grundlegendes Problem überhaupt nicht mehr, das früher bestand? Faix nennt gegen Ende Sünde/Schuld sowie Scham/Annahme. Sicherlich gibt es hier in der Gewichtung und in der Wahrnehmung kulturelle Unterschiede. Ihre Ausprägung gestaltete sich in den Epochen verschieden. Schuld und Scham begleiten die Menschen aber seit eh und je. Vor Gott sind in dieser Hinsicht alle Menschen aller Zeiten letztlich gleich, ganz gleich.

Gott verändert sich nicht. Der Mensch ist natürlich wie alles Geschaffene und Lebendige Wandlungen unterworfen. Aber in seinen Strukturen, in den Grundtatsachen seines Daseins, in dem, was ihn zum Menschen macht, verändert er sich nicht. Um das Bild der Brücke und des Flusses zu gebrauchen: Die Brücke des christlichen Glaubens ist so groß, dass sie auch das breiteste Flusstal überspannt.

Es mag wohl sein, dass ein kräftiges Tief über uns hinwegrauscht. Aber es ist wohl ‘nur’ ein Tief, kein Orkan. Und mit Schlussfolgerungen über das Wetter und die Wetterentwicklung im Allgemeinen sollte man vorsichtig sein, wenn man den Sturm gerade erfährt. Ich glaube, dass die alte Brücke immer noch steht und immer noch ans Ziel führt.

Theologische Argumente?

Das, was wir für selbstverständlich und richtig gehalten haben, ist „für viele Menschen heute nicht mehr selbstverständlich“. Das ist der Punkt, der alles verändert, so Faix. Viele Menschen haben eine „Allergie auf Wahrheitsansprüche“. Früher wurde gefragt: Was glaube ich? Heute: Wie glaube ich? Wie zeigt sich das in meinem Alltag? Das Was und Inhalte sind nachgeordnet – „das zeigt sich bei allen großen Umfragen“. Und wenn die Umfragen stimmen – „warum sind dann die Kirche so leer, wo wir doch die Spezialisten sind?“

Faix Antwort: „Weil wir unsere Tradition und unsere Wahrheit versuchen durch diese sich verändernde Zeit zu retten.“ Wir als Christen haben dort, in den Antworten der Kirchen und ihren Wahrheiten, Heimat gefunden; uns gibt die Kirche Antworten, „und deshalb wollen wir es bewahren, weil es für uns gut ist“. Für eine neue Generation passt es nicht mehr. Nun gilt: „Eine Tradition oder biblische Wahrheit hat nicht mehr Autorität als das eigene Erfahren, als die eigene subjektive Wahrheit.“ Faix Frage: Wir gehen wir damit um?

Der Theologe wendet sich nun den Erkenntnissen im Buch Resonanz von Harmut Rosa zu, „einem der bedeutendsten Soziologen“ der Gegenwart. Wie können wir als Mitglieder der Kirchen Resonanz erzeugen? Das Ideal für Faix ist, dass Christen und Nichtchristen gemeinsam „in einen Resonanzraum kommen“ und „miteinander auf einer Frequenz ticken.“ Genau das sei das Problem: Mit dem, was die Kirchen sind und geben, kommen viele nicht mehr auf eine Frequenz, bekommen keine Antwort.

„Es geht nicht um mehr Folklore, sondern es geht darum, dass da, wo eine Brücke nicht mehr über die Fragen hilft, wir vielleicht neue Brücken bauen müssen.“ So lautet auf diesem Hintergrund Faix Hauptanliegen.

Der Theologe aus Kassel wurde nicht eingeladen, um nur eine Situation zu schildern, sondern auch, um Antworten und Perspektiven für Kirchen und Gemeinden zu geben. Ich kann aber im gesamten Vortrag auch nach mehrfachem Hören kein einziges biblisches und/oder theologisches Argument entdecken. Ein Argument ist nicht eine richtige Aussage (von denen es im Vortrag sicher einige gibt), sondern eine logische Verbindung von Aussagen in Schlüssen: eine Begründung oder Rechtfertigung durch stimmige Schlussfolgerungen. In fast einer Stunde ging es um die Beantwortung von entscheidenden Fragen der Kirchen heute – ist da etwa ein theologisches Argument zu viel verlangt?

Sicher konnte Faix auf der Bundesratstagung in einer Art Impulsvortrag keine ausführliche biblische oder dogmatische Begründung liefern. Aber gar kein theologisches Argument? Wohlgemerkt: kein theologisches. Faix argumentierte hier und da schon. In erster Linie empirisch und soziologisch wie mit Rosa. Weil sich die Gesellschaft in dieser und jener Art verändert, sei dies und das zu tun. Wieso macht aber ein Professor und Doktor und Lehrer der Theologie nicht das, was er in seinem Beruf machen sollte?

Ist die Kirche dazu berufen, die Probleme der Menschen zu lösen? Muss sie sich in erster Linie an den Fragen der Menschen orientieren? Soll sie vor allem Resonanz herstellen? Das Konzept einer leiblichen Auferstehung (Jesu und die zukünftige  der Menschen) war für die Griechen des ersten Jahrhunderts auf dem Hintergrund ihrer Philosophie und Religion völliger Unsinn und unbegreiflich. Die Bibel selbst bekräftigt dies ja. Paulus hat den Griechen ihre subjektiven Fragen wohl eher schlecht beantwortet und die von ihnen wahrgenommenen Probleme nicht gelöst. Mit der Resonanz haperte es. Im Faixschen Paradigma war die apostolische Predigt vom Kreuz bei den Heiden eine schlechte Brücke.

Es ist die „empirische Theologie“, die Faix so hochhält, die aufs Glatteis führt. Gewiss haben die Empirie – das genaue Hinschauen, das Feststellen: wie sieht es denn tatsächlich dort aus? Wie ist die Lage wirklich? – und Marktforschung ihren Wert. Umfragen sind häufig sinnvoll und auch im kirchlichen Kontext meist hilfreich. Aber liegen sie vor, geht’s dann erst richtig los. Auf die Empirie muss eben auch Theologie, theologisches Durchdenken, folgen.

Empirie und Marktforschung ersetzen keine Produktstrategie, und sie haben auch in der Wirtschaft keineswegs eine Art normative Kraft. Marketing ist heute sehr häufig „bedarfskreativ“, d.h. neue Bedürfnisse werden jenseits der hier und jetzt subjektiv wahrgenommenen Fragen, Probleme und Wünsche geschaffen. Mit einem Wort: vielfach haben die Konsumenten keine Ahnung davon, dass sie irgendein Produkt brauchen könnten.

Übertragen wir dies auf die apostolische Predigt. Die Griechen wollten nichts von leiblicher Auferstehung hören, und die Juden hatten keine besondere Lust, sich Predigten von einem leidenden und dienenden Messias anzuhören. Torheit und Ärgernis. In gewisser Weise schufen die Aposteln bei den Zuhörern, gerade bei den Griechen, Bedürfnisse, die in dieser Form vorher noch nicht wahrgenommen worden waren. Sie beantworteten nicht Fragen, die genau so schon vorhanden waren. Sie gingen zwar auf die Zuhörer ein und orientieren sich an ihrem Denken, schnitten ihr Produkt aber nicht genau auf deren aktuelle Wünsche zu.

Paulus fand in Athen ja durchaus „lebendige Spiritualität“ vor. Er hatte auch seine empirischen Hausaufgaben gemacht und kannte die lokale Kultur. Hat er dann den Menschen eine Brücke für ihre Probleme und Fragen gebaut? Nein, hat er nicht. Er hat ihnen gleichsam seine Brücke mitgebracht. Eine Brücke, die wohl nie von Massen überquert wurde und werden wird. Und dieses Ziel hatte Paulus in Athen und anderswo auch nicht.

Die Inhalte verlieren heute an Bedeutung, die Konfessionsunterschiede verwischen, Wahrheit will keiner mehr hören, so Faix zur Situation heute. Das mag ja alles sein, aber provokant könne man zurückfragen: Na und? Was ist denn daraus zu folgern? Sollen die Inhalte nun an den Rand und die Konfessionen, also auch Bekenntnistexte, abgeschliffen werden? Was soll denn an die Stelle von Wahrheiten treten?

Faix sieht es eindeutig als Problem an, dass wir „unsere Tradition und unsere Wahrheit versuchen durch diese sich verändernde Zeit zu retten“. Sollen wir also nicht mehr Wahrheit durch sich verändernde Zeit hindurch weitergeben und verkündigen? Warum? Sollen wir dies tatsächlich nicht mehr tun? Wie sollte denn dafür eine theologische, auf der Bibel gründende Bekräftigung aussehen? Warum kommt hier nichts? Sollte hier nicht irgendetwas Tragfähiges geliefert werden?

Umfragen ergeben natürlich nicht, dass die Menschen ganz erpicht darauf sind, von der Verlorenheit des Menschen zu hören oder den Heidelberger Katechismus zu studieren. Wen überrascht das? Wer lässt sich schon gerne einen Spiegel vor das hässliche Gesicht halten, und olle Kamellen haben es heute sowieso schwierig. Nicäa, Athanasius und Chalcedon – auf den Müllhaufen? Weil sie nur noch irgendwelchen Traditionalisten helfen?

In der Zusammenfassung des Vortrags heißt es, die Kirchen sollen nicht die immer gleichen Dogmen rauf- und runterbeten. Vielmehr solle auf die Lebenswelt der Menschen eingegangen werden. Doch dies sind natürlich falsche Alternativen. Auf die Lebenswelt ist sicher einzugehen, aber mit durchdachten und argumentativ vorgetragenen Dogmen – ja, mit Dogmen, mit Lehren. Paulus und die Apostel taten dies (s. z.B. Apg 15,2.6–7; 17,3.17; 18,4; 19,8). Warum sollte dieser Weg heute falsch sein?

Doch hier schließt sich der Kreis. Die Apologetik wird von Faix nur nebenbei erwähnt – fast schon als vergangene Modeerscheinung. Tatsächlich? So wundert es nicht, dass das Argumentieren und Überzeugen einfach nicht stattfindet. Der biblische Glaube soll Antworten auf die Fragen der Menschen geben, aber er soll sie offensichtlich nicht von Lehren überzeugen, an die sie bisher noch nicht glaubten. Und auf der Ebene Vortrags bin ich ganz und gar nicht überzeugt, dass der von Faix skizzierte Weg nun zu gehen sei. Wie auch, denn theologische Argumente, die mich überzeugen könnten, habe ich nicht gehört.

Nun mag jemand auf der Linie von Faix entgegnen: Du brauchst solche Argumente, andere eben nicht. Soll das etwa der Weg in die Zukunft sein? Dass einfach nur Thesen und Tatsachen und Behauptungen in den Raum gestellt werden und nicht biblisch und theologisch argumentiert wird bei so einem sehr wichtigen, sehr spannenden und sehr schwierigem Thema?

Der Gott der Bibel?

„Wir haben ein echtes Problem mit unserer Sprache“, so Faix. Wir Christen können super über Gott reden, „dogmatisch, theologisch, konfessionell – richtig gut, aber es versteht niemand mehr außerhalb unserer vier Wände“. Wir glauben die gute Nachricht zu haben, wobei jedoch „die Nachricht vielleicht nicht mehr gut ist“.

Faix überzeichnet hier natürlich und polemisiert gegen die gute und korrekte Rede über Gott – eigentlich die Kernaufgabe der Theologie. So erscheint es auf einmal als verzeihbar, dass er so gut wie gar nicht von Gott redet. Er/sie wird zwar mal genannt („Vater und Mutter“), kommt im Vortrag aber praktisch nicht vor.

Als Christen sei es hingegen vor allem unsere Aufgabe die Spiritualität der Menschen ernst zu nehmen und diese zu lernen – genau dies sei „das Entscheidende“; wir müssen neu Lernende werden. Nun sind Christen, Jünger, qua Definition tatsächlich Lernende. Doch ist es wirklich das Wichtigste, die in vielerlei Hinsicht, ja die grundlegend falsche Spiritualität der ungläubigen Menschen zu lernen? Paulus hatte die Spiritualität der Menschen in Athen ernst genommen, er kannte sie und sprach respektvoll von ihr; in diesem Sinne ist sie natürlich zu lernen – und dann fordert er aber zum Glauben und zu Buße und Umkehr, zur Abkehr von Götzen und dem eigenen Weg der Spiritualität  auf.

Könnte es nicht sein, dass das Entscheidende ist, Gott zu kennen? Und wenn wir diesen Gott kennen, wissen wir auch um die alternativen und falschen Wege. Nur wer das Original kennt, erkennt auch die Fälschung. Oder provozierender: Will uns Faix etwa weißmachen, wir sollen als Kirchen vor allem Götzendienst studieren? Denn wer nicht Gott nachfolgt, läuft selbstgemachten Götzen hinterher. Oder gibt es da etwa noch einen dritten Weg?

Die Gute Nachricht „haben wir doch“. Faix skizziert sie dann als Befreiung von allem möglichen, was wir in dieser Welt negativ erleben. Diese Befreiungen haben aber mit Gott gar nichts mehr zu tun. Sie können als Auswirkungen, Folgen und Segen des Evangeliums gedeutet werden, aber den Kern der Guten Nachricht erfassen sie nicht. In ihrem Zentrum stehen die Gottesbeziehung und Gott selbst.

Faix beklagt, dass Christen oft immer noch „diese Wahrheitshaltung“ haben – „ich hab’s und geb’s dir“. „Wie kommuniziere ich das Evangelium?“ sei die entscheidende Frage. Eine demütige Haltung des Zuhören sei zu entwickeln. Natürlich ist Letzteres gefordert, aber das Was dem Wie opfern? (Gedanken, die auf den emergenten Vordenker Peter Rollins zurückgehen.)

Das Was – das, was wir Christen weiterzugeben haben, der Inhalt unserer Botschaft, der Quell und Grund unserer Wahrheitshaltung – ist im Grunde Gott selbst. So überrascht es eigentlich nicht, dass Faix Vortrag Gott-los ist. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seinen Fragen und seinen Probleme gibt den Ton an, und das ganz unverblümt und radikal. Aber seit wann können wir von Sündern erwarten, dass sie ihre Lage, ihre Probleme und Bedürfnisse, richtig einschätzen? Der unerlöste Mensch glaubt fest daran, dass er trotz aller Schwächen und Prolbeme im Gund okay ost und sich daher mit Hilfestellung selbst aus seinem Schlamassel befreien kann. Die alte gute Nachricht nimmt diese Illusion – kein Wunder, dass sie „vielleicht nicht mehr gut“ erscheint.

Die Dreieinigkeit wird an einer Stelle genannt, sie passe zum Sehnen nach Gemeinschaft. Dann aber hören wir auch, dass Gott nun immer weniger Person, immer mehr Beziehung wird. Da gerät man ins Stutzen. Sind es nicht die Personen der Dreieinigkeit, die in Beziehung zueinander stehen? Ist Gott im Kern seines Wesens nicht personal?

Die alten Glaubensbekenntnisse haben das Wesen Gottes, der sich offenbart hat, gut dargestellt und das Beziehungswesen Gottes gut begründet. Aber die Menschen wollen, so Faix, nun ja „nicht ein Glaubensbekenntnis“, sie wollen vielmehr an- und aufgenommen werden. Die „Monothematik“ der Kirchen (Gott? Erlösung? Kreuz?) verenge und baue Mauern auf. Seltsam: Das Evangelium als Licht und Sauerteig durchdringt zwar das ganze Leben und alle Lebensbereiche, aber die apostolische Predigt selbst war doch wohl vor allem dies: monothematisch. Oder etwa nicht?

Faix wünscht sich eine Kirche mit „Sprengkraft“, die als „Teil des Sozialraums“ sichtbar sein soll; eine christliche Gemeinde, die als „Versöhner in den großen Konflikten“ der Welt wirkt. Mit einer defizitären Theologie und mit einer entkernten Guten Nachricht wird dies wohl kaum gelingen.

Der Vortrag des Professors ist in meinen Augen erschreckend defizitär: es fehlt an historischer Perspektive, es fehlen theologische Argumente und sogar Gott ist kaum zu finden.

Ein weiteres Defizit: Nur die zweite Hälfe der Ausgangsfrage „Warum ist Spiritualität in und Kirche out?“ wird beantwortet. Warum ist Spiritualität in – einmal abgesehen vom angeblichen Versagen der Kirchen? Warum sind Menschen spirituell orientiert? Da hören wir von Faix nur Ansätze von Antworten. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sie dies schon immer waren, dieses Streben drückt sich nur verschieden aus und bricht sich unterschiedlich Bahn. An dieser Stelle wird‘s wieder theologisch: die biblische Lehre vom Menschen, der unheilbar religiös ist und ohne Gott auf der ewigen Suche bleibt – das haben in der Vergangenheit alle großen Theologen gewusst und mitunter hervorragend dargestellt, von Augustinus bis hin zu den Reformatoren.

„Katechismus-Revolution“

Können wir Christen wirklich „richtig gut“ von Gott reden? „Dogmatisch, theologisch, konfessionell“? Ich glaube, dass genau das nicht mehr der Fall ist. Man könnte ja einmal eine Umfrage machen bei einem christlichen Pastoren- und Leitertreffen wie der Baptistentagung und die dogmatischen Kenntnisse checken. Zum Beispiel das Verständnis der Trinität oder die Eigenschaften Gottes. Hier wäre doch mal empirisch vorzugehen – genau hinsehen, ob die Leiter und meist Glaubenslehrer wirklich so „richtig gut“ von Gott reden. Die Ergebnisse wären wohl eher ernüchternd. – Vielleicht verstehen viele außerhalb der Kirchen den christlichen Glauben aus deshalb nicht, weil wir ihn selber nur oberflächlich verstehen?

Ist es vielleicht so, dass die alten Brücken nicht mehr ans Ziel führen, weil wir sie kaum noch kennen und sie selbst für schlecht, brüchig und eben zu alt halten? Und da wir selbst kaum noch an ihre Tragfähigkeit und ihre Nützlichkeit glauben, empfehlen wir sie kaum jemanden? Ist dies nicht ein klassisches Beispiel einer „self-fulfilling prophecy“ (wenn ich daran glaube, dass die Brücken schlecht sind, dann werden sie sich auch als solche erweisen)?

Vielleicht sollten wir die alten Brücken neu lernen, den alten Glauben neu lernen? Nicht die Dogmen rauf- und runterbeten – ein wenig schmeichlerische Karikatur –, sondern die Dogmen selbst? Ihre Bedeutung und Relevanz kennen?

Alle reden nun von Pluralität und Vielfalt. Und so hat sich der Baptistenbund bewußt durch die Einblicke eines Nichtbaptisten wie Faix bereichern wollen. Vielleicht könnte man auch einmal den Anglikaner J.I. Packer hinzuschalten oder ein Video einspielen. Immerhin ist er der letzte große Evangelikale des 20. Jahrhunderts, der noch lebt (geb. 1926).

Packer hat eine Botschaft, die sich deutlich von der des halb so alten Faix unterscheidet.  Nicht das Erlernen der zeitgenössischen Spiritualität ist das Entscheidende, vielmehr Gott erkennen, so der bekannteste Bestseller aus seiner Feder, vollgestopft mit calvinistischer Theologie. Und man mache sich hier nichts vor: mehrere Dinge, die das Entscheidende sind, kann es gleichzeitig nicht geben. Entweder, oder.

Mit aller Kraft, die dem greisen Packer noch geblieben ist, setzt sich der aus England stammende Theologe (seit einigen Jahren kanadischer Bürger) seit gut zehn Jahren für ein Thema ein: nicht für das Bauen neuer Brücken, sondern für die Restaurierung und Nutzung der alten.

Packer fordert die Katechese der Erwachsenen in den Gemeinde und wendet sich dabei natürlich zuerst an seine anglikanische Kirche. In der Wahl der Mittel sind die Kirche dabei natürlich recht frei; Packer empfiehlt die alten Katechismen und Bekenntnisse, hat aber auch selbst an einem neuen anglikanischen Katechismus mitgearbeitet und verschiedenes Material (wie auf Grundlage des Apostolikums) entwickelt. Über seinen Ansatz gibt er Auskunft in Grounded in the Gospel: Building Believers the Old-Fashioned Way. Aus reformierter Sicht wäre hier natürlich der New City Catechism (2012) zu nennen, der auch in litauischer und deutscher Sprache vorliegt. 

Packer ist in der Sache nicht weniger engagiert und prägnant als Faix. Er schlägt nicht nur vor – die Kirchen sollten dies unbedingt tun (s. die Vorträge und Interviews hier und hier). In einem Vortrag vor vier Jahren rief er sogar zu einer „Katechismus-Revolution“ auf. Packer fordert eine regelmäßige Katechese aller Altersgruppen als zentrales Element der kirchlichen Arbeit – absolut notwendig für ein gesundes Leben der Gemeinde.

Gegen Ende seines Lebens erinnert er seine anglikanische Kirche und die evangelikale Bewegung noch einmal an die Grundlagen, die vor allem auch durch Katechese gelegt werden: Sie verankert die Evangelisation und das geistliche Leben in Wahrheiten; sie schafft Einheit der Glaubenden, denn, so Packer, die Katechismuslehre ist ein „Zement, der zusammenhält“.

Packer weist darauf hin, dass auch katholische Kirche die Wichtigkeit der Katechismen erkannt hat – schließlich erodiert christliches Grundwissen ganz allgemein. So schrieb Papst Benedikt XVI in seinem Vorwort zum Jugendkatechismus YOUCAT: „So lade ich Euch ein: Studiert den Katechismus! Das ist mein Herzenswunsch. Dieser Katechismus redet Euch nicht nach dem Mund. Er macht es Euch nicht leicht. Er fordert nämlich ein neues Leben von Euch… Studiert den Katechismus mit Leidenschaft und Ausdauer! Opfert Lebenszeit dafür!.. Ihr müßt wissen, was Ihr glaubt. Ihr müßt Euren Glauben so präzise kennen wie ein IT-Spezialist das Betriebssystem eines Computers. Ihr müßt ihn verstehen wie ein guter Musiker sein Stück. Ja, Ihr müßt im Glauben noch viel tiefer verwurzelt sein als die Generation Eurer Eltern, um den Herausforderungen und Versuchungen dieser Zeit mit Kraft und Entschiedenheit entgegentreten zu können.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.