Sozzini reloaded
Es ist ungerecht, einen Unschuldigen an Stelle eines Schuldigen zu bestrafen; der Mensch wurde mit einem sterblichen Leib geschaffen; Erbsünde ist eine Erfindung des Augustinus; ewige Höllenstrafen gibt es nicht – was heute so bekannt klingt, sind Lehren, die auch schon Fausto Sozzini im 16. Jahrhundert verbreitet hatte.
Der Italiener Sozzini (1539–1604) lebte bis 1561 in seiner Heimatstadt Siena, ging wie so viele Glaubensflüchtlinge über Lyon in die Schweiz. Zwölf Jahre wirkte er dann am florentinischen Hof, kam 1575 wieder in die Schweiz nach Basel. Hier entstand sein Hauptwerk De Jesu Christo servatore. Ab Ende der 80er Jahre lebte Sozzini in Polen, war dort eine der leitenden Figuren in der ecclesia reformata minor, der antitrinitarischen Kirchen neben der reformierten, der ecclesia reformata maior. Der Italiener prägte den nach ihm und seinem Onkel Lelio benannten Sozinianismus.
Sozzinis Einfluss auf die Theologie der Aufklärung, des Unitarismus und des späteren Liberalismus kann kaum überschätzt werden. Umso mehr wundert es, dass die Lehren des Italieners abseits der Spezialistenszene kaum erörtert werden. John Stott geht in seinem The Cross of Christ in einem Absatz auf Sozzini ein – wenigstens das. Dabei ist fraglich, ob man ohne den Sozinianismus heute so über Gott, Gnade und Gerechtigkeit – um nur einmal drei Stichworte zu nennen – reden würde, wie es oftmals getan wird. Das Echo Sozzinis ist immer noch zu hören.
Der in der reformierten Kirche Litauen ordinierte Pfr. Kęstutis Daugirdas, seit langem an dem Universität in Mainz tätig, legte im vergangenen Jahr seine Habilitationsschrift vor: Die Anfänge des Sozinianismus (V&R) schließt eine wichtige Lücke in der deutschsprachigen Literatur, denn er zeichnet die Genese der Lehre Sozzinis und ihre Verbreitung in Europa detailliert nach.
In der Erlösungslehre sah sich Sozzinis natürlich nicht in der Tradition Anselm von Canterbury (11. Jh.), dem auch die Reformierten weithin folgten, sondern der des Petrus Abaelards (12 Jh.). Über Letzteren ging er aber auch noch weit hinaus: Nicht die Person Christi stehe im Zentrum des Heilsgeschehens, sondern seine Lehre. Seine vermittelnde Funktion bestand vor allem in der eines historisch einzigartigen Botens; er ist der Mittler, um die Menschen von Gottes Beschlüssen zu benachrichtigen.
Für Sozzini entscheidet sich „die Frage nach der Erlösung letztendlich am praktischen Glaubensgehorsam des Einzelnen“, so Daugirdas. „Wichtige Traditionsstränge der abendländischen Soteriologie“ wurden durch ihn gekappt. Erlösung betrachtete er „nur als eine Metapher für die Erkenntnis des gnädigen Willen Gottes durch den Menschen und seinen daraus resultierenden Lebenswandel“; sie ist die „Erkenntnis der in Christus geoffenbarten Güte Gottes“. Rechtfertigung ist nicht die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, sondern besteht darin, dass Menschen ihn kennen und ihm ähnlicher werden. Rechtfertigung ist daher nicht im Verdienst Christi, sondern in der Freigiebigkeit Gottes begründet.
Noch einmal Daugirdas, Sozzinis Hauptwerk zitierend: „Die eigentliche Lösung des Problems, wie es denn geschehen könne, dass die Menschen, die den ewigen Tod verdienten, nichtsdestoweniger zum Leben gelangten, lautet nicht: ‘Weil sie Christus zum Erlöser haben’, sondern: ‘Weil Gott ihnen aus unbegreiflicher Güte die einst von ihm verhängte Strafe des ewigen Todes vergeben und an ihrer Statt das ewige Leben in Aussicht gestellt hat, sofern sie wieder zur Besinnung kommen und, allem gottlosen Treiben abgeschworen, der Heiligkeit des Lebens nacheifern’.“
In Polen-Litauen (wie auch Siebenbürgen) bildeten sich schon bald nach Beginn der Reformation die Dreieinigkeit leugnende bzw. die altkirchlichen Bekenntnisse und Dogmen ablehnende Gemeinden und Gruppen. Eine wichtige Rolle hierbei spielten Italiener wie Ochino, Stancaro, Biandrata oder eben Sozzini. Mit den Antitrinitariern und ersten Unitariern mussten sich auch die orthodoxen Protestanten auseinandersetzen. In Litauen griff der Kopf der Reformierten, der aus Westpolen stammende Andreas Volanus (ca. 1530–1610), aktiv in die Debatten ein. Daugirdas hat dessen Wirken und Schriften in seiner Doktorarbeit Andreas Volanus und die Reformation im Großfürstentum Litauen (2009) gewürdigt.
„Weder die polnischen noch die litauischen Unitarier [zogen] aus ihrer Ablehnung der Gottheit Christi die Konsequenz“ der Kritik der Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre, so Daugirdas. Volanus hatte die Verbindung schon erkannt: die traditionelle Versöhnungslehre ist nur unter Voraussetzung der Trinität möglich. Unter den Antitrinitariern ging erst Sozzini weiter und wandte die Leugnung der vollen Gottheit des Sohnes auf die Erlösungslehre an. Er „unternahm die konsequente Destruktion vor allem der Satisfaktionslehre und setzte an ihre Stelle seine Lehre von der Versöhnung der Welt mit Gott, die dadurch ermöglicht wird, dass Gott der Welt ihre Sünde nicht anrechnet.“
Christus habe laut Sozzini schon vor seinem Tod die Vergebung aller Sünde angeboten. Daugirdas: „Christus kann gar nicht erst mit seinem Blut, d.h. Leiden und Sterben, Gott mit dem Menschen versöhnt haben… Folglich kann der Tod Christi nicht dazu gedient haben, Gott mit den Menschen zu versöhnen, sondern aufzuzeigen, dass er bereits versöhnt sei, damit daraufhin die Menschen zu Gott zurückkehren, die sich von ihm entfremdet hätten. Die grundlegende Differenz zwischen der Versöhnungslehre Sozzinis zu derjenigen seiner Gegner besteht demnach in der Bestimmung des Zielobjekts des (Opfer-)Todes Christi. Bildet nach der anselmisch geprägten Satisfaktionslehre primär Gott selbst dieses Zielobjekt und erst danach der Sünder, so ist es nach Sozzini primär und ausschließlich der sündige Mensch. Dies ist für Sozzini eine schlichte Sache der Logik: Weil Gott in Christus als Erlöser handelt und seinen eigenen Sohn als Lösegeld gibt, kann er als Geber nicht auch Empfänger desselben sein. Das Zielobjekt, um dessen willen Christus als Lösegeld hingegeben wird, ist der der Sklaverei der Sünde verfallene Mensch, der dadurch die Freiheit wieder erlangt.“
Damit einher geht eine „Umkehrung der Richtung des Versöhnungsaktes“. „Während z.B. bei Volanus die Versöhnung Gottes mit der Welt ein objektiver Vorgang in Gott selber ist, ist es nach Sozzini eigentlich der Mensch, der diesen Akt vollbringen muss: Weil Gott bereits dem Menschen gnädig gestimmt ist, müsse der Gott gegenüber feindselig gesinnte Mensch von seiner negativen Haltung und seinen Sünden ablassen und nach der Versöhnung mit Gott streben. Diese Umkehrung der Richtung des Versöhnungsaktes hat eine dreifache Ursache: einen unterschiedlich strukturierten Gottesbegriff, die daraus resultierenden Umdeutung des Attributes der Gerechtigkeit Gottes und eine grundlegend anders ausgerichtete Anthropologie.“
Nur eine trinitarische Theologie, die Volanus gegen die Unitarier verteidigte, macht es möglich, „das Versöhnungswerk Christi in das innertrinitarische Geschehen des dreieinigen Gottes hineinzuholen und so Gott als Objekt seiner eigenen Handlung zu erfassen, in denen er sich als gerecht und barmherzig erweist… Dem trinitarisch strukturierten Gottesbegriff ist es also zu verdanken, dass von Gott zwei scheinbare einander entgegengesetzte, für die Heilige Schrift allerdings zentrale Attribute der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit sinnvoll ausgesagt werden können.“
Die Unitarier dagegen hatten einen eher statischen Gottesbegriff. Gott könne daher „unmöglich gerecht im Sinn des strafenden Richters und barmherzig zugleich sein. Gott ist vielmehr und vor allem barmherzig.“
Erlösung ist bei Sozzini in seinem Kern also alles andere als monergistisch – Erlösung wird nicht von Gott, sondern vom Menschen geschaffen. Entsprechend fällt die Lehre vom Menschen bei Sozzini aus. Er kennt keine Erbsünde; bei ihm wird „dem Menschen die prinzipielle Möglichkeit zugebilligt, aus sich heraus sittlich gut, wenn auch unvollkommen zu handeln. Die Versöhnung des Menschen mit Gott ist demnach kein objektiver Vorgang, der einseitig in Gott selbst gründet, sondern stets ein dynamischer Prozess, der sich zwischen zwei Vertragspartnern ereignet.“ Das Opfer Christi ist nicht mehr stellvertretend. „Christus als servator ist nichts anderes als Mittler des Bundes… zwischen Gott und Mensch“, er ist gestorben, „um den Bund zu bestätigen“. „Entscheidend dabei sind die Lehre Christi und sein ethisches Beispiel.“
„Die deutsche wissenschaftliche Theologie des 19. Jahrhunderts [machte] in ihren großen, dogmengeschichtlichen orientierten Darstellungen des christlichen Glaubens die Destruktion der Satisfaktionslehre durch Sozzini zu einem festen Bestandteil ihrer Untersuchungen“, so Daugirdas. Dieses italienische Erbe ist immer noch mit uns.