Das „Der-ist-okay“-Evangelium
„Reformationsbotschafter“ sollen im Jubiläumsjahr im Auftrag der EKD das Anliegen der Reformation verbreiten. Dazu gehören Prominente wie Bettina Wulff und Jürgen Klopp oder auch Politiker wie die Minister der Finanzen und des Auswärtigen. Interviews führt die Kirchenpresse nun auch gerne mit dem Botschafter Eckart von Hirschhausen. Der sprachgewandte Arzt hat es als Kabarettist und Autor zu großer Bekanntheit gebracht. Auf evangelisch.de beantwortete er die Fragen des Portals unter der Überschrift „Du bist okay, wie du bist!“.
Hirschhausen feiert Reformation, weil „Martin Luther uns noch immer viel zu sagen hat: Rede verständlich, trau’ dich, deine Meinung zu sagen, und stelle Dinge in Frage“. Für ihn bietet das Reformationsjubiläum „die Chance, Luther und den Geist der Freiheit neu zu entdecken, gegen Ideologien aufzubegehren und die Kraft von Gemeinschaft zu spüren.“
Reformation, Erneuerung, wäre für ihn heute vor allem im Gesundheitswesen nötig. Als Arzt natürlich mit Kenntnissen des Bereichs wendet sich Hirschhausen gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitsbetriebes. Dagegen stehe „der grundchristliche Gedanke, dass jeder Mensch einen Wert hat, der nicht von seiner Leistungsfähigkeit abhängt. Den hat Luther betont und der ist auch mir ganz wichtig. Hinzu kommt: Jeder Patient ist ein leidender Menschen – und die erste Frage sollte immer noch sein: Wie kann ich ihm helfen? Und nicht: Wie mache ich mit seinem Leid möglichst viel Rendite? Bei vielen Dingen, die heute im Gesundheitswesen passieren, würde Luther auf die Barrikaden gehen.“
Würde der Reformator wirklich zum Aufstand aufrufen? Würde sich Luther nicht erst einmal gehörig wundern über den gewaltigen Fortschritt in der Medizin und der Tatsache, dass so breite Schichten in den Genuss von Behandlungsmöglichkeiten auf höchstem Niveau kommen? Wie würden denn die Skizze einer Gesundheitsreformation à la Hirschhausen aussehen? Eines Gesundheitssystems, dass irgendwie noch bezahlbar sein soll?
„Was ist da in mir, das gelebt werden möchte?“
Wenig konkret geht es weiter. Hirschhausen wünscht sich zum Reformationsjubiläum „eine breite Debatte darüber, nach welchen Werten wir künftig leben wollen.“ Das ist gewiss nicht verkehrt. In diesem Absatz stellt der Kabarettist dann dar, „worum es geht“ – endlich etwas mehr Substanz:
„Es geht darum zu schauen: Was ist da in mir, was gelebt werden möchte? Was ist meine Wahrheit, die vielleicht noch über mich hinausweist? Martin Luther hat das so bezeichnet, dass man sich öffnet, eine Liebe empfängt und eine Liebe weitergibt. In der Bibel gibt es diesen schönen Satz: “Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.” Luther sagt auch: “Du bist okay, wie du bist.” Wie viele Menschen fühlen sich heute schlecht und ausgebrannt und depressiv, weil sie denken, sie müssten anders sein. Doch andere gibt es doch schon genug. Alle müssen irgendwie schöner sein, und sie müssen mehr Sport machen, sie müssen etwas anderes essen – und dann müssen sie noch alle Karriere machen und alle Nummer eins werden. Diese Ideologien unseres Turbokapitalismus’ machen alle Menschen fertig. Und dann kommt einer und sagt: “Darum geht es gar nicht!” Das hat sich Luther natürlich nicht ausgedacht – das hat er in der Bibel gefunden, weil es der Kern der Botschaft Jesu’ war. Alle Menschen sehnen sich nach einer Liebe, die einen annimmt und die bedingungslos ist. Diese Liebe kann man nicht kaufen – auch nicht, indem man der Mega-Gutmensch ist. Solche Pseudolösungen hat Luther aufgezeigt und gesagt: “Du kannst dich noch so sehr anstrengen. Letztlich kannst du dir Gottes Liebe weder erkaufen noch verdienen.” Das hat eine unglaubliche therapeutische Kraft – und ich würde mir wünschen, dass viele Menschen heute davon hören.“
Hirschhausen sagt hier sicher viel Richtiges. Gottes Liebe kann man nicht kaufen; alle Menschen sehnen sich nach Liebe; viele Menschen scheitern an Idealbildern, die sie nicht erreichen. Aber schon bei der Analyse der Ursachen hapert’s. Als einziger Kandidat ist hier eigentlich nur der Turbokapitalismus auszumachen, und der macht sich als Bösewicht bekanntlich immer gut, weil so schön unpersönlich. Ist es dem umtriebigen Bestsellerautoren Hirschhausen schon aufgefallen, dass er vom kapitalistischen Markt ganz ordentlich profitiert?
Wohin verweist Hirschhausen, um eine Lösung zu finden? Was ist die Antwort Luthers und der Reformation? „Was ist da in mir, das gelebt werden möchte? Was ist meine Wahrheit…?“ Es scheint so, als ob die Antwort in uns selbst liegen soll, wobei hinzukommt, dass wir Liebe empfangen und uns in der bedingungslosen Liebe Gottes geborgen fühlen sollen. Auf jeden Fall soll offensichtlich gelten: Du bist okay, wie du bist.
Natürlich hat Luther diesen Satz mit seinen Worten oder ähnliche Sätze nicht gesagt, und das „du bist okay“ passt auch ganz und gar nicht als eine Zusammenfassung seines Denkens. Mir ist völlig schleierhaft, was die Ausführungen Hirschhausens mit der Reformation und dem Kern des Evangeliums zu tun haben sollen.
Luther, Calvin und Co. haben doch mit großer Vehemenz wieder betont, dass der Mensch ganz und gar nicht okay ist. Oder etwa nicht? Ihr Bild vom gefallenen Menschen war ja bekanntlich deutlich nüchterner als das der zeitgenössischen römischen Theologie. Weil jeder so tief verdorben ist, ist ein Erlöser von außerhalb nötig, dessen Gerechtigkeit uns rettet. Diese Gerechtigkeit bleibt immer, so Luther wiederholt, fremde (nämlich Christi) Gerechtigkeit, außerhalb von uns. Auch der Gläubige kann daher nicht sagen: ich bin nun in meinem Wesenskern okay. Auf dieser Erde bleiben wir gleichzeitig ganz Gerechtgesprochene und Sünder.
Das Evangelium ist also keineswegs „du bist okay“, sondern „der ist okay“, Jesus allein. Der sog. Reformationsaltar in der Wittenberger Stadtkirche (s.o.) veranschaulicht dies. Das theologisch vielleicht wichtigste Element des großen Werks der Cranachs (des Älteren und Jüngeren) ist die Predella unterhalb des Hauptaltars. Auf dem Bild verweist Luther auf einer Kanzel mit dem ausgestreckten Arm auf den Gekreuzigten in der Mitte. Links ist eine Menschenmenge versammelt, die ebenfalls gen Zentrum blickt. Vor dem Altar stehend schaut der Betrachter direkt auf den Erlöser. In mir regt sich ständig Böses, das gelebt werden möchte; meine Wahrheiten verdrehen nur zu oft die Wahrheit; aber dort hängt die Gerechtigkeit, das Leben, die Wahrheit; der einzige Mensch, der je völlig okay war und ist. Im Glauben haben wir Anteil daran, werden wir eins mit dem Erlöser. Gott sei Dank! Es bleibt aber dabei: Es rettet seine Gerechtigkeit, nicht unsre.
Hirschhausens Evangelium kommt wunderbar ohne diesen Gekreuzigten aus. Du bist okay, Gott liebt dich bedingungslos, lass dich in die Liebe Gottes fallen – wozu da noch das Kreuz?
Zu streng sollte man mit dem theologischen Laien nicht ins Gerecht gehen. Schließlich wiederholt er nur, was Kirchenobere seit vielen Jahren gerne verbreiten. Da klingt der Kern der Guten Nachricht dann so: „Du bist ein von Gott geliebter Mensch… Gott ist in allen Höhen und Tiefen des Lebens an deiner Seite“ (Nikolaus Schneider). Uwe Siemon-Netto hat ganz recht: „Die Kernbotschaft, die ich dann immer wieder vernehme, ist: Es ist alles ok. Gott liebt dich so, wie du bist. Und das hätte Luther niemals unterschrieben.“
Das „Du bist okay, wie du bist!“-Interview wurde in Auszügen in zahlreichen Gemeindebriefen abgedruckt, ob nun von Kirchen oder Freikirchen. In einem sind Hirschhausens Sätze zu finden und eine Betrachtung der Jahreslosung 2017, die zu diesen gar nicht passen will: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ (Hesekiel 36,26) Das neue Herz ist gerade deswegen nötig, weil der Mensch in seiner Kommandozentrale eben nicht okay ist. Das alte Herz tut‘s nicht – wir müssten ja tatsächlich anders sein, und wir können es tatsächlich nicht. Gott kann mit dem alten Herz nichts anfangen, es ist nicht okay, er muss es herausreißen. Herztransplantation. Die therapeutische Kraft ist eher eine chirurgische Kraft. Von dieser Kraft „sollten viele Menschen heute hören“. Das Bild sollte gerade dem Mediziner Hirschhausen noch etwas sagen.
[…] gewählt aus und präsentiert kein simples „Ich bin okay, so wie ich bin“-Evangelium (hier mehr), aber die Zuhörer werden die Unterschiede wohl eher nicht bemerken. Schließlich klang der […]