Die Perspektiven der Sünde
Eine der größten christlichen Gemeinde der USA ist die Lakewood Church in Houston mit wöchentlich um die 50.000 Besucher. Alle Protestanten Litauens würden wohl in das gigantische Kirchengebäude passen. Zu den Erfolgsrezepten der Megakirche gehört die geschmeidige Botschaft des Hauptpastors. Joel Osteen in einem TV-Interview: „Ich konzentriere mich [in der Verkündigung] auf das Positive. Sünde, Strafe und all das ist nicht meine Botschaft. Ich möchte Menschen helfen und will nicht andauernd auf ihnen herumschlagen.“
Sünde wird von Osteen nicht rundheraus geleugnet, aber als ein Randthema bezeichnet. Ähnlich betont auch Doug Pagitt in A Christianity Worth Believing, dass wir nicht so sehr die Verderbtheit des Menschen, sondern seine Gottähnlichkeit betonen sollten. Und Spencer Burke schreibt: „Es ist nicht so, dass sich die Menschen nun als perfekt ansehen; nur die Sprache, um sich selbst zu beschreiben, hat sich gewandelt. ‘Gebrochen’, ‘fragmentiert’ oder ‘Mangel an Ganzheit’ – so werden heute auf neue Weise unsere geistlichen Bedürfnisse ausgedrückt. Worum es geht ist ein Gefühl der mangelnden Verbundenheit.“ (A Heretic‘s Guide)
Gewiss erfährt sich der Mensch oft als gebrochen, doch ist dies alles? Geht es bei der Sünde nur oder in erster Linie um unsere Mangelhaftigkeit? Stand einst nicht die Beziehung zu Gott im Zentrum der Definition von Sünde? „An dir allein habe ich gesündigt“, so David zu Gott in Ps 51,6. Wie sieht er uns?
Ein verändertes Sündenverständnis hat auch Folgen für die Lehre von der Gnade. Manche wollen Sünde und Gnade ganz entkoppeln. Es ginge, so Burke, nicht mehr um „Sünder, die einen Retter brauchen“. Lasst uns doch das Gerede von Sünde ganz sein und nur noch die Gnade predigen! Doch Gnade ist dann einfach nicht mehr die Gnade des Neuen Testaments, sondern allerhöchstens eine Art göttliche Hilfe, um wieder heile Beziehungen erfahren zu können, um zum Frieden mit sich selbst zu gelangen.
Vor sieben Jahren beklagte Matthias Matussek in einer Titelgeschichte des „Spiegel“ (7/2010): „Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden. Sie hat sich neue Papiere, neue Identitäten besorgt. Von ‘Sünde’ spricht keiner mehr. Niemand droht mehr denjenigen, die ihr verfallen sind, mit ewiger Verdammnis… Die Sünde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.“
Beim italienischen Philosophen Gianni Vattimo und seinem nachmetaphysischen, spiritualisierten Christentum ist dann die einzige Art, in der Sünde noch ausgedrückt werden kann, der banale Ausruf „wie schade!“.
Abgötterei, Unglaube, Selbstverkrümmung
Sünde ist, wie gesagt, in ihrem Kern ein Angriff auf Gott selbst. Die Eroberung Samarias 722 v. Chr. und die Verbannung der Einwohner des Nordreiches wird in 2 Kön 17,7 so begründet: „Denn die Israeliten hatten gegen den Herrn, ihren Gott gesündigt“. Sünde ist Aufstand gegen den Schöpfer; Sünder machen sich der Rebellion schuldig.
Damit in engem Zusammenhang steht der Bruch des Gesetzes, denn das Moralgesetz drückt Gottes Wesen und Charakter aus. Gott allein ist Gesetzgeber und Richter (Jes 33,22; Hbr 4,12), weshalb der Kürzere Westminster-Katechismus in Fr. 14 Sünde wie folgt definiert: „Sünde ist jeder Mangel an Übereinstimmung mit dem Gesetz Gottes oder jede Übertretung desselben“.
Sünde hat auch andere Dimensionen oder Perspektiven, aber sie ist immer auch Übertretung eines Gebotes oder Wortes Gottes. Ein schlechtes Gewissen ist nur berechtigt, wenn ein Gebot Gottes übertreten wurde, nicht wenn gegen bloß menschliche Normen oder eigene Empfindungen gehandelt wurde. Sünde ist die objektive Übertretung des Gebotes (s. die „verborgenen“ Sünden, die uns subjektiv nicht bewusst sind, die aber dennoch Sünden bleiben – Ps 19,13; 90,8). In Mt 7,23 sind die „Übeltäter“ wörtlich die „Täter der Gesetzlosigkeit“.
Nichtbefolgen von inneren Eindrücken oder der ‘Geistesleitung’ ist keine Sünde. Sie ist kein Verstoß gegen ein inneres Empfinden oder den angeblichen „vollen und reinen“ Willen Gottes für uns persönlich. Denn Gott fordert von uns ausschließlich das, was er uns klar mitgeteilt hat. Wer eigenmächtig über das hinaus, was Gott als Sünde definiert hat, auch in noch so frommer Absicht weitere Handlungen und Gedanken als Sünde verbietet, macht sich selbst zum Gesetzgeber und legt den Menschen ein untragbares Joch auf (s. Lk 11,46).
Martin Luther dazu: „Zuerst ist zu wissen, dass es keine guten Werke gibt als allein die, die Gott geboten hat, wie es ebenso keine Sünde gibt, als allein die, die Gott verboten hat. Darum: wer gute Werke kennen und tun will, der braucht nichts anderes als Gottes Gebote zu kennen.“ (Von den guten Werken)
Sünde kann biblisch aber auch noch aus weiteren Perspektiven gesehen werden. Luther betrachtete Sünde vor allem als Unglauben. Sünde heißt demnach, Gottes Zusage nicht zu trauen, an ihr zu zweifeln:
„Hingegen, welche Rebellion, welcher Unglaube, welche Beleidigung ist größer als die, ihm in seiner Zusage nicht zu glauben? Was ist dies nämlich anderes als Gott entweder zum Lügner zu machen oder daran zu zweifeln, dass er wahrhaftig ist? Heißt dies nicht, sich selbst die Wahrheit zuzuschreiben, Gott aber die Lüge und Nichtigkeit? Negiert der Menschen damit nicht Gott und richtet sich selber zum Idol in seinem Herzen auf? Was nützen also die Werke, die in solchem Unglauben getan werden, selbst wenn es Engels- oder Apostelwerke wären?“ (De libertate christiana)
Eng mit der Definition von Sünde als Unglaube hängt der Götzendienst zusammen. Timothy Keller hat z.B. im Artikel „Talking About Idolatry In A Postmodern Age“ sehr gut gezeigt, dass wir in diesem theologischen und biblischen Rahmen auch je nach Situation unterschiedliche Aspekte der Sünde betonen können. „Üblicherweise definieren Christen Sünde als Bruch von Gottes Gesetz. Wird dies gut erläutert, ist dies sicherlich eine angemessene und hinreichende Definition“, schreibt der New Yorker Pastor. Der biblische Sündenbegriff, so Keller, ist aber durchaus breit und schließt auch Haltungen und Herzenseinstellungen ein. Wenn heute vom „Bruch des Gesetzes Gottes“ die Rede ist, denken die Menschen meist nur an das, was man negativ getan und wo man sich äußerlich falsch verhalten hat. Daher hält er Gesetzesbruch nicht unbedingt für den besten Weg, Sünde postmodern denkenden Menschen zu erklären.
Keller führt weiter aus: „Ich habe festgestellt, dass Postmoderne weniger Widerstand zeigen, wenn ihr Leben mit dem Begriff Abgötterei [idolatry] umschrieben wird. Sie glauben zwar nicht, dass es eine echte Alternative dazu gibt, aber sie geben es bekümmert zu. Ich habe auch bemerkt, dass dies die Sünde persönlicher macht. Wenn wir einen Abgott aus etwas machen, bringen wir ihm die Liebe entgegen, die eigentlich dem Schöpfer und Erhalter gilt. Wird Sünde nicht nur als Gesetzesbruch dargestellt, sondern auch als Vorenthaltung der Liebe, so ist dies beeindruckender. Natürlich beinhaltet eine vollständige Beschreibung der Sünde und der Gnade die Anerkennung unserer Rebellion gegen Gottes Autorität. Doch ich habe bemerkt, dass Menschen von ihrer Sünde überführt werden, wenn sie diese als Abgötterei und falsch gelenkte Liebe begreifen. In gewissem Sinne ist Abgötterei Sucht oder Abhängigkeit in Großbuchstaben. Wir werden von unseren geistlichen Götzen in Beschlag genommen, genauso wie dies Drogen tun.“
Völlig neu sind diese Gedanken ja nicht. Schon Luther betonte ja in der Erklärung des ersten Gebots in seinem Großen Katechismus, dass „allein das Vertrauen und Glauben des Herzens… Gott und Abgott“ macht. „Woran Du nun (sage ich) Dein Herz hängst und Dich darauf verläßt, das ist eigentlich Dein Gott.“
Keller spricht die Herzenseinstellungen an, und auch hier war der Reformator eine Art Vordenker. Luther nannte Sünde oft „Selbstverkrümmung“ (lat. incurvatio in se ipsum): der Mensch, eigentlich auf Gott ausgerichtet und zur Kommunikation und Gemeinschaft mit ihm bestimmt, bleibt in sich selbst eingeschlossen, endet im Zirkel eines unendlichen Selbstgespräches. Oswald Bayer: „Der Sünder versucht, sich bis in die Wurzel seiner Existenz selbst in die Hand zu bekommen, sein Leben radikal selbst zu besorgen“ (Martin Luthers Theologie).
Sünde kann mit einer breiten Reihe von Metaphern beschrieben werden wie Blindheit, Abhängigkeit, Zielverfehlung, Torheit oder Maßlosigkeit (s. Thorsten Dietz dazu in Sünde). Eine Art Rahmengerüst bilden dabei aber drei Perspektiven, die drei grundlegenden Attributen Gottes zugeordnet werden können (nach John Frame control, authority, presence). Sünde kann dreifach gesehen werden: Sünde ist Rebellion und Gesetzesbruch, Gottes Autorität wird missachtet (normative Perspektive); Sünde ist Unglaube und Zielverfehlung, Gottes Kontrolle und Leitung wird misstraut (situative Perspektive); Sünde ist Selbstverkrümmung, Hochmut und egoistische Eigenliebe, wir missgönnen Gottes Liebe und wollen sie ganz allein für uns haben (existentielle Perspektive).
Sünde ist und bleibt ein viel zu wichtiges Konzept, um sie zu ignorieren oder zu banalisieren. Sie ist immer noch Teil der christlichen Botschaft. Doch dies heißt noch lange nicht, andauernd auf Menschen „herumzuschlagen“ zu müssen. Das protestantische Erbe und zeitgenössische Autoren wie Keller (auch C.S. Lewis und sein Die große Scheidung ist ja hier zu nennen) können dabei helfen, Sünde kreativ und Situationen angemessen zu erläutern.