„Wir sollen Gott fürchten und lieben“
„Gottesfurcht ist ein alter Begriff aus der Bibel; sicher ist er auch etwas aus der Mode gekommen.“ So heißt es im „Kirchenlexikon“ bei „Kirche im NDR“. Die Gottesfurcht wird als Ehrfurcht erklärt, aber gleich wird auch hinzugefügt: „Andererseits hat diese Gottesfurcht auch ihre Schattenseiten. Vielleicht wurde uns, als wir Kinder waren, Angst gemacht mit dem Satz: Gott sieht alles! Das kann einen Menschen richtig krank machen. Darum hat ein Psychotherapeut dies einmal als ‘Gottesvergiftung’ bezeichnet.“ Das Fazit des Autors, ein Superintendent in der evangelischen Kirche: „Gott fürchten und lieben – beides gehört zusammen – aber wenn Sie mich fragen: Die Liebe hat das größere Gewicht. Schließlich ist die Bibel eine ‘Gute Nachricht’.“
Die Gottesfurcht, so scheint es, wird gerade so toleriert (oder auch ganz ignoriert wie im „Glaubens-ABC“ auf den EKD-Seiten); sie muss der Liebe den ihr gebührenden höheren Rang zu gestehen; sie steht zumindest in Spannung, möglicherweise auch im Gegensatz zur Botschaft und Frucht des Evangeliums. Alt, aus der Mode geraten und Schattenseiten – Positives ist selten zu der arg verstaubten Tugend zu hören.
Aber damit nicht genug: Am meisten Angst hat man heutzutage offensichtlich vor der Angst vor Gott, und Furcht – in welcher Wortkombination auch immer – riecht verdächtig nach ängstlicher Grundhaltung. Vielfach wird nun zu verstehen gegeben, dass die Gottesbeziehung von Christen einzig von der Liebe dominiert werden soll. Hat die Gottesfurcht als Relikt einer vermeintlich kranken, angstgesteuerten Zeit also ausgedient?
„Der Herr ist denen ein Freund, die ihn fürchten“
Die Gottesfurcht wird jedoch in der gesamten Bibel als eine der wichtigsten Tugenden angesehen. John Murray (1898–1975) hat ihr daher völlig zu recht das letzte Kapitel in seiner Ethik Principles of Conduct gewidmet. Der presbyterianische Theologe bezeichnete diese Tugend sogar als „Seele der Frömmigkeit“. Sie bedeutet eine Haltung des Respekts, der Ehrfurcht und der Achtung Gott gegenüber.
Ältere wie moderne deutsche Bibelübersetzungen sprechen meist von Ehrfurcht, um diese Art der Furcht auszudrücken. Sie ist der Anfang aller Erkenntnis und Weisheit (Spr 1,7; Ps 111,10) oder wird sogar mit Weisheit gleichgesetzt (Hiob 28,28). David betete zu Gott: „Weise mir, HERR, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem einen, dass ich deinen Namen fürchte.” (Ps 86,11)
Gottesfurcht drückt sich konkret im moralischen Handeln aus: „Die Furcht des Herrn hasst das Arge…“ (Spr 8,13). Das Resümee des Buches Prediger: „Lasst uns die Hauptsumme aller Lehre hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote…“ (12,13). Hiob wird im ersten Vers des Buches so vorgestellt: „Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse.“ Abwesenheit von Gottesfurcht gebiert Sünde: „Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen“, so Paulus über den Grund der Gottlosigkeit der Menschen (Röm 3,18).
Es gibt natürlich auch eine falsche Furcht vor Gott, nämlich eine Haltung, die unser deutsches Wort „Angst“ gut erfaßt (s. Jos 8,1; Jes 41,10; Lk 12,32). Natürlich ist hier 1 Joh 4,18 zu nennen: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe.” Christen sind von vielen Arten der Furcht oder eben Ängsten befreit: Wir brauchen das Gericht Gottes und den leiblichen Tod nicht mehr zu fürchten; wir brauchen keine Angst mehr vor anderen Menschen und den Mächtigen dieser Welt mehr zu haben; auch der Verlust irdischer Güter oder unseres Ansehens muss nicht mehr ängstigen. Und natürlich ist auch keine Angst vor Gott mehr nötig.
Christen haben „Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1) und daher keinen „knechtischen Geist“, so dass sie sich nicht „ abermals fürchten“ müssten (8,15). Die Tugend der Gottesfurcht darf daher nicht getrennt werden von der Freundschaft mit Gott (Joh 15,13–15; Ex 33,11; Jak 2,23). Gerade in den Psalmen sind Intimität und Freundschaft mit Gott mit Ehrfurcht und Achtung verbunden: „Der Herr ist denen ein Freund, die ihn fürchten“ (Ps 25,14; s. auch Dt 10,12).
Auch im Neuen Testament verliert die Gottesfurcht nichts von ihrer Bedeutung (s. z.B. Lk 1,50; Apg 9,31; 2 Kor 7,1; Kol 3,22; Phil 2,12;1 Pt 2,17). Besonders interessant ist dabei der Abschnitt Hebr 12,18f. Es geht in dem Kapitel um den Glaubensweg der Christen. „Nun habt ihr Gott ja auf ganz andere Weise kennen gelernt als die Israeliten damals am Sinai“, so der Autor in V. 18. Dort hatte das Volk unter Mose eine Gottesbegegnung, die ihnen „Angst und Schrecken“ (V. 21) einjagte. Christen dagegen, das Volk des Neuen Bundes, sind „zum Berg Zion gekommen, zur Stadt des lebendigen Gottes, zu dem Jerusalem, das im Himmel ist“ (V. 22), „ zu dem Vermittler des neuen Bundes gekommen, zu Jesus“ (V. 24).
Der christliche Glaube ruht auf einem Offenbarungsfortschritt; Christen haben ein Mehr an Segnungen, einen besseren Zugang zu Gott, mehr Glaubensgewissheit usw. Und dennoch warnt der Autor sogleich: „Hütet euch also davor, den abzuweisen, der zu euch spricht! “ (V. 25) Damals, am Sinai, „kam keiner ungestraft davon, der sich seinen Anweisungen widersetzte“, und dies war ‘nur’ „ein Ort auf Erden“. Zu uns Christen „jedoch spricht er vom Himmel her. Wie viel schlimmer wird es uns daher gehen, wenn wir uns von ihm abwenden!“
Es ist also keineswegs so, dass im Zeitalter des Neuen Bundes alle Ansprüche Gottes auf einmal aufgeweicht worden wären und es nun allgemein lockerer zuginge – nach dem Motto: im AT ging’s streng zu, und nun ist Entspannung angesagt. Nicht selten im NT ist die Logik wie eben hier eine andere: Wenn damals schon, dann nun umso mehr.
Der Abschnitt endet mit dem Ausblick auf die Zukunft: „Auf uns wartet also ein unzerstörbares Reich.“ (V. 28) Dafür sollen wir dankbar sein, „und aus Dankbarkeit wollen wir ihm mit Ehrfurcht und Ehrerbietung so dienen, dass er Freude daran hat.“ Die Grundmotivation des Christen im Handeln ist Dankbarkeit Gott gegenüber (s. die Überschrift von Teil 3 des Heidelberger Katechismus!). Aber dies schließt Ehrfurcht durchaus ein, widerum nach der Logik: wenn schon damals Ehrfurcht, dann nun umso mehr. Falls dies einem der Leser entgangen sein sollte, sattelt der Autor mit dem abschließenden V.29 noch einen drauf: „Denn eines dürfen wir nie vergessen: Unser Gott ist wie ein Feuer, das alles verzehrt.“ Der Vers hat AT-Geschmäckle, aber er steht eben im NT, dessen Gott eben immer noch der eine „lebendige Gott“ (Hbr 10,31) ist.
„Mit Liebe verbundene Ehrfurcht“
Zu allen Zeit können Gläubige daher beten: „Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen vor dem HERRN, der uns gemacht hat.“ (Ps 95,6) Und im Alten wie im Neuen Bund, damals wie heute, werden die Zehn Gebote gelesen, gelernt und erläutert. Das erste lautet schlicht: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (Ex 20,3). Luther erläuterte es in seinem Kleinen Katechismus kurz und prägnant: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Das Gebot wird als eine Art Präambel angesehen, das die Erläuterung der folgenden Gebote bestimmt, denn er leitet die Auslegung der Gebote zwei bis zehn immer gleich wie folgt ein: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass…“
Ähnlich auch der Heidelberger Katechismus zum ersten Gebot: Wir sollen Gott „von ganzem Herzen lieben, fürchten und ehren“ (Fr. 94). Das erste Gebot ist absolut grundlegend, denn ohne Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gottesliebe wollen und können wir auch alle folgenden Gebote nicht erfüllen, wie Luther unterstrich.
Johannes Calvin schreibt in seiner Institutio, dass es Ziel der Gotteserkenntnis ist, „Gott zu fürchten und zu ehren“. Die „reine und unverfälschte Religion“ fasst er so zusammen: „Glaube und ernste Gottesfurcht miteinander verbunden!“ (I,2,2) Im gleichen Kapitel bringt er aber auch die Liebe ins Spiel: „Frömmigkeit nenne ich die mit Liebe verbundene Ehrfurcht vor Gott, welche aus der Erkenntnis seiner Wohltaten herkommt.“ (I,2,1) Die Wohltaten sind die Rettung durch Christus und seine Segnungen. Laut Calvin fließt aus dieser Erkenntnis der Guten Nachricht Ehrfurcht.
Es ist also nicht so, dass die Ehrfurcht mit dem zornigen Vatergott des AT und die Liebe mit dem netten Gottessohn im NT verbunden werden können. Über den Messias heißt es Bei Jesaja: „Der Geist des Herrn lässt sich auf ihm nieder. Der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht“ (Jes 11,2). Der Sohn Gottes steht in einer Beziehung der Liebes und der Ehrfurcht zum Vater. Die Personen der Dreieinigkeit haben Achtung voreinander. Die Furcht vor dem Herrn ist wie die Weisheit und die Kraft eine Gabe des Heiligen Geistes.
Sicher, Gottesfurcht kann entarten und im Sinne der bloßen Angst auch ihre Schattenseiten entfalten. Aber das gilt für die Liebe genauso! (C.S. Lewis hat dies in einer Szene der Großen Scheidung am Beispiel der mütterlichen Liebe gut dargestellt.) Es ist daher nicht zu sehen, warum die Liebe „das größere Gewicht“ haben müsste. Wir sollen „in der Liebe“ bleiben (1 Joh 4,16), und dem widerspricht in keiner Weise „Wohl dem, der in Gottes Furcht steht“ (Ps 128,1).
Luthers „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“ ist also weiterhin als sinnvolle Zusammenfassung der Gottesbeziehung anzusehen. Dass die Gottesfurcht „aus der Mode gekommen“ ist, liegt auch daran, dass sein Kleiner Katechismus seine einstige Prägekraft leider weitgehend verloren hat.