Calvin als Pastoraltheologe
Calvin und Genf. Reformierte Christen wissen, dass sie bei der Erörterung dieser Stichwörter außerhalb der eigenen Kreise aus dem Verteidigungsmodus kaum herauskommen. Was bekommt man da nicht alles zu hören, angefangen bei dem Klischee „Calvin – war das nicht der Diktator von Genf?“ Oder der Tugendterrorist, der seinen Bürgern bis in die Privaträume nachschnüffeln ließ? Bald landet man gewiss beim Spanier Miguel Serveto, der wegen Leugnung der Dreieinigkeit hingerichtet wurde. Auf Calvins Geheiß, auf kleiner Flamme. Was soll von diesem Feind der Toleranz, dieser moralisch fragwürdigen Gestalt zu lernen sein?
Natürlich müssen all diese Vorwürfe, zusammengesetzt aus Lügen, Halbwahrheiten und Verdrehungen, widerlegt werden; und das, was uns heute nach allem Zurechtrücken immer noch schwer verständlich erscheint, ist historisch einzuordnen und zu erklären. Meist hat man mit all dem so viel zu tun, dass für das Positive und Vorbildliche aus dem Genf ‘unter’ Calvin kaum noch Puste bleibt. Und da gibt es so viel, was bis heute große Relevanz hat: Wiederentdeckung des Amts des Diakons und der Gemeindediakonie, außerdem die Kranken- und Gefängnisseelsorge; eine auf Mission orientierte Kirche, Ausbildung für Mission und missionarische Literatur; Arbeit unter Flüchtlingen, sozialer Zusammenhalt angesichts von Migration; das Ringen um die Eigenständigkeit der Kirche, die zumindest damals schon angestrebte klare Trennung von kirchlichen und öffentlichen bzw. staatlichen Aufgaben.
Viel zu wenig wird außerdem beachtet, ja es geht fast schon unter, dass Calvins Neuordnung des Amts des Gemeindepastoren bis heute viele hilfreiche Lektionen bereithält. Der Reformator hatte früh begriffen, dass der Dienst von Pastoren entscheidend für das Gelingen der Kirchenreform ist. Bekanntlich machte er sie nicht zu den alleinigen Leitern der Gemeinden; die Kirchenordnung von 1541 (frz. ordonnances ecclésiastiques) sah auch weitere Ämter vor wie das des Lehrers, des Ältesten und des Diakons.
Eine Kirchenleitung durch einen Bischof wie traditionell gab es in Genf nicht mehr. Oberstes kirchliches Gremium war das Konsistorium (consistoire), zu dem die Ältesten sowie die Stadtpastoren gehörten. Sein Aufgabenbereich bestand vor allem in der Aufsicht der Lebensführung der Bewohner, wenn nötig der Disziplin; hier waren auch die Pastoren eingeschlossen. Was heute sofort noch Kontrollwahn klingt, hatte aber auch schon damals mehr den Charakter von Konfliktberatung und Seelsorge. Der geordnete Rahmen eines Gremiums gewährleistete außerdem, dass hier niemand dem Willen eines Einzelnen ausgeliefert war.
Nur die Pastoren waren in der „Compagnie des pasteurs“ zusammengeschossen, die Gesellschaft oder Vereinigung der Pastoren. Die drei Stadtpfarreien und die Umlandgemeinden Genfs hatten ca. 15–20 Pastoren. Insgesamt dienten zu Zeiten Calvins und seines Nachfolgers Beza, also zwischen 1536 und 1609, rund 130 Männer als Pastoren in Genf und Vororten.
In der Compagnie waren alle Pastoren von ihrem Rang her grundsätzlich gleichgestellt. Calvin war nie Diktator der Stadt, denn der Rat der Stadt thronte über allem, letztlich auch der Kirche und ihren Pastoren. Und Calvin bekleidete nie ein anderes Amt als das des Pastors. Als Ausländer und Migrant ohne Bürgerrecht (bis einige Jahre vor seinem Tod) hatte er sowieso keinerlei echtes Mitspracherecht in den Top-Angelegenheiten der Stadt. Aber auch in der Kirche war er gleichrangiger Kollege der Pastoren. In der Compagnie hatte er die Funktion des Moderatoren (modérateur) übernommen, das aber keine Vorrangstellung mit sich brachte.
Die Compagnie traf sich freitags zu einer Pastorenkonferenz. Vorher, gegen 7.30, kamen sie zur „congrégation“ zusammen, einer Art öffentlichen Übungsstunde in Bibelauslegung. Die Pastoren, auch Theologiestudenten und interessierte Laien konnten teilnehmen. Jeweils ein bis zwei der Pastoren trugen einen Bibelabschnitt und seine Deutung vor. Daraufhin konnten Fragen vorgebracht werden, auch vom Laienpublikum, und die Interpretation kritisch erörtert werden. Die Kirchenordnung sah für die Congrégation ausdrücklich „Diskussionen über die Bibel“ vor.
Im Hintergrund steht 1 Kor 14,26, dort vor allem das Ziel der „gegenseitigen Erbauung“. Bemerkt werden muss auch, dass die Congrégation nicht Calvins Erfindung war. In Zürich hatte Zwingli schon Jahre zuvor nach dem gleichen Prinzip die Pastoren um sich geschart, was dort die „Prophezei“ genannt wurde.
Calvin hatte begriffen, dass Pastoren Teamarbeiter sind und sein müssen. Sie brauchen den kollegialen Rahmen, die gegenseitige Unterstützung und Begleitung. Das Amt brachte schon damals so viele Herausforderungen mit sich, dass der einzelne „Diener des Wortes“ vor allem eine Gruppe zum Austausch, aber auch zur Korrektur benötigte.
Diese seelsorgerliche Dimension können wir heute recht leicht nachvollziehen. Auch Pastoren brauchen Mentoren, Beistand und brüderlichen Rat. Ungewöhnlicher ist da schon, dass Calvin auch die Exegese und Bibelauslegung in der Gemeinschaft verortete. Der Pastor einsam an seinem Schreibtisch – das war nicht Calvins Ideal. Auch in der Verkündigung und Lehre der Schrift ist der Pastor nicht so sehr Einzeltäter, sondern in die Gruppe der Kollegen eingebunden (und letztlich natürlich in die Auslegungstradition der ganzen Kirche).
Calvin hatte erkannt, dass der einsame Pastor in jeder Hinsicht eine Gefahr ist. Er lässt die Flügel hängen oder versteigert sich in hohe Ambitionen; der vereinzelte Theologe ist auch anfällig für abseitige Interpretationen und diverse Irrlehren. Die Kirchenordnung sah vor, dass man sich bei Lehrunterschieden versammeln solle, um die Sache gemeinsam zu diskutieren. Calvin begriff: Je weniger wir gemeinsame Diskussionen um Lehrinhalte haben, desto mehr werden Irrlehren ins Kraut schießen.
Die Congrégation und die Pastorenkonferenz stellten einen Kontext dar, in dem Einheit der Lehre ohne Gewalt und Hierarchie gewährleistet werden konnte. Gewiss wird Calvin durch seine Kenntnisse und sein Ansehen eine wichtige, wohl auch herausragende Rolle bei diesen Zusammenkünften gespielt haben (s.o. die Illustration). Aber von einem Diktat eines Einzelnen konnte eben nicht die Rede sein. Auch er musste seine Ansichten begründen und sie der Kritik aussetzen. Calvin war unter seinen Kollegen nicht der Allwissende, der seine dümmeren Amtsbrüder in Vorlesungen belehrte – sie waren all in der ständigen Weiterbildung, die eben nicht durch Gurus erfolgte, sondern durch gegenseitigen Austausch und Diskussion.
Beachtet werden sollte schließlich der öffentliche Charakter der Congrégation. Die Pastoren ließen hier in ihre Handwerksstube blicken: Auf diese Weise arbeiten wir, nach diesen Regeln legen wir die Bibel aus, mit diesen Problemen ringen wir dabei, zu solch unterschiedlichen Ergebnissen kommen wir, nicht selten machen wir Fehler – was für ein Gewinn für die Laien! So wird unterstrichen, dass Predigt und Theologie nicht im Elfenbeinturm stattfinden, sondern auf die Gemeinde ausgerichtet sind; dass sie transparent in ihrer Methodik sein müssen; und vor allem: die Experten präsentieren sich selbst als fehlbar, sie demonstrieren ihre Kollegialität und Korrektur, der sie ausgesetzt sind. Was sie auf ‘professionelle’ Weise tun, das Ringen mit dem Bibeltext, wird so dem Kirchenvolk vormodelliert.
Vieles von diesen Dingen ist nachzulesen Calvin’s Company of Pastors: Pastoral Care and the Emerging Reformed Church, 1536-1609 von Scott Manetsch, der in der TEDS unterrichtet. S. auch dieser Vortrag von Manetsch zum Thema.