Ab wann Mensch?
In Deutschland gibt es schon seit vielen Jahren keine breite Diskussion mehr um den Status des vorgeburtlichen menschlichen Lebens. Am im weltweiten Maßstab recht strenge Embryonenschutzgesetz rüttelt zur Zeit niemand, aber auch die Abtreibungsregelung wird nicht hinterfragt. In anderen Ländern kommen diese Fragen ab und an auf die Tagesordnung wie natürlich zuletzt im US-Wahlkampf. Donald Trump bezeichnete sich als „pro life“, wobei er dies nicht konkretisierte; seine Angaben zu politischen Maßnahmen blieben im Ungefähren. Kontrahentin Clinton bezog eine fast schon extreme „pro choice“-Position und rechtfertigte weiterhin Spätabtreibungen. Für viele Evangelikale war sie damit nicht wählbar.
In Litauen wurde in diesem Jahr das Gesetz über die künstliche Befruchtung kontrovers diskutiert, s. hier und hier. Erst wurde eine „konservative“ Version angenommen, nach Veto der Präsidentin wurde daraus aus ein recht „liberales“ Gesetz. Nun, nach der Wahl zu einem neuen Parlament, wird das Paket noch einmal aufgeschnürt! Die siegreiche Partei der Landwirte und Grünen hat sich den Lebensschutz auf die Fahnen geschrieben. Mit einer starken Fraktion im Seimas will man auch das Gesetz verbessern. In den Medien ist der Rummel groß, und wieder wird viel gezetert: die ‘Fortschrittlichen’ sehen überall den schlimmen Finger der Kirche…
Die ganze Debatte ist wenig fruchtbar, da gleichsam über den dritten Schritt gestritten wird – anstatt über den ersten. Es gibt nämlich bisher keinerlei gesetzliche Regelung und damit Schutz des vorgeburtlichen menschlichen Lebens. Einzig ein Ministererlass erlaubt die Abtreibung in den ersten 12 Wochen. Der Status des Embryo ist also völlig in der Schwebe, aber kaum ein Politiker wagt sich an ein Embryonenschutzgesetz o.ä. – dann würde der weltanschauliche Konflikt noch offensichtlicher, und Mehrheiten kann man selbst im katholischen Litauen damit nicht gewinnen.
Ist das ungeborene Kind ein Mensch und eine Person – und ab wann? Als 2008 in Litauen die Abtreibung heiß debattiert wurde, nahm Holger in einem ausführlichen Beitrag Stellung. Hier ein Auszug in deutscher Sprache (litauisch hier) aus den 10 Thesen zur der entscheidenden Frage, die sowohl die Abtreibung als auch die In-Vitro-Befruchtung betrifft.
Tatsächlich kann man in Litauen von verantwortlichen Ministeriumsmitarbeitern wie vor einigen Wochen in einer TV-Sendung Sätze wie diesen hören: „In biomedizinischer Sicht ist von einem lebendigen Menschen erst mit der Geburt zu sprechen“, will sagen: das ungeborene Kind ist kein Mensch. Sicherlich stellt die Geburt des Kindes auch in rechtlicher Hinsicht eine entscheidende Zäsur im Leben dar, und natürlich ist erst das entnabelte Kind neuer Erdenbürger mit Namen und Eintrag im Geburtsregister usw. Doch ist das Kind vor der Geburt tatsächlich Nicht-Mensch, Nicht-Person? Kann man sich das Probem etwa so leicht hinwegdefinieren?
Irgendwann ist menschliches Leben zu schützen, aber ab wann? Ist die Unabhängigkeit von der Mutter das entscheidende Kriterium? Wenn das Kind in der Gebärmutter nur Teil des Mutterleibes ist, warum lässt man dann nicht auch Spätabtreibungen zu (nach dieser Logik ist das Kind ja im ersten Monat genauso Teil der Mutter wie im neunten)? Unabhängigkeit ist ein viel zu relativer Begriff, da diese auch nach der Geburt ja noch so gut wie nicht vorhanden ist – das Kind ist fast genauso abhängig wie vorher, nur eben nicht mehr im Mutterleib und selbst atmend. So wundert es daher auch nicht, wenn Francis Crick, Mitentdecker der Doppelhelix, Kindern erst einige Monate nach der Geburt den Rechtstitel Mensch zusprechen will, und zwar durch eine geeignete Kommission.
Ist das Kind Mensch, wenn es außerhalb der Mutter – theoretisch – überleben kann? Diese Überlebensfähigkeit scheidet als vernünftiges Kriterium ebenfalls aus. Denn das Überleben garantieren ja nur technische Apparaturen, und diese Grenze rückt immer weiter nach vorne. Früher starben fast alle Frühgeburten, heute ist ein Überleben schon ab etwa der 22. Woche wahrscheinlich. Rückt damit auch die ‘Menschwerdung’ nach vorne?
Carl Sagan, der 1996 verstorbene berühmte Astrophysiker, nahm in seinem letzten (posthum erschienenen) Buch Billions and Billions / Gott und der tropfende Wasserhahn auch Stellung zu der Abtreibungsproblematik. Sagan gibt zu, dass die Frage, „wann das Menschsein entsteht, von entscheidender Bedeutung für die Abtreibungsdebatte ist“. Auch Sagan sucht nach dem Punkt, wo aus dem Etwas ein Mensch wird: „Am Ende der achten Woche ähnelt das Gesicht dem eines Primaten…“; erst „in der zehnten Woche hat das Gesicht einen unmissverständlich menschlichen Schnitt“. Sagan ist so ehrlich und spricht von Willkür und „unsicherem Terrain“. Aber wenn man Abtreibung zulassen will, muss man eben irgendwo eine Grenze setzen: „Wenn wir gezwungen sind, uns für ein Entwicklungskriterium zu entscheiden, dann möchten wir hier die Grenze ziehen: wenn das charakteristische Denken gerade einsetzen könnte“. „Hirnwellen mit regelmäßigen Mustern“ sind, so Sagan, ab der 30. Schwangerschaftswoche erkennbar. Jüngere Föten „können noch nicht denken“. Er will die Grenze also bei etwa 6-7 Monaten ziehen. Sagan gibt übrigens zu, dass „Lebensfähigkeit“ ein „ganz pragmatisches Kriterium“ ist. Eine Moral, die von der Technik abhängt, hält er für „inakzeptabel“.
Für Sagans Kriterium der Denkfähigkeit scheint so Manches zu sprechen. Ist der Mensch nicht vor allem ein denkendes Wesen? Unterscheidet ihn nicht vor allem das Denken vom Tier? Doch man vergleiche nur Sagans Vorschlag mit anderen Grenzsetzungen, die sich an der Hirnentwicklung orientieren. Hans-Martin Sass zufolge beginnt das spezifisch menschliche Leben viel früher als bei Sagan! In Analogie zum Hirntod gelangt der Philosophieprofessor aus Bochum zu dem eindeutigen Schluss, „dass wir vom 70. Tage nach der Empfängnis dem werdenden menschlichen Leben den vollen rechtlichen Schutz und die ungeteilte ethische Solidarität und Achtung bedingungslos entgegenbringen müssen“, weil von diesem Zeitpunkt an mit dem Beginn der neuronalen Synapsenbildung vom ‘Hirnleben’ zu sprechen ist.
Wo also ist nun die Grenze zu ziehen? Ab dem 42. Tag beginnt das zentrale Nervensystem zu funktionieren; im Laufe des 5. Monats entwickelt sich die Hirnrinde; Peter Singer plädiert für das bewusste Schmerzempfinden als Grenze, die er bei der 18. Woche ansetzt; oder doch erst die 30. Woche? Aber dürfen wir wirklich die Denkfähigkeit so herausheben? Was ist dann mit lebenden Menschen, die wegen Krankheit (z.B. Demenz) oder Behinderung oder im Koma die Denkfähigkeit weitgehend verloren haben? Sind sie dann auch nicht mehr schützenswerte Personen??
Auf weitere Kriterien wie die Möglichkeit der Zwillingsbildung (etwa am 14. Tag) oder die Einnistung in der Plazenta (zwischen dem 7. und 9. Tag) könnten wir hier noch eingehen, doch sie sind für Abtreibungsbefürworter eh uninteressant, weil zu früh. Kurz muss noch auf das Argument eingegangen werden, dass das ungeborene Kind noch keine schützenswerte Person sei. Denn viele müssen ja zugeben, dass der Embryo menschliches Leben darstellt – aber er sei eben noch keine menschliche Person.
Dies ist auch wieder fast schon banal: Natürlich ist das ungeborene Kind keine Person, wie wir dies im Alltagsgebrauch verstehen – kein selbständiges, selbstbewusstes, planendes, kreatives usw. handelndes Wesen. Person in vollem Sinne ist dann aber auch ein (kleines) Kind noch nicht, denn Kindsein definiert sich gerade so: das Kind ist ‘nur’ im Prozess des Heranreifens zu einer vollen Persönlichkeit. Es ist daher sinnvoll zwischen Personalität und Persönlichkeit zu unterscheiden: Das Kind hat von der Zeugung an volle Personalität, ist ein unverwechselbarer Mensch mit seinem eigenen Gensatz, wächst dann aber bis zum Alter von soundsovielen Jahren zu einer Persönlichkeit heran.
John Stott bekräftigt ähnlich: „Der Fötus ist weder ein Gewächs im Leib seiner Mutter noch ein potentieller Mensch, sondern er ist bereits ein Mensch, der, obwohl er noch nicht voll entwickelt ist, dennoch die Möglichkeit hat, in der Fülle des Menschseins, das er schon besitzt, hineinzuwachsen“ („Das Abtreibungsdilemma“, in: Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit, Bd. 4). Der Ethiker Paul Ramsey (1913–1988) aus den USA: „Das menschliche Individuum wird als winziges, Information enthaltendes Pünktchen existent… Seine spätere prä- wie postnatale Entwicklung lässt sich beschreiben als der Prozess, das zu werden, was es bereits vom Augenblick der Empfängnis an war.“ (Fabricated Man). Das ungeborene Kind entwickelt sich also nicht zum Menschen, sondern er entwickelt sich als Mensch.
Jede Grenzziehung zwischen „menschlichem Leben“ und „Mensch“ ist damit willkürlich. Immer muss scharf zurückgefragt werden: Ab wann hältst du denn den Menschen für schützenswert und aus welchen Gründen? Nach welchen Kriterien entscheidest du dies?
Es ist daher festzuhalten: Anders als die Staatsekretärin des Gesundheitsministeriums erscheinen lassen wollte, herrscht heute weitgehender Konsens darüber, dass menschliches Leben mit der vollendeten Verschmelzung von Samen- und Eizelle beginnt. Das deutsche Verfassungsgericht stellte daher in seinem Urteil von 1993 auch richtig fest: „wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“. Die Kollegen vom US Supreme Court haben es sich in ihrem Abtreibungsurteil „Roe vs. Wade“ viel zu einfach gemacht: „Wir müssen die schwierige Frage, wann [menschliches] Leben beginnt, nicht lösen“, behaupteten sie. Wir wissen, wann menschliches Leben beginnt. Schwierig ist es aber tatsächlich eine Grenze anzugeben, vor der menschliches Leben noch nicht schützenswert sei. Hier gibt es keine einheitliche Meinung, keinen Konsens. Auch der 12-Wochen-Zeitraum ist letztlich völlig willkürlich gewählt und mehr oder weniger pragmatisch (und wird daher auch von Sagan abgelehnt!).
Bei der ersten Internationalen Abtreibungskonferenz 1967 in Washington wurde richtig festgestellt: „Wir können keinen Zeitpunkt zwischen der Vereinigung des Spermas mit dem Ei und der Geburt eines Kindes bestimmen, zu dem wir sagen könnten, es handle sich nicht um menschliches Leben.“ Und der Philosoph Robert Spaemann resumiert: „Jeder, der glaubt, eine zeitliche Grenze für den Anfang der personalen Existenz des Menschen angeben zu können… die später liegt als der Augenblick der Zeugung, trägt dafür die Beweislast“ (Grenzen – zur ethischen Dimension des Handelns). Spaemanns Schüler, der Philosoph und Historiker Reinhard Löw (1949–1994), meinte,
„daß überhaupt kein Mensch eine Kompetenz hat, über das Lebensrecht anderer Menschen prinzipiell und dank Kriterien zu entscheiden. Das äußerste, was er philosophisch einsehen kann, ist, daß das Lebensrecht an keine Kriterien geknüpft ist, die erst von ihm festgesetzt werden mußten.. Die biologische Zugehörigkeit setzt sich von selber fest. Sie ist ihrerseits geknüpft an die Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Von diesem Akt an – ich sage bewußt Akt und nicht ‘Zeitpunkt’, um nicht den beschämenden Haarspaltereien um Millisekunden und Nanometer ausgesetzt zu sein, welche ganz genau definiert haben wollen, was sich genau wohin bewegt haben muß, damit man usw. usw. -, also: von diesem Akt an ist menschliches Leben – nicht ‘werdendes Leben’, sondern Leben!!! – da, ein teleologisch verfaßter Keim, der ausgerichtet ist auf sein Geborenwerden, ein Keim, aus dem ein gleich freier Mensch hervorgehen soll, wie alle anderen es sind. Jeder Mensch tritt in dieser Weise als gezeugtes und geborenes Mitglied in die Gesellschaft ein. Er ergreift seine Rechte, ohne sie anderen verdanken zu müssen, und er verliert sie nicht bis zu seinem Tode. Sie sind nicht geknüpft an Gesundheit, Bewußtsein, Intelligenzquotient, nicht an Volk und Rasse, nicht an Religion und Verfassungsart. Es gibt kein mehr oder weniger des Lebensrechts. Jeder Angehörige der Gattung Mensch hat jeden anderen Menschen als Wesen gleichen Rechts und gleicher Würde zu respektieren. Andernfalls könnten die jetzt gerade lebenden Menschen mit ihren Definitionen von ‘menschlich’ oder ‘noch nicht menschlich’ oder ‘nicht mehr menschlich‘, von ‘lebenswert’ oder ‘lebensunwert’ usf. jederzeit die Anzahl derer, die diese Rechte beanspruchen dürfen, einschränken. Wer gerade mitredet oder mitentscheidet, der könnte sich allein das Lebensrecht reservieren. All dieses Knüpfen des Lebensrechts an Kriterien, ich betone es noch einmal, hat keinen anderen Hintergrund als den naturalistischen des ‘Rechts des Stärkeren’.“ („Recht und Naturwissenschaft Lebensrecht als Richtschnur oder Fessel?“)
(Bild o.: Studie des Fötus im Mutterleib, Leonardo da Vinci)