Wirtschaft des Manna?
Kaum hatten die Israeliten das Schilfmeer durchquert und waren wundersam den Ägyptern entflohen, sehnten sie sich nach den Fleischtöpfen des Landes zurück. Kein Wunder, gab es in der Wüste doch nichts zu essen. Gott war seinem Volk jedoch gnädig und versorgte es auf übernatürliche Weise: „Da sprach der Herr zu Mose: Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen, und das Volk soll hinausgehen und täglich sammeln, was es für den Tag bedarf…“ (Ex 16,14) Dieses neuartige Brot wird einige Verse später „Manna“ genannt.
Der christliche Aktivist und Autor Shane Clairborne knüpft in Economy of Love an dieser Episode an und sieht den täglichen Empfang von Manna als paradigmatisch für eine neue Wirtschaftsform an:
„Nachdem Gott die Israeliten [aus Ägypten] herausgeführt hatte, war eines der ersten Gebote, das sie erhielten, ‘Nehmt nicht mehr, als ihr für einen Tag braucht’. Gott richtete eine Wirtschaftsweise ein, in der die Israeliten Gott vertrauen sollten, dass er sie täglich mit Brot versorgt. Viele Dinge wurden so geordnet, um aus ihnen Gottes heilige Gegenkultur in der Welt zu machen und um der Welt zu zeigen, wie eine Gesellschaft der Liebe tatsächlich aussieht.”
Das Stichwort „Wirtschaft des Manna“ fällt im „Sao Paulo Statement“ der World Communion of Reformed Churches (WCRC) aus dem Jahr 2012. Ein längerer Auszug, zustimmend zitiert, findet sich im EKD-Text 122 „… damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen– Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung“:
„Wir beklagen die Art und Weise, in der wirtschaftliche und finanzielle Gesetze und Kontrollen die Wohlhabenden begünstigen […] und fordern ein System gerechter Gesetze und Kontrollen, welche die Umverteilung von Reichtum und Macht für die ganze Schöpfung Gottes erleichtern. […] Wir lehnen die Explosion der Monetarisierung und die Ökonomisierung allen Lebens ab und bekräftigen eine Theologie der Gnade, die dem neoliberalen Drang widersteht, das ganze Leben auf den Tauschwert (Röm. 3,24) zu reduzieren. […] Wir lehnen die Ideologie des Konsumismus ab und bekräftigen eine Wirtschaft des Manna, die für alle ausreichend ist und die Idee der Gier verneint (Ex. 16). […] Wir lehnen den zunehmenden individualistischen Konsumismus ab, indem wir die Vielfalt und Vernetzung des Lebens bekräftigen und feiern. Wir bejahen ferner, dass Ganzheit des Lebens nur durch gegenseitige Beziehungen mit der gesamten geschaffenen Ordnung erreicht werden kann.“
Franz Segbers plädiert ebenfalls für eine „Ökonomie des Genug“ und nimmt die Geschichte vom Manna zum Vorbild:
„Die Grundgeschichte der Ökonomie des Sabbat, die im Grunde genommen eine Ökonomie des Genug ist, ist die Erzählung vom Manna. Kaum der Sklaverei in Ägypten entkommen, stellt sich dem Volk die Frage, wie man außerhalb des pharaonischen Systems leben kann. Die Mannaerzählung gibt auf diese Frage eine Antwort. Sie ist nicht einfach eine Erzählung einer wundersamen Speisung, die man vielleicht mit dem Hinweis auf ein Sekret der Tamariskenbäume erklären kann. Sie ist eine ökonomische Lehrgeschichte, die Gottes Alternative zur ägyptischen Wirtschaft – eine auf Sklavenarbeit basierende ‘Hochkultur’ – aufzeigt.“
Der altkatholische Theologe weiter: „Jede Familie wird angewiesen, nur so viel zu sammeln, wie zum Essen gebraucht wird. Dieses Recht auf Nahrung wird ohne Einschränkungen zugestanden. Gott sorgt dafür, dass es Nahrung gibt und dass diese Nahrung für alle reicht.“
Segbers Anwendung des Bibeltexts sieht nun so aus: „Die Knappheitsökonomie ist im Neoliberalismus auf die Spitze getrieben. Sie geht von einer sinnverkehrten Realität aus. Sie unterstellt Mangel und Knappheit und fordert Wachstum über alles, wo doch Fülle, sogar Überfülle existiert. Mitten im Überfluss predigt sie Wachstum als Lösung und wirft den Menschen Angstsparen vor, wenn sie sich nicht auf Konsumieren als erste Menschenpflicht reduzieren lassen.“ In seiner Vision wird der „technologische und wirtschaftliche Fortschritt in den Dienst des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens der Menschen“ gestellt.
Zahlreiche Zitate dieser Art ließen sich anführen. Hier sei nur noch Charles Eisenstein erwähnt, der in Kapitel zwei von Sacred Economics – inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt – von der „Illusion der Knappheit“ spricht. Dieser „Mythos“ müsse bekämpft werden.
Ökonomie des Manna, des Genug, des Sabbats, der Liebe, ja sogar heilige Ökonomie – wohlklingende Begriffe, die aber ähnlich wie das Wort „sozial“ – so ja vor allem F.A. Hayek – aus hehren Begriffen wie Gerechtigkeit alle Bedeutung heraussaugt. Eine Wirtschaft des Genug oder gar des Manna ist eine Illusion, ein Mythos, ja ein grober Unsinn.
Aller Träumerei von Überfluss bleibt es dabei: die Realität ist Knappheit, denn so gut wie alles, was uns umgibt, ist von Menschen erdacht und von ihren Händen und Maschinen erstellt bzw. verändert worden. Die Natur stellt uns vielerlei Rohstoffe und Materialien bereit, aber selbst die alltäglichsten Dinge wie eben auch das tägliche Brot müssen produziert werden.
Dies galt auch für die Israeliten. Während der Wüstenwanderung versorgte sie Gott mit Brot (und Fleisch) vom Himmel – weil es dort, in der Einöde, eben so gut wie nichts gab, mit dem Nahrungsmittel hätten produziert werden können. Aber im Gelobten Land gab es natürlich kein Manna mehr. Auch wenn dies Land reich an Schätzen und fruchtbar war, musste das Volk dort Ackerbau und Viehzucht betreiben. Die Wirtschaft des Manna war eine vorübergehende Ausnahmeordnung. Sie hatte vor allem einen pädagogischen Zweck: das Lernen der Abhängigkeit von Gott (s. Dt 8,3–5). Wenn von „heiliger Gegenkultur“ (Claiborne) zu reden ist, dann sollte auf die Ordnung im Land geschaut werden, nicht auf die Wüstenzeit.
Die Wirtschaft der Wildnis
Der Theologe und Ökonom Gary North geht auf das Wunder des Manna auch in seinem Wirtschaftskommentar zum Matthäusevangelium ein:
„Das Modell einer freien Gesellschaft ist nicht Israels wundersames Erlebnis in der Wildnis, wo Gott ihnen Manna gab und viele Lasten der Entropie [wie des natürlichen Verfalls der Kleider] beseitigte. Die Wunder der Wüstenwanderung hatten die Aufgabe, die Menschen vor Gott zu demütigen und Unterordnung zu lehren. Die Erfahrung in der Wüste war nicht durch Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, sondern durch wirtschaftliche Stagnation und totale Abhängigkeit […]. Die Erfahrung in der Wüste war ein Mittel, sie zu lehren, dass Gott in der Geschichte aktiv ist, um sein Volk zu bewahren. Die Wirtschaft in der Einöde mit seinen regelmäßig auftretenden Wundern war nicht als Ideal gedacht, nach dem das Bundesvolk streben sollte. Israel sehnte sich nach dem Ende der Wüstenwanderung.“
North schlägt Brücken in die Gegenwart – aber ganz andere als die eingangs Zitierten: „Die Wirtschaft der Wildnis war eine Wohlfahrtsökonomie. Die Israeliten waren mit grundlegenden Notwendigkeiten versorgt, obwohl die Menschen nicht arbeiteten.“
Als Maßnahme in einer Ausnahmesituation hatte dies seine volle Berechtigung. North weist auch noch auf etwas anderen hin: „Das Wohlfahrtsprogramm der Wüste hatte ein Gutes“, so der Fellow des Mises Institute in den USA. Es wurde nämlich „nicht der Staat zur Vermittlung der positiven Segnungen genutzt. Niemand wurde gezwungen, für den Lebensstil eines anderen zu zahlen. Gott benutzte eine kontinuierliche Reihe von Wundern, um sie alle zu erhalten. Es gab kein Zwangsprogramm der Umverteilung von Reichtum. Israel in der Wüste war eine Wohlfahrtsgesellschaft, kein Wohlfahrtsstaat.“
Hier liegt die Krux der heutigen Begeisterung für die Wirtschaft des Manna: Tatsächlich fällt ja heute kein Manna vom Himmel; so gut wie alle Güter und Reichtümer werden erwirtschaftet, und auch die in „Überfülle“ existierenden Reichtümer der Natur werden allermeist verarbeitet, bevor wir sie nutzen. Direkt von Gott kommt daher kaum etwas, fast alle Güter, die von uns für Interesse sind, sind Eigentum von Menschen. Verteilung von Manna bedeutet daher heute wie im Sao Paulo Statement nur folgerichtig „Umverteilung von Reichtum“. Dies wird mit einem abstrakten Genug gerechtfertigt: ‘Eigentlich’ ist für alle schon jetzt genug da; wenn einige zu wenig haben, dann genau deshalb, weil andere zu viel haben, und daher kann und soll diesen etwas weggenommen werden, muss Reichtum umverteilt werden.
Der Umverteiler ist natürlich der Staat. Und hier wird die Sache bitter ironisch. Gott selbst gab in der Wüste das Manna, und nun fordern Kirchen auf, diesem Beispiel zu folgen und Reichtümer aufzuteilen. Das „Oben“ ist nun aber nicht Gott, sondern der Staat, der gottgleiche Züge annimmt. Der Staat wird zum „Gottspieler“ (so Roland Baader ja treffend in einem Buchtitel). North: „Menschen in ihrer Rebellion gegen Gott wollen an einen Staat glauben, der sie heilen kann.“
North geht auf das Manna im Zusammenhang des Matthäusevangeliums ein, weil ein Brotwunder ja eine der Versuchungen Jesu in Mt 4 ist. Der Teufel kennt auch die Geschichte vom Brot vom Himmel! Jesus erlag der Versuchung nicht. Ironischerweise waren ihr aber viele Wirtschaftsdenker im 20. Jahrhundert erlegen, die jedoch über keine übernatürlichen Fähigkeiten verfügten. North weiter: „Ein Kennzeichen geistiger Unreife ist die Suche nach Wundern in der Wirtschaft: Steine verwandeln sich in Brot. Der Preis für diesen alchemistischen Reichtum ist immer derselbe: die Akzeptanz der Magie. Die moderne Wohlfahrtsökonomie lehrt, dass der Staat solche Wunder durch positive Wirtschaftspolitik zur Verfügung stellen kann, indem er Reichtum von einigen nimmt und ihn anderen gibt; entweder direkt oder durch monetäre Inflation. Dieser Glaube ist die Voraussetzung der keynesianischen Revolution, die das wirtschaftliche Denken des zwanzigsten Jahrhunderts von 1936 bis 1990 dominierte. Der ökonomische Autodidakt John Maynard Keynes (BA in Mathematik) beschrieb tatsächlich die Kreditexpansion – das Herz seines Wirtschaftssystems – als das ‘Wunder des in Brot verwandelten Steins’.“ (Zur Kritik auch L. von Mises hier)
Es bleibt damit bei der Alternative, die die Überschrift des ersten Kapitels in Einführung in die Volkswirtschaftslehre von Horst Siebert und Oliver Lorz bildet: „Manna vom Himmel oder die Kunst des Mangels?“ Theologen, Kirchenvertreter und christliche Aktivisten sollten Bücher dieser Art durcharbeiten, bevor sie träumerische Ratschläge zur Neugestaltung unserer Wirtschaft geben.
(Bild o. von Ercole de’ Roberti, um 1450–1496)