Glaube und gute Werke
„Man sollte mich Doctor bonorum operum, Doktor der guten Werke, nennen.“ Martin Luther
Eine der wichtigsten „theologischen Scharnierstellen“ (O. Bayer) ist der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik, von Glaubenslehre und Morallehre, von Glaube und dem guten Handeln. Gemeinhin wird mit der Reformation und vor allem mit Martin Luther die Priorität des Glaubens vor den Werken verbunden. Manchmal ist zu hören, dass das gute Tun im Protestantismus als weniger wichtig angesehen wurde. Heute, so scheint es, sind evangelische Kirchen ins Gegenteil umgekippt: Religion ist im Kern Ethik; Hauptsache, man tut das Richtige; woran man glaubt und an welchen Lehren man festhält, rückt in den Hintergrund.
Gottesverehrung und Ethik
Während der Reformation schürfte man tiefer, als es heutzutage erscheint. Es wurde vor allem erkannt, dass Gottesdienst und Gottesverehrung eng mit der Ethik zusammenhängen. Genau dies ist ja das Thema des Paulus zu Beginn des Briefes an die Römer. In Kapitel 1 stellt der Apostel dar, dass die Ursünde des Menschen keine bestimmte Einzeltat, sondern die Verweigerung des Dankes und der Ehre Gottes ist (1,21). Die konkreten Sünden sind erst die Folge dieser Grundhaltung. Der „vernünftige Gottesdienst“ in Röm 12,1 meint dann die praktischen Konsequenzen des Glaubens in allen Lebensbereichen. „Oberstes Gebot der christlichen Ethik bleibt es, Gott zu danken, zu ehren und von ganzem Herzen zu lieben“. (Thomas Schirrmacher in seinem Beitrag in Leben zur Ehre Gottes)
In der reformatorischen Tradition wurde dies gut beachtet. So gut wie alle protestantischen Bekenntnistexte enthalten daher neben Dogmatik auch ethische Abschnitte. Die guten Werke werden nicht als Wege zu Heil und Errettung betrachtet, denn das wäre „Werkreligion“; sie werden vielmehr in den Kontext der Gottesverehrung gestellt. Luther leitet die Erläuterungen zu den einzelnen Geboten in seinem Kleinen Katechismus jeweils mit „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass…“ ein (s.u.). Der Heidelberger Katechismus behandelt die Gebote und Ethik im dritten Abschnitt „Von der Dankbarkeit“. Ist die Grundhaltung des Nichtglaubenden Undankbarkeit (Röm 1,21), so tut der für die Erlösung dankbare Christ gute Werke „aus wahrem Glauben, nach dem Gesetz Gottes ihm zu Ehren“ (Fr. 91).
Der Kurze Westminster-Katechismus beginnt ebenfalls mit der Gottesverehrung: „Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen…“ (Fr. 1) Die nächste Antwort stellt dar, dass die Bibel „die einzige Regel [ist], die uns darin leitet, wie wir ihn verherrlichen“ sollen. Und Antwort 3 verbindet dann Dogmatik und Ethik: „Die Schriften lehren im Wesentlichen, was der Mensch von Gott glauben soll, und welche Pflichten Gott vom Menschen fordert.“
Schließlich betont das Westminster-Bekenntnis, dass gute Werke „Früchte und Beweise eines wahren und lebendigen Glaubens“ sind. „Durch sie zeigen die Gläubigen ihre Dankbarkeit, stärken ihre Gewißheit, erbauen die Geschwister… und verherrlichen Gott“ (16,2).
Dogmatik und Ethik gehören zusammen, doch man muss heute darauf achten, dass die Dogmatik nicht in falscher Weise ‘ethisiert’ und damit letztlich in der Ethik aufgelöst wird. Peter Rollins aus Nordirland hat hier leider in How (Not) to Speak of God für Verwirrung gesorgt. Er fordert den Übergang „vom Wissen [o. Erkenntnis, engl. knowledge] zu Liebe“. Der wichtige europäische Vertreter der „emerging church“ will Orthodoxie neu definieren: „‘richtiger Glaube’ wird zu ‘auf die richtige Art glauben’.“ Was glaubst du?, die Frage nach den Inhalten, wird zur Seite geschoben. Wie glaubst du? rückt bei Rollins an die erste Stelle. Orthodox, also rechtgläubig, ist nach Rollins Vorstellung dann jemand, „der mit der Welt in der rechten Beziehung steht, nämlich in der Weise der Liebe“. Liebe bleibt bei ihm als einziges Prinzip der Ethik und der Erkenntnis Gottes übrig: „die einzige religiöse Erkenntnis, die irgendetwas wert ist, ist die Liebe“.
„Das umfassende protestantische Lehrbuch der Ethik“
Wer dem richtigen Handeln breiten Raum zugestehen will, muss jedoch nicht Rollins folgen. Betrachtet man den Großen Katechismus Luthers, so fällt das Gewicht der Zehn Gebote auf: Ihre Erläuterung nimmt etwa die Hälfte des Katechismus ein, fünfmal so viel Raum wie das Glaubensbekenntnis. Dies drückt Luthers große Sorge um die Moral des Kirchenvolkes aus, wusste er doch um den Missbrauch der evangelischen Lehre, die „faule, schädliche, schändliche, fleischliche Freiheit“. Der Reformator sah die Gebote als Ausdrucksformen der christlichen Liebe an, als „Summarium aller Tugenden“.
Die Reformatoren legten auch deshalb den Akzent auf die Zehn Gebote, um die katholische Zweiteilung der Ethik abzuwehren: die angeblich ‘einfacheren’ 10 Gebote für alle, und die darüberhinausgehende ‘Elite-Ethik’ der besonderen und verdienstvollen religiösen Werke (Armut, Ehelosigkeit usw., die sog. „evangelischen Räte“). Daher betonte schon Melanchton, dass der gesamte Aufbau der Ethik den 10 Geboten zu entnehmen sei. Luther im Großen Katechismus:
„So haben wir nun die Zehn Gebote, einen Auszug göttlicher Lehre, was wir tun sollen, daß unser ganzes Leben Gott gefalle, und den rechten Born und Kanal, aus und in welchem alles quellen und gehen muß, was gute Werke sein sollen; so daß außer den Zehn Geboten kein Werk noch Wesen gut und Gott gefällig kann sein, es sei so groß und köstlich vor der Welt, wie es wolle.“
Gott fordert von uns ausschließlich das, was er uns mitgeteilt hat. Und wer eigenmächtig über das hinaus, was Gott als Sünde definiert hat, weitere Handlungen und Gedanken als Sünde verbietet – und sei es auch in noch so frommer Absicht –, der macht sich selbst zum Gesetzgeber und legt den Menschen ein untragbares Joch auf. Luther schon im Sermon von den guten Werken aus dem Jahr 1520: „Zuerst ist zu wissen, dass es keine guten Werke gibt als allein die, die Gott geboten hat, wie es ebenso keine Sünde gibt, als allein die, die Gott verboten hat. Darum: wer gute Werke kennen und tun will, der braucht nichts anderes als Gottes Gebote zu kennen.“
Die Ausführungen im Katechismus nannte Klaus Bockmühl daher „das umfassende protestantische Lehrbuch der Ethik für die Gläubigen; er ist zugleich das ethische Handbuch für den Pfarrer“, denn für die Geistlichen gab es eben keine Extra-Ethik (Gesetz und Geist). Neu war vor allem auch, dass der Nächste Ziel und Gegenstand des christlichen Handelns ist. „Die von der Reformation betonte Zentralstellung des Nächsten kann man in ihrer historischen Bedeutung nicht leicht überschätzen“, so Bockmühl.
„Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass…“
Im Großen Katechismus fällt außerdem auf, welche herausragende Rolle Luther dem Ersten Gebot zukommen lässt. Es ist das im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Gebot, denn hier entscheidet sich unsere Stellung zu Gott. Gegen Ende der Erläuterung der Gebote schreibt Luther, dass mit dem Gebot „Du sollst nicht andere Götter haben“ dies gefordert wird: „Du sollst mich als Deinen einzigen rechten Gott fürchten, lieben und mir vertrauen“. Und weiter: „Denn wo ein solches Herz gegen Gott ist, hat es dieses und alle anderen Gebote erfüllet. Wer andererseits etwas andres im Himmel und auf Erden fürchtet und liebet, der wird weder dieses noch irgendein andres halten.“
Daraus folgt, dass allein der Glaube das Erste Gebot erfüllt, was Luther schon 1520 in Von der Freiheit eines Christenmenschen und im Sermon von den guten Werken betonte. Im Sermon: „Dieser Glaube, dieses Vertrauen, diese aus Herzensgrund kommende Zuversicht ist die wahrhaftige Erfüllung dieses ersten Gebotes“. So erläutert Luther auch im Großen Katechismus das Erste Gebot: es wird durch den Glauben gehalten, denn „einen Gott haben“ bedeutet nichts anderes,
„als ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Vertrauen und Glauben des Herzens beide macht: Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht; und umgekehrt: wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zu Haufe (zusammen), Glaube und Gott. Worauf Du nun (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“
Der Glaube ist das „Hauptwerk“, das die menschlichen Werke erst zu guten Werken macht. Ohne den Glauben sind die Werke, mit denen man die anderen Gebote zu erfüllen meint, „wahrhaftig Abgötterei“, seien sie äußerlich auch noch so religiös. Daher müssen im Glauben „alle Werke geschehen“ (Sermon). Auf diese Weise ist „das erste Gebot das Haupt und die Quelle“, die die anderen Gebote mit Leben erfüllt; es soll „leuchten und seinen Glanz in die andern alle geben“. Umgekehrt, so Luther weiter im Großen Katechismus, hängen alle weiteren Gebote am ersten und beziehen sich darauf zurück.
Sehr deutlich wird dies auch im Kleinen Katechismus, wo Luther das erste Gebot knapp so erklärt: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Das Gebot wird als eine Art Präambel angesehen, das die Erläuterung der folgenden Gebote bestimmt, denn er leitet die Auslegung der Gebote zwei bis zehn immer gleich wie folgt ein: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir …“ Der Glaube führt zum Handeln und zur Liebe, und nur der Glaube macht aus den einzelnen Werken, die äußerlich jeder tun kann, christliche. Luther hämmert auf diese Weise ein: Werke sind Ausdruck des Glaubens, des richtigen Verhältnisses zu Gott; sie schaffen dieses Verhältnis nicht. Oswald Bayer hält daher völlig zu Recht fest: „den Glauben nun als Erfüllung des Ersten Gebots zu fassen,… – dies ist eine der wichtigsten theologischen Einsichten Luthers überhaupt, die in ihrer grundlegenden Bedeutung kaum überschätzt werden kann.“ (Martin Luthers Theologie)
(Bild o.: Ausschnitt aus Yadegar Asisis Panoramabild „Luther 1517“ in Wittenberg, hier mehr.)