Christ und Sozialstaat
Es gehört zur Aufgabe der Christen, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft kritisch zu begleiten. Leider geschieht dies oft recht einseitig. Geradezu mit Vorliebe geißeln Kirchenvertreter den heutigen Konsum, Luxus und Egoismus. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises vor vier Monaten sagte Papst Franziskus: „Ich träume von einem Europa, wo die jungen Menschen die reine Luft der Ehrlichkeit atmen, wo sie die Schönheit der Kultur und eines einfachen Lebens lieben, die nicht von den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus beschmutzt ist.“
Die Konsumgesellschaft ist eines der Grundübel unserer Zeit, so der Tenor. Und das nicht nur in den Augen des Papstes. Diesen Eindruck gewinnt man in zahlreichen Veröffentlichungen aus christlicher Feder. In Trends 2000 bezeichnet Stephan Holthaus das „consumo, ergo sum“ – ich konsumiere, also bin ich – als das Motto der Tage. „Materialismus ist die Lebenshaltung unserer Zeit“, so der Theologe aus Gießen. „Unsere Gesellschaft ist gnadenlos kommerzialisiert.“ Gleich der folgende Satz: „In die Werbung werden Milliardensummen gesteckt.“ Von „Tricks“ ist die Rede, mit denen versucht wird, „Aufmerksamkeit zu erhaschen“. Holthaus Analyse: „Wir haben verlernt zu verzichten“. Er warnt vor einer „Konsumkirche“.
Ähnliche Akzente setzte jüngst auch Os Guinness beim „Younger Leaders Gathering“ der Lausanner Bewegung in Indonesien. Oder auch im Vortrag „The Good Life, or a Life with Goods? “des „Forum of Christian Leaders“ vor ein paar Jahren. Ich schätze Guinness Bücher und vor allem Vorträge, die immer gut recherchiert und rhetorisch einwandfrei vorgetragen sind. Aber dieses Mal hat mich der Brite enttäuscht: Durch die breite Analyse unserer modernen Gesellschaft schien die Sehnsucht nach dem dörflichen Tante-Emma-Laden durch – früher war vieles besser. Vor dem Aufkommen der modernen Werbung vor allem. Guinness lässt kaum ein gutes Haar an ihr. Und wie bei Holthaus fragt man sich: Sollte, ja darf ein Christ in dieser Branche, die die Menschen nur noch weiter in den Konsumismus treibt, eigentlich arbeiten?
Da der Mensch zu allen Zeiten sein Herz an den Mammon zu hängen drohte, haben diese Warnungen auch heute natürlich ihre gewisse Berechtigung. Das Nadelöhr ist und bleibt die Herausforderung der Reichen – und damit von fast allen im wohlhabenden Norden. Konsumkritik ist also gefordert, doch sie sollte nicht ins Pauschale abdriften. Warum hört man in diesen Zusammenhängen selbst bei historischen Abrissen so wenig vom Segen unserer Güterwelt? Von den Erleichterungen des Lebens? Und wenn alles so schlimm ist: Warum dann nicht aufhören mit dem Konsum? Guinness hält sich sehr lange bei der Kritik unserer Geschichte und Gegenwart auf, liefert aber so gut wie keine Handlungsanweisung, wie denn das gute Leben nun zu führen sei. Den Asketismus oder Ausstieg wagt kaum einer zu predigen. Warum dann aber den Konsum per se anschwärzen, ja fast schon verteufeln? Wollen wir wirklich in die Zeit vor 1800 zurück, ins Dunkle?
(Dunkel ist auch wörtlich gemeint. Der Fortschritt im Konsum ist wohl in keinem anderen Bereich so offensichtlich wie beim Verbrauch künstlichen Lichts. Nach 1800 zeigte der Mensch endlich, was er kann – so der „Spiegel“ jüngst [35/2016] in seiner Rubrik „Früher war alles schlechter“: „Die Kosten für die Lichtproduktion sind seither in einem Maße gefallen, das schwer vorstellbar ist. Eine Stunde Licht [Lichtmenge einer 100-Watt-Glühbirne während einer Stunde] kostete im Jahr 1800 in England rund 3200-mal so viel wie heute, nämlich 130 Euro. Im Jahr 1900 waren es noch vier Euro, im Jahr 2000 noch vier Cent. […] Die Menschen in Babylon des Jahres 1750 v. Chr., die Sesamöllampen verwendeten, mussten demnach über 400 Stunden arbeiten für eine Stunde Licht. Um 1800, mit Talgkerze: über 50 Stunden Arbeit. Mit einer Gaslampe des späten 19. Jahrhunderts: drei Stunden. Mit einer heutigen Energiesparlampe: eine Sekunde Arbeit.“ [S. dazu auch Matt Ridley im ersten Kapitel von The Rational Optimist / Wenn Ideen Sex haben.] – Im weltgeschichtlichen Maßstab verbrauchen wir heute alle geradezu exzessiv Licht, wir sind alle Lichtjunkies – und das ist gut so.)
Die Konsumgesellschaft bekommt ihr Fett weg, und das nicht zu wenig. Auf ihr kann heute problemlos herumgehackt werden. Man beweist damit seine ethische Gesinnung. Warum richten Christen das Feuer der Kritik nicht auch einmal auf ein anderes wichtiges Phänomen unserer Tage, das nicht viel weniger unser Leben bestimmt als der Konsum: den Sozial- oder Wohlfahrtsstaat? Sollte nicht wenigstens ein Teil der gesellschaftskritischen Energie in diese Richtung gelenkt werden? Warum ist hier kaum etwas zu finden? Ist der Sozialstaat etwa schon zu einer heiligen Kuh geworden? (Und „Du sollst nach sozialer Gerechtigkeit streben“ zum elften Gebot?) Ist nicht das, was heutige Theologen zum Sozialstaat sagen, eher fragwürdig? Ist er das große Licht neben der bösen Konsumgesellschaft?
Der moderne Sozialstaat – aus Luther erwachsen?
Vor zwei Jahren hielt Margot Käßmann beim Jahresempfang des Diakonischen Werks Bayern den Vortrag „Der Sozialstaat – seine Ursprünge in der Reformation und seine christliche Prägung heute“. In den Augen der Theologin ist der „entwickelte Sozialstaat“ eine große Errungenschaft, die es „bisher nur in vergleichsweise wenigen Ländern“ gibt. In den angelsächsischen Staaten sei er leider eher auf dem Rückzug, „Welfare-State“ in der politischen Diskussion der USA bei vielen sogar ein Unwort. Umso mehr freut sie sich, dass „der Sozialstaat in Deutschland und in Mittel- und Nordeuropa nicht abgedankt [hat].“
Käßmanns These: „Es ist vor allem das späte Erbe Martin Luthers und der anderen Reformatoren, das sich im modernen Sozialstaat artikuliert.“ Vor allem von der lutherischen Tradition führe eine Linie zum Wohlfahrtsstaat. „Anders konfessionell gekennzeichnete Weltgegenden wie z.B. der Bereich der USA, der stärker reformiert puritanisch geprägt ist oder dann eben auch die südeuropäischen römisch-katholisch geprägten Länder, haben diesen Weg hin zu einer breiten staatlichen Verantwortung in sozialen Dingen nicht beschritten.“ In Großbritannien machte man sich erst nach 2. Weltkrieg – „motiviert nicht zuletzt durch den Archbishop of Canterbury William Temple“ – auf den „Weg in Richtung Sozialstaat“.
Was sind nach Käßmann nun die lutherischen Wurzeln des Sozialstaates? „Es war offensichtlich die Zuweisung sozialer Verantwortung an die Obrigkeit, die schon früh in der lutherischen Reformation erfolgte, die sich dann tatsächlich fast 400 Jahre später in der Etablierung der ersten Sozialstaaten umgesetzt hat.“ Und weiter: „Wie nicht nur das Beispiel der Armenkasse zeigt, ist es die soziale Inpflichtnahme der Obrigkeit durch den Wittenberger Reformator, die den Beginn des modernen sozialstaatlichen Denkens markiert, auch, wenn sich dieses Denken erst 400 Jahre später institutionell wirklich konkretisiert hat. Es ist dieser Grundgedanke der lutherischen Reformation: die Einschärfung der sozialen und sonstigen Verantwortung der Obrigkeit.“
Käßmann hat sicher Recht, dass Luther der Obrigkeit eine gewisse soziale Verantwortung zuschrieb. Dass der Staat diese Verantwortung hat, wird heute nur von wenigen bestritten. Die entscheidende Frage ist dabei jedoch, wie groß diese Verantwortung sein soll. Sozialstaatsbefürworter auf Seiten der Linken wollen dieser Verantwortung möglichst ausdehnen; „Neoliberale“ und einst auch schon F.A. Hayek (und Ludwig Erhard, s.u.) leugnen sie keineswegs, halten es aber für unbedingt nötig, die Verantwortung in klaren und engen Grenzen zu halten. Die Exbischöfin sieht also ‘soziales Handeln des Staates von Luther angemahnt’ und entdeckt darin eine wichtige Wurzel der heutigen staatlichen Sozialfürsorge. Sie weist nun aber nicht nach, dass tatsächlich eine Linie von Luther zum modernen Sozialstaat führt.
Es stimmt, dass die lutherische Reformation eine größere Nähe zur Obrigkeit entwickelte als dies bei den Reformierten der Fall war. Diakonische Aufgaben der christlichen Gemeinde wurden weitgehend dem Staat überlassen. Insofern war der Boden in lutherischen Ländern für den modernen Sozialstaat besser vorbereitet als anderswo. Hier spielt auch allgemein die größere Obrigkeitshörigkeit im späteren Luthertum eine Rolle, denn die „erste Reformation“ (H. Oberman) war anders als die „zweite“, die reformiert geprägte, viel stärker eine Fürstenreformation. Auf diesem Hintergrund fiel es Otto von Bismarck im von Preußen dominierten Deutschen Reich nicht schwer, die ersten modernen sozialstaatlichen Gesetze durchzusetzen. Die lutherische Tradition hat also die Schaffung des Sozialstaates wohl leichter möglich gemacht, als andere christliche Strömungen; das heißt aber noch lange nicht, dass dessen Wurzeln bei Luther liegen.
Käßmann argumentiert aber nicht in erster Linie historisch, sondern theologisch: „Am Anfang steht bei Martin Luther etwas, was er dezidiert mit der gesamten Geschichte der christlichen Kirche vor ihm teilt: Nämlich die Betonung der Liebe, genauer der Nächstenliebe, als des Urgrundes der Zuwendung der im Glauben befreiten Christen zu ihren Mitmenschen.“ Sie knüpft offensichtlich an Luthers Von der Freiheit eines Christenmenschen an: „Weil ein Christenmensch im Glauben für sich selbst für immer genug hat und geistlich in der Fülle leben kann, ist er frei, den anderen zu lieben und für ihn da sein zu können.“ Das ist natürlich unbestritten. Käßmann weiter: „Entscheidend ist nun, dass Luther – wie die anderen Reformatoren auch – diese Grundbewegung des Christlichen nicht nur auf den einzelnen Menschen bezogen hat, sondern immer auch auf das Gemeinwesen. Insofern kann hier auch von ‘politischer Liebe‘ die Rede sein.“
Gewiss hat Liebe auch eine Dimension, die über das rein Private hinausgeht, also in die Gesellschaft, das Gemeinwesen hineinreicht. Aber damit ist doch noch lange nicht der moderne Sozialstaat begründet! Es gehört zu den modernen Grundübeln, dass Staat und Gemeinwesen vermengt, ja in Eins gesetzt werden. Liebe kann sich auf breiter Ebene und in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen verwirklichen, und zwar ohne jegliche direkte staatlichen Einmischung, Kontrolle und Anweisung. Wenn ‘soziale Liebe’, dann Sozialstaat – dieser Schluss stimmt so einfach nicht. Es gibt genug Alternativen.
Laut Käßmann vermittelt der Sozialstaat vor allem auch Anerkennung: „Als Staatsbürgerin gehöre ich zu einer großen Gemeinschaft, in der Menschen füreinander einstehen.“ Da mag ja ein stückweit durchaus so sein. Doch Gemeinschaften, in denen Menschen füreinander einstehen, gab und gibt es auch ohne Sozialstaat und neben dem Sozialstaat. Warum braucht es für die Schaffung von solidarischer Gemeinschaft und Anerkennung den Staat?
Käßmann unterschlägt, dass der Staat in seinem Wesen eine mit Zwang arbeitende Gemeinschaftsordnung ist. Staatliche Organe fragen nicht höflich, ob man Gesetze und Ordnungen einhalten, Strafen auf sich nehmen und Steuern zahlen will; der Staat setzt über seine Organe und Beamten Maßnahmen letztlich mit Gewalt durch. Liegt es da nicht auf der Hand, dass das füreinander Einstehen nach Möglichkeit nicht durch den Staat vorgeschrieben werden sollte? Bräuchten wir nicht viel mehr eine soziale und das heißt staatsfreie Kirche und weniger Sozialstaat?
Käßmann hebt vor allem auf die Liebe ab, was natürlich insofern geschickt ist, als dann bei Christen nur allzu leicht alle gedanklichen Abwehrmechanismen außer Kraft gesetzt werden. Wer ist schon gegen die Liebe? Genau hier liegt aber die Krux: Die Liebe, so F. Bastiat, kennt keine Grenzen; man kann immer noch barmherziger sein, noch mehr Gutes tun, noch liebevoller handeln. Die Gerechtigkeit dagegen hat klare Grenzen. Verschreibt sich der Staat nun der Liebe und nicht der Gerechtigkeit (im traditionellen Sinne!), dann ist einem immer weiter wuchernden Sozialstaat, der auch ein Zwangsstaat bleibt, nichts mehr entgegenzusetzen. Immer heißt es: Lasst uns, die Staatsdiener, doch noch mehr Gutes tun! Schließlich haben wir die Mittel (staatliche Gewalt) und das Geld dazu (mit Zwang eingetriebene Steuern und Schulden). Dieser sozialstaatlichen Logik kann man sich kaum entziehen.
Käßmann gesteht seltsamerweise aber ein, dass „zu viel erwartet [wäre], wenn manche meinen, der Staat könnte sich individuell um jeden einzelnen Menschen liebevoll kümmern. Dies ist nicht möglich, es ist wahrscheinlich auch gut so, dass es nicht möglich ist, weil dies zu einer völligen Überwölbung der Gesellschaft mit staatlich-patriarchalischen Verfahrensweisen führen würde.“ Ja, dies ist nun wahrlich nicht möglich! Warum dann aber all das Reden von Liebe und Barmherzigkeit durch den Staat? Der Staat kann sich nicht liebevoll um den Einzelnen kümmern – also lassen wir den Staat die Masse lieben? Soll das dann die „politische Liebe“ sein? So wird die Liebe, die persönliche Liebe des Einzelnen zum Einzelnen, die doch Käßmanns großes Argument ist, geradezu pervertiert. Warum die Liebe nicht dort lassen, wo sie hingehört? In den Kirchen, den Familien und den Zusammenschlüssen der Bürger, die auf Freiwilligkeit beruhen? Im Übrigen ist doch die „völlige Überwölbung der Gesellschaft mit staatlich-patriarchalischen Verfahrensweisen“ genau das, was heute passiert und die Konsequenz all dessen, was Käßmann fordert.
Ich glaube kaum, dass Luther diese allgemeine Ausweitung des staatlichen Handelns gutgeheißen hätte. „Würde Luther heute der Obrigkeit ebenso ins Gewissen reden wie damals den Fürsten? Sicherlich haben wir es heute nicht mit elementarer Not und Elend in Deutschland zu tun […].“ In gewisser Weise liegen die Wurzeln staatlicher Sozialpolitik und das hieß vor allem Armenfürsorge tatsächlich in der Reformationszeit. In evangelischen Ländern wurde gegen das „Bettelunwesen“ vorgegangen; man unterschied zwischen schmarotzenden und wirklich hilfsbedürftigen Armen und verband Hilfsleistungen meist mit Arbeitspflicht. Ziel war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Bewahrung vor existentieller Not. Mit dem modernen Sozialstaat hat all das kaum etwas zu tun, und selbst beinharte Liberale sprachen sich schon immer für Nothilfe aus.
Käßmann sieht natürlich diese Unterschiede: „Der Sozialstaat heute hat ganz andere Probleme zu bewältigen, als dies zur Zeit Luthers […]. Die Problematik besteht heute nicht darin, dass Menschen auf der Straße verhungern würden, sondern dass es nicht möglich ist, ihnen angemessene Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu verschaffen. Insofern sind die Ansprüche an den Sozialstaat gegenüber der Zeit von Luther beträchtlich gestiegen. Heute geht es darum, dass sich Menschen mit ihren Möglichkeiten entfalten können. Ein gerechter Staat muss bereit sein, gerechte Chancen für alle zu gewährleisten.“
Und dann kommt eine Liste all der Dinge, die „es braucht“ und die unsere heutigen Sozialstaaten kennzeichnen. Der Sozialstaat sei so „die Basis für vielfältige Emanzipationsvorgänge in der Gesellschaft und sichert Menschen im Blick auf elementare Zukunftsängste ab. Mittels des Sozialstaats verschafft sich die Gesellschaft einen kollektiven Halt in den Unsicherheiten der Zukunft. In dieser Hinsicht dient der Sozialstaat auch längst nicht nur der Armutsbekämpfung der Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, sondern er hat elementare sichernde Funktion für die gesamte Gesellschaft, auch für deren Mitte.“
Auch dieser Text des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD sieht den modernen Sozialstaat „aus Luthers Geist erwachsen“. Doch wie bei Käßmann kann diese mutige These nicht belegt werden. Vom Fakt einer staatlichen Sozialpolitik ist ein umfassender Sozialstaat weit entfernt. Der Staat sei für „kollektiven Halt in den Unsicherheiten der Zukunft“ verantwortlich, habe „elementar sichernde Funktion“ – soll dies der Geist Luthers sein? Würde der Reformator angesichts der gewaltigen Ausdehnung der Aufgaben des Staates, der auf einmal für so gut wie alles zuständig ist, nicht von einem modernen Götzen sprechen?
Würde und würdevolles Leben
Auf katholischer Seite widmete sich Reinhard Kardinal Marx in Das Kapital – Ein Plädoyer für den Menschen ausführlich sozialpolitischen Fragen. Der Münchener Erzbischof bemüht sich darin immer um Ausgewogenheit. Im öffentlichen Diskurs erheben heute alle „den Anspruch der Gerechtigkeit“. Aber was jeweils unter Gerechtigkeit verstanden wird, „ist höchst unterschiedlich.“ Der Begriff sei daher „in der Tat nicht unproblematisch“. Noch schwieriger sei es, zu einem „Grundkonsens“ über einen „allgemeinen zustimmungsfähigen, gehaltvollen Begriff sozialer Gerechtigkeit zu kommen.“
Marx skizziert die biblische Botschaft der Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber Armen, die Kritik der Unbarmherzigkeit gegenüber ihnen. Diese Kritik der Herrschenden, die Arme unterdrücken, war in Israel im damaligen antiken Umfeld neu. „Politik wird gleichsam entsakralisiert. Und dadurch wird so etwas wie Sozialkritik überhaupt erst möglich.“
Die Geschichte des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ und seine Ursprünge beim Jesuiten Luigi Taparelli werden von Marx erläutert. Dann behauptet er: „Bei der Idee sozialer Grundrechte hatte die Kirche eine Vorreiterrolle; hier hinkte stattdessen der politische Liberalismus dem Lauf der Geschichte hinterher“. Und weiter: „Die Idee politischer Freiheitsrechte und ebenso die Idee sozialer Grundrechte ergeben sich letztlich notwendigerweise, wenn man bereit ist, die politischen und sozialen Konsequenzen des christlichen Menschenbildes und der diesem christlichen Menschenbild eng verbundenen Anthropologie der Aufklärung zu ziehen.“
Die genannten politischen Freiheitsrechte sind Abwehr- oder Schutzrechte. Sie schützen den Einzelnen, sein Leben, Denken und Reden, seine Bewegungsfreiheit. Die sozialen Grundrechte sind dagegen von ganz anderer Art. Sie sind Anspruchs- und Teilhaberechte. Dazu gehören Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und Nahrung, Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben usw. Diese Leistungsrechte, soziale Rechte, sind nicht „lass mich in Ruhe!“, sondern „gib mir mal!“-Rechte. Natürlich will Gott, dass Menschen Arbeit und Nahrung usw. haben; jeder ist in unterschiedliche Weise dazu verpflichtet, sich darum zu kümmern bzw. anderen dazu zu helfen. Was Marx nicht begründet und mit dem „notwendigerweise“ nur unterstellt, ist, dass dies auch politische Rechte sind.
Wir sollen uns um andere Menschen kümmern, und um Notleidende in besonderem Maße. Von dieser allgemeinen und richtigen Forderung springt Marx – wie so viele – zum Recht auf Durchsetzung solcher Ansprüche durch den Staat. Dies folgt aber ganz und gar nicht zwingend aus den biblischen Prinzipien. Man beachte auch, dass wir heute gar nicht mehr über das Recht auf ein physisches Existenzminimum reden, also Gewährleistung von Nahrung, Wohnung und Kleidung zum Überleben. Nach der Rechtsprechung u.a. des Verfassungsgerichts erfordert die Menschenwürde angeblich die Hilfe zu einem kulturellen, sozialen Existenzminimum. Dies zeigt nur zu deutlich, dass die sozialen Grundrechte von den Entscheidungen von Richtern abhängen und recht willkürlich ausgeweitet werden können und sich damit von den klaren politischen Freiheitsrechten grundlegend unterscheiden.
Marx geht nicht auf das grundlegende Problem ein, dass die Durchsetzung von sozialen Grundrechten vor allem eins erfordert: All das, worauf jeder vermeintlich Anspruch, aber eben noch nicht zur Verfügung hat, muss anderen weggenommen und umverteilt werden. Niemand hat etwas gegen freiwillige Umverteilung, aber wenn der Staat dies tut, dann macht er es durch Zwang. Marx täuscht seine Leser, wenn er auch die „Leistungsgerechtigkeit“ herausstreicht: „Niemand, auch nicht der Staat, darf die Vorteile konfiszieren, die sich jemand durch seinen Fleiß, seine Kreativität oder seinen Wagemut erarbeitet hat.“ Dies ist nichts anderes als Augenwischerei: Um die Anspruchsrechte zu verwirklichen, tut der Sozialstaat ständig genau dieses: erarbeitetes Eigentum wird konfisziert.
Wenn jemand nicht in der Lage ist, „seinen materiellen Bedarf selbst zu decken“, dann „muss die solidarische Gemeinschaft einspringen und helfen. Der Sozialstaat ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit.“ Wie wir schon sahen, wird nicht begründet, warum unbedingt der Staat einspringen muss. „Solidarische Gemeinschaften“ gibt es auch anderswo. Wann und in welchem Rahmen staatliche Organe aus biblischer und theologischer Sicht handeln müssen, wird seltsamerweise bei diesen Diskussionen kaum noch erörtert.
Es scheint nicht mehr nötig zu sein, denn Trumpfkarte der Argumentation ist die Menschenwürde. Der „Gedanke der unveräußerlichen Würde jedes einzelnen Menschen liegt auch der Vorstellung der sozialen Gerechtigkeit zugrunde: Die sozialen Institutionen und Strukturen müssen so gestaltet sein, dass sie jedem Mitglied in Staat und Gesellschaft eine menschenwürdige Existenz ermöglichen.“ Für Marx bedeutet soziale Gerechtigkeit „zunächst und vor allem einmal den Respekt […] vor der Würde jedes einzelnen Menschen in unserer Gesellschaft.“ Sie schließe Exklusion aus: „jeder und jedem steht eine Chance auf Teilhabe, auf Bildung und auf Arbeit zu.“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. So lautet bekanntlich Art. 1, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes. Der Wortlaut zeigt schon, dass es die klassischen Schutz- und Abwehrrechte sind, die diese Würde schützen. Die Formulierung ist in heutiger Sicht eher ungewöhnlich und wurde schon viel diskutiert. Denn es wird eindeutig von der Würde des Menschen als Gegebenheit ausgegangen. Sie zu schaffen ist nicht das Ziel. Sie kann keinem Menschen genommen werden.
Art. 20 (1) definiert die BRD als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“. Der Sozialstaat selbst wird im Grundgesetz nicht festgeschrieben und muss in Art. 20 und Art. 1 über die Menschenwürde hineingelesen werden. Und was man in Art. 1 hineintut, ist dort kaum noch herauszubekommen. Nun wird letztlich mit Art. 1 begründet, dass „eine materiellen Grundausstattung, die allen Menschen eine, gemessen am kulturellen Existenzminimum, würdige Existenz und eine Teilhabe an zentralen Lebensvollzügen der Gesellschaft ermöglicht“, garantiert werden muss, so Marx.
Damit wird die Menschenwürde jedoch zu einem mehr oder weniger fernen Ziel – als ob Art. 1 lautete „die Würde des Menschen ist die höchste Bestimmung. Sie zu fördern und nach ihr zu streben ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Im weltweiten Maßstab bedeutet dies zumal, dass dann eine große Mehrheit der Menschen diese Würde irgendwie noch nicht hat oder für sie diese Würde irgendwie nicht verwirklicht ist. Würde und ein würdevolles Leben werden in Eins vermengt. Gewiss gehören beide auch zusammen, doch konzeptionell müssen sie unbedingt unterschieden werden. Denn das würdevolle Leben unterliegt eben einer großen Dynamik und wandelt sich. Seine Realisierung ist gleichsam nach oben offen. Es fehlt nicht viel, und es wird vom Staat gefordert, den assistierten Selbstmord zu fördern, damit man menschenwürdig sterben kann; oder dass der freie Zugang zum Internet mit der Menschenwürde begründet wird; oder dass die Menschenwürde eine staatlich garantierte Urlaubsreise für alle verlangt.
Die Würde schützen können wir durch staatliche Organe mehr oder weniger gut; aber ein würdevolles Leben kann der Staat nicht für alle garantieren. An der Verwirklichung von würdevollem Leben arbeiten vor allem Familien, Wirtschaft und Kirchen. Schreibt der Staat sich dies auf die Fahne, ist seine Ausweitung kaum aufzuhalten.
An einigen Stellen versucht Marx aber den Spagat. Er zitiert den großen Sozialethiker Joseph Kardinal Höffner, der schon 1955 „vor dem den Bürger entmündigenden Versorgungsstaat“ warnte. Auch Marx fordert ein „Umdenken“, weg von der einseitigen „Verteilungspolitik“. Dennoch will er an einem „kraftvollen Staat“ festhalten, will nicht „in den Chor derer einstimmen, die den traditionellen Sozialstaat schlechtreden.“ Korrekturen seien nötig, denn der Staat ist schon „finanziell äußerst engagiert“ – „überall nimmt der Staat viel Geld in die Hand, und überall tun sich trotzdem immer größere Gerechtigkeitslücken auf.“
Immer größere Gerechtigkeitslücken, obwohl immer mehr Geld umverteilt wird – sollte man da nicht die Frage nach den Grundlagen des Sozialstaates stellen? Marx schreckt davor zurück. Er zitiert zwar Johannes Paul II, der in Centesimus annus davor warnte, „dem Umfang der staatlichen Interventionen übermäßig auszuweiten“; sie müssten „zeitlich möglichst begrenzt sein“; ein „Aufblähen der Staatsapparate“ sei zu vermeiden. Das alles wird letztlich wieder doch kassiert, wenn es gegen Ende heißt, aus „genuin christlicher Perspektive“ sei der Sozialstaat „die institutionalisierte Form der Solidarität, auf die jeder Mensch kraft der ihm eigenen, unveräußerlichen Würde einen unbedingten Anspruch hat.“ Marx hält einen „allumfassenden Versorgungsstaat“ für eine „gefährliche Illusion“. Wie ein unbedingter Anspruch auf eine materielle Grundausstattung und die Garantie der Teilhabe an zentralen Lebensvollzügen nicht zu solch einem allumfassenden Staat führen soll, bleibt ein Rätsel.
„Egoistische Entartung des legitimen Eigeninteresses“
Werfen wir noch einen Blick auf die Behandlung des Themas bei einem evangelikalen Ethiker. In Ethik, Band II/2 knüpft Helmut Burkhardt an der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ an und schreibt: „Dabei muss auch den größeren Gemeinschaften, insbesondere dem Staat, zur Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben Eigentum zur Verfügung gestellt werden (Staatseigentum, Steuern). Insofern kann man von ‘doppelter Form’ von Eigentum sprechen, sozialem und individuellem Eigentum.“
Tatsächlich heißt es auch in Art. 14 (2) des Grundgesetzes, dass „Eigentum verpflichtet“. In Abs. 1 wird das „Eigentum und Erbrecht gewährleistet“, dann aber gleich einschränkend: „Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“ Hierzu ist zweierlei zu sagen. Sicher verpflichtet Eigentum, aber wen und zu was? Das Eigentum der Eltern verpflichtet sie, sich um ihre Kinder zu kümmern; die Finanzmittel der Kirche verpflichten zu Diakonie und Unterhalt der Diener am Wort; Eigentum der Unternehmer verpflichtet sie zur Entlohnung der Angestellten usw. Eine pauschale Verpflichtung zu weitreichenden Steuerzahlungen kann mit diesem Grundsatz allein nicht begründet werden. Wer gegen hohe Steuersätze ist, ist nicht pauschal unsozial; man will vielmehr selbst darüber entscheiden, wie man seinen Verpflichtungen nachkommt. Es darf einfach nicht zugelassen werden, dass der Staat die „größeren Gemeinschaften“ okkupiert, was bei Burkhardt im „insbesondere dem Staat“ durchklingt. Kann man biblisch begründet nicht auch fordern, dass wir Eigentum in erster Linie und in besonderer Weise der Familie, zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, Vereinen, wirtschaftlichen Unternehmungen, Kirchen und Missionen zu Verfügung stellen sollen – und etwas auch den Staat wegnehmen lassen?
Aber was ist eigentlich Eigentum? Zweitens muss der Eigentumsbegriff selbst betrachtet werden. Und hier enttäuscht Art. 14, denn Eigentum wird dort nicht definiert und sein Schutz gleich wieder massiv relativiert. Art. 14 (1) erlaubt es dem Gesetzgeber, den staatlichen Organen, zu bestimmen, was Eigentum ist und damit letztlich, wer was wie lange behalten darf. In modernen Gesellschaften besitzt der Staat das Gewaltmonopol; er hat als einziges Organ die Mittel, um auf legale Weise Eigentum durch Gewalt an sich zu bringen. Außerdem besitzen Staaten heute fast keine eigenen wirtschaftlichen Eigentumsquellen, die das Staatssäckel tatsächlich füllen. (Früher waren dies die Ländereien und Wirtschaftsbetriebe im Besitz der Könige und ihrer Familien. Wenn der Staat heute auch Unternehmen besitzt, dann sind diese allermeist nicht Quelle von Gewinn, sondern defizitär; sie dienen so gut wie immer nicht in erster Linie dazu, dem Staat Einnahmen zu verschaffen.) Der heutige Staat hat daher so gut wie kein Eigentum, das er nicht irgendwann seinen Bürgern zuvor abgenommen hat, meist durch Steuern. ‘An sich’ hat der Staat also nichts, aber er hat die Mittel, etwas an sich zu bringen – also tut er es auch. Art. 14 schiebt dem keinerlei Riegel vor.
Burkhardts Rede vom „doppelten Eigentum“ ist in diesem Zusammenhang sehr verwirrend. Streng genommen gibt es solch ein Eigentum nicht. Gehört mein Haus mir, und irgendwie auch dem Staat? Welcher Teil? Ein Zehntel oder doch die Hälfte? Wer legt so etwas fest? Der Staat, der selbst nichts hat und viel braucht? Was Eigentum ist, bestimmt der Gesetzgeber. Und so darf er sich leider alles nehmen, was er braucht zu meinen. Eigentum ist eigentlich garantiertes Eigentum, das man nicht einfach so wegnehmen kann. Eigentum ist persönlich und nur in engem, lokalem, überschaubarem und vor allem freiwilligem Rahmen tatsächlich kollektiv (der gemeinsame Besitz von Ehepaaren, Familien, Kirchen, Vereinen usw.). Kollektiveigentum auf höherer, staatlicher Ebene ist letztlich Unsinn. Das bedeutet dann, dass der Staat es in seiner Gewalt hat und niemand sonst. Besser ist hier von Besitz des Staates zu reden, da er über diese Güter die Verfügungsgewalt besitzt. Über echtes Kollektiveigentum können die Eigentümer wirklich mitbestimmen; bei ‘Staatseigentum’ ist dies praktisch nicht möglich.
Im Ergebnis hat der Staat in der Bundesrepublik vollen Zugriff auf das Eigentum der Bürger – wenn er dies denn in legale Form gießen und durchsetzen kann. Verfassungswidrig ist erst eine „Erdrosselungssteuer“ (so lautet der Begriff tatsächlich!), die den Steuerzahler abwürgt, so dass er gar nicht mehr zahlen kann. Bis dahin gibt es keine Schranken durch die Verfassung.
Werden diese Zusammenhänge nicht klar gesehen, dann müssen die konkreten ethischen Anweisungen enttäuschen. Burkhardt weiter: „Angesichts der Armut fordert die Solidarität mit den Armen von der Gesellschaft und ihren Verantwortungsträgern gezielte Hilfen, um trotz der Armut doch ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Dafür muss sie Rahmenbedingungen schaffen, so dass Arme eine faire Chance haben, aus eigener Kraft aus ihrer Armut wieder herauszukommen, insbesondere durch Bildung für alle […]. Dazu ist es nötig, dass die Reichen in angemessener Weise durch Steuern dazu herangezogen werden, dem Staat solche Hilfe zu ermöglichen […].“
Warum der Staat? Wiederum gilt, dass Gesellschaft und Staat nicht gleichgesetzt werden dürfen. Warum muss der Staat die Hilfe ermöglichen, wo er allein doch festschreibt, was er für „angemessen“ hält und was nicht? Was hat es mit „Solidarität mit den Armen“ zu tun, wenn der Staat durch Zwang diese Solidarität einfordert? Warum das Geld nicht bei den Bürgern lassen, damit diese freiwillig den Armen helfen?
Zu den Steuern, so Burkhardt , „die gewisse Ungerechtigkeiten bei den Startchancen des Einzelnen verhindern sollen, gehört insbesondere die Erbschaftssteuer […]“, obwohl das Erbrecht „prinzipiell […] unbedingt schützenswert“ sei. Insbesondere die Erbschaftssteuer? Wieso das? Gibt es dafür eine biblisch-theologische Begründung? Unbedingt schützenswert heißt doch zu schützen, und zwar in allen Lagen oder Bedingungen. Das „prinzipiell“ öffnet das Tor für die Wegnahme dieses Eigentums, das dann eben doch nicht mehr geschützt ist.
Bei Burkhardt ist hier leider der Wurm drin, und so ist ihm auch in den Ausführungen zur Wirtschaft nicht zu folgen. Natürlich plädiert er für die „soziale Marktwirtschaft“, was noch nicht viel heißt. Er ordnet nun aber dem freien Markt den „ethischen Grundwert“ der Freiheit zu, der Zentralverwaltungswirtschaft den der Gerechtigkeit und Sozialität. „Aber beide Konzeptionen führen, indem sie einseitig nur auf den einen Wert auf Kosten des anderen abstellten, ethisch in die Irre.“ Beide Komponenten müssten „in ausgeglichener Weise zum Zug kommen“. Im freien Markt müsse „eine egoistische Entartung des legitimen Eigeninteresses nach Möglichkeit verhindert“ werden, vor allem auch „durch konkrete Eingriffe von Seiten der Gemeinschaft“.
Es scheint, als ob sich Burkhardt für eine Art dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausspricht, ein Mischsystem. So weit geht er aber doch nicht. Das Prinzip des freien Marktes sei „grundlegend“, das „Standbein“, daneben der „Gedanke der sozialen Gerechtigkeit“ der „Zielgedanke“, „das Spielbein eines solchen Wirtschaftssystems“. Offensichtlich schwebt ihm – wie so vielen heute – ein veredeltes, verbessertes, ergänztes System des freien Marktes vor; wie man mit einem Bein allein kaum gehen kann, so funktioniert der freie Markt allein auch nicht. Und hier kommt natürlich der Sozialstaat ins Spiel. Er ist nicht die Zentralverwaltungswirtschaft, aber er ist Verwaltung, und das mehr oder weniger zentral; er soll für die Gerechtigkeit und das Soziale sorgen, das dem freien Markt angeblich fehlt.
Burkhardt bleibt dann in seinen konkreten Forderungen wenig überraschend in den Bahnen des Gewohnten. „Institutionen solidarischer Absicherung für Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Krankheit oder des Alters“ müssten „staatlich gefördert“ werden. „Der Staat muss dort direkt helfend eingreifen, wo der Einzelne bzw. kleinere soziale Einheiten (wie die Familie) sich selbst sonst allein wirtschaftlich nicht helfen können […] Auch Leistungen des Staates im Bereich der Bildung sind ein wichtiges Mittel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit, indem allen grundsätzlich gleiche Bildungschancen gegeben werden, möglichst unabhängig von den in der Familie, in die der Einzelne hineingeboren wurde, gegebenen bildungsmäßigen und finanziellen Voraussetzungen. Zur Finanzierung solche staatlichen Leistungen müssen dabei die wirtschaftliche Stärkeren durch Steuern in höherem Maße herangezogen werden als die wirtschaftlichen Schwächeren.“
Der Staat muss hier, der Staat muss dort. Gewiss, das kennen wir so und nicht anders. „Institutionen solidarischer Absicherung“ können aber, wie die Geschichte zeigt, auch ganz ohne staatlichen Zwang umgesetzt werden. Und warum muss sich der Staat in dieser Weise in der Bildung engagieren? Burkhardt sollte an dieser Stelle viel kritischer gegenüber dem Status quo in der Bundesrepublik sein und deutlicher machen, was wirklich von einer biblischen Ethik gefordert werden kann und muss. Hier „muss“ der Staat viel weniger tun als man gemeinhin meint.
Außerdem ist Burkhardts Art der Gegenüberstellung von freiem Markt und Zentralverwaltungswirtschaft grundsätzlich zu hinterfragen. Beide Konzeptionen führen in ihrer reinen Form „ethisch in die Irre“, so der Theologe. Die Werte der beiden Systeme müssten „in ausgeglichener Weise zum Zug kommen“. Problematisch ist, dass Burkhardt dem freien Markt nur die Freiheit zuordnet, der konkurrierenden Wirtschaftsform Gerechtigkeit und Sozialität. Um es klar zu sagen: die Zentralverwaltungswirtschaft, also der Sozialismus, hat mit Gerechtigkeit und wahrem Gemeinschaftssinn nichts zu tun. Die Zentralverwaltungswirtschaft ist Unsinn, sie funktioniert nicht und ist moralisch verwerflich. Der freie Markt dagegen ist grundsätzlich richtig, natürlich, und vor allem sind Gerechtigkeit und echte Sozialität auch in ihm zuhause.
Im freien Markt müsse „eine egoistische Entartung des legitimen Eigeninteresses nach Möglichkeit verhindert“ werden, vor allem auch „durch konkrete Eingriffe von Seiten der Gemeinschaft“. Der Punkt ist aber, dass eine egoistische Entartung des Eigeninteresses nun gerade nicht das besondere Spezifikum des freien Marktes ist. Immer und überall ist dem Eigeninteresse des Menschen auch sündige Entartung beigemischt. Es müsste nun gezeigt werden, dass in Länder des demokratischen, d.h. rechtsstaatlichen Kapitalismus, also des mehr oder weniger reinen freien Marktes, diese Entartungen stärkeren Ausmaßes sind als z.B. in sozialistischen Systemen. Gilt nicht sogar das Gegenteil: im freien Markt kann ich nur dann im legalen Rahmen meinem Egoismus besser frönen, wenn ich meinen Mitbürger bessere Produkte verkaufe? Setzt der freie Markt dem Egoismus nicht viel mehr Grenzen als andere Wirtschaftssysteme, die auf die eine oder andere Art immer auf Raub beruhen? Der freie Markt ist in seinem Wesen sozial, weil er freiwillige Austauschprozesse auf hohem Niveau zwischen Menschen möglich macht. Der freie Markt braucht den Gegenpol und den Ausgleich der Prinzipien der Zentralverwaltungswirtschaft ganz gewiss nicht! Der freie Markt braucht den Rahmen von Recht und Gerechtigkeit, aber ohne diesen gibt es überhaupt keinen komplexen freien Markt, weshalb sie zu seinem Wesen gehören.
Der freie Markt braucht Obrigkeit, aber nicht unbedingt den Sozialstaat. All dies bedeutet natürlich, dass der Sozialstaat nicht der unbedingt nötige Überbau zu einem ungebändigten freien Markt ist. Der freie Markt braucht ‘Ausgleich’ von Ergebnissen der Marktmechanismen, aber dies geschieht am besten dezentral und freiwillig. Denn auch die Staatsdiener sind der Gefahr der egoistischen Entartung unterlegen. Nur weil sie sich das Gemeinwohl auf die Fahnen geschrieben haben, handeln sie nicht auch entsprechend. Entarteter Egoismus ist das menschliche Problem nach dem Sündenfall. Sollte man dann nicht staatlichen Organen mit dieser Machtfülle möglichst wenig Vollmachten geben?
Ist Nächstenliebe institutionalisierbar?
Wohin man in der deutschsprachigen Theologie auch blickt – das Lob des Sozial- und Wohlfahrtsstaates ist nicht weit. Da ist der Wind der noch gar nicht so fernen Vergangenheit umso erfrischender. Niemand anderes als Helmut Thielicke (1908–1986) nannte den Wohlfahrtsstaat in Theologische Ethik, Bd. II/2 ein „Verwesungsprodukt“ christlicher Nächstenliebe. Einer der angesehensten evangelischen Theologen der Nachkriegszeit schlug in dem Werk einen ganz anderen Ton als heute üblich an.
Thielicke weist gleich zu Beginn seiner Erläuterungen darauf hin, dass der Terminus „sozialer Rechtsstaat“ einen Widerspruch in sich birgt. Er zitiert F. Forsthoffs Lehrbuch des Verwaltungsrechts (1961): „Sozialstaat und Rechtsstaat sind, jeweils konsequenterweise zu Ende gedacht, Staaten von verschiedener, um nicht zu sagen gegensätzlicher politischer und rechtlicher Ausprägung.“ Eigentlich liegt dies auf der Hand. Rechte sind einklagbar, und sie sind klar definiert – andernfalls sind es keine Rechte. Im Wikipedia-Eintrag zum Sozialstaatsprinzip heißt es gut: „Das Sozialstaatsprinzip enthält kein einklagbares Recht und ist deshalb nur ein Postulat. Es legt fest, dass Deutschland ein sozialer Staat ist. Über die Ausgestaltung des Sozialstaats muss von der Politik entschieden werden.“ Die Politik, der Staat, füllt das „sozial“ wie es ihr gefällt, und was immer sie sich ausdenkt, kann und wird natürlich mit dem Sozialstaat begründet. Ehrlicherweise wird in dem Eintrag daher von einem „Spannungsverhältnis“ zur Rechtsstaatlichkeit gesprochen. Der Begriff „Spannung“ überdeckt jedoch den wahren Gegensatz. So wird nun gefordert, es müsse „zum Ausgleich zwischen ihnen kommen“, was nichts anderes heißt, als dass der Rechtsstaat eingeschränkt werden muss. Hier wäre Ehrlichkeit am Platze: Wer den Sozialstaat ausweiten will, muss den echten Rechtsstaat – den Staat, der die Freiheitsrechte der Bürger schützt – zurückdrängen.
„Der Wohlfahrtsstaat ist der kollektive, vom Staate ideel und materiell getragene Versuch, der Misere des menschlichen Lebens mit den Mitteln einer rationalisierten Fürsorge zu begegnen.“ So lautet Thielickes Definition. Er gesteht ein: Es mag „eine Rationalisierung der Wohltätigkeit und also auch entsprechende Apparaturen geben“, aber umso mehr „gilt es doch, mit allen nur denkbaren Mitteln Räume auszusparen, in denen unmittelbare Mitmenschlichkeit tätig sein und sich erkennen lassen kann. Das ist der Sinne der These, daß Staatlichkeit auf ein Minimum beschränkt werden müsse […].“ Thielickes Hauptanfrage an den Wohlfahrtsstaat: Ist Nächstenliebe wirklich institutionalisierbar? Marx (s.o.) beantwortet diese Frage positiv; Thielicke ist hier sehr skeptisch. Sollte die Nächstenliebe nicht möglichst weitgehend in nichtstaatlichen Räumen umgesetzt werden? Thielicke plädiert mehrfach für das „Prinzip des Staatsminimums“.
Thielicke sah schon vor vielen Jahrzehnten einen Trend zum „totalen Wohlfahrtsstaat“, selbst wenn dieser aus „demokratisch-humanitären Motiven gespeist ist“, „ein Gefälle auf den omnipotenten Staat hin“. Und mit Rückgriff auf die protestantische Tradition: „überall, wo das Staatsmaximum droht, sind auch die Grundfesten der Zwei-Reiche-Lehre bedroht. Der Staat als Allvater […] überschreitet die ihm zugewiesene Region ‘zur Linken’ und übernimmt – latent oder programmatisch – die Aufgaben einer Pseudo-Kirche mit.“ Angesichts der Bedrohung durch das Chaos sah Luther den Staat als nötige Ordnungsgewalt. Heute kommt die Bedrohung eher aus umgekehrter Richtung. Thielicke spricht von einem „Übermaß staatlicher Ordnung“, einer „staatlichen Superorganisation“, die „aus der Nächstenliebe eine Wohlfahrtsapparatur macht“. „Liebe ist Unmittelbarkeit. Ordnung ist Mittelbarkeit.“ Käßmann kann sich hier gewiss nicht auf den Ethiker berufen.
Thielicke beschäftigt sich auch recht ausführlich mit den Folgen des Wohlfahrtsstaates. Zum einen habe es eine Wandlung in der Sicht der Armut gegeben. Früher war dies vor allem eine „individuelle Erscheinung“, nun wird sie als „ein Defekt in der gesellschaftlichen Struktur“ gesehen.
Auch der Staat wird nun gleichsam ein anderer. „Der Übergang zum unpersönlichen Apparat, wie ihn der Wohlfahrtsstaat nur besonders kraß veranschaulicht, kommt vielleicht der verhängnisvollen Neigung, den Staat abstrakt und unpersönlich zu sehen, besonders entgegen.“ Die Fürsorge wird zu einem Anspruch. Es heißt nicht mehr ‘Wir müssen helfen’: „Je mehr sich also die Tendenz zum totalen Wohlfahrtsstaat durchsetzt, umso mehr ändert sich in diesem Zusammenhang auch der Slogan. Es heißt dann: ‘Der’ Staat muß hier helfen; ich habe Anspruch an ‘den’ Staat. Der Staat ist ein Es geworden.“ Thielicke spricht hier sogar von einer „Entartung des Staatsbewußtseins“.
Die steigende Steuerlast droht private Hilfe wie die der Kirchen „an die Peripherie einer Wohlfahrtspflege zu drängen“. Es besteht ein „Gefälle auf eine Maximum an Staatlichkeit, das mit dem staatlichen Wohlfahrtsmonopol gegeben ist.“ „Die in der modernen Gesellschaft notwendige Rationalisierung der Wohlfahrt drängt auf totale Planung, auf totale Steuerung und damit auf Vereinigung in einer Hand.“
Thielicke erinnert an die „Zweideutigkeit des Menschen“, er ist „Geschöpf und Sünder zugleich“. In diese Ambivalenz werden auch alle Wohlfahrtsapparaturen hineingezogen: Sie werden ebenfalls „zu einem Mittel der Korruption“, vor allem durch das Anspruchsdenken: „der Wohlfahrtsstaat wird zum Allvater, der schließlich für jede Lebensmisere verantwortlich ist und darum auch als Sündenbock denunziert wird, wenn notwendig verbleibende Lücken in seiner Fürsorge festzustellen sind.“ Schließlich sieht Thielicke im bundesdeutschen Rentensystem einen „Wechsel auf die Zukunft“: „Es ist kaum abzuschätzen, welche Auseinandersetzungen zwischen den Generationen sich hier ankündigen.“
„Gefügige Sklaven des Wohlfahrtstaats“
Als sich der Sozialstaat Mitte des vergangenen Jahrhunderts auch in den angelsächsischen Ländern mehr und mehr etablierte, warnte niemand anderes als C.S. Lewis vor den Folgen. Im Essay mit dem vielsagenden Titel „Gefügige Sklaven des Wohlfahrtsstaates“ aus dem Jahr 1958 stellte der bekannte Schriftsteller und Apologet nüchtern fest, dass die „klassische Staatstheorie mit ihren stoischen, christlichen und juristischen Kernelementen gestorben ist.“ Lewis, ganz in klassisch-liberaler Tradition: „Der moderne Staat ist nicht mehr zum Schutz unserer Rechte da, sondern um uns Gutes zu tun oder um uns gut zu machen, auf alle Fälle, um etwas an uns oder mit uns zu tun.“
Lewis warnte prophetisch vor einem „Welt-Wohlfahrtsstaat“, dessen Logik so zwingend ist: „Auf der einen Seite sehen wir die verzweifelte Not: Hunger, Krankheiten und die Angst vor dem Krieg. Auf der anderen Seite haben wir eine Idee, wie ihr abzuhelfen wäre: durch eine für alles zuständige, staatsübergreifende Technokratie. Sind das nicht die idealen Voraussetzungen für eine Versklavung?“ Kritisch fragt er: „Gibt es eine Möglichkeit, den Honig des Super-Wohlfahrtsstaats zu lecken und am Stachel vorbeizukommen? Täuschen wir uns nicht über den Stachel!“ Denn dieser Wohlfahrtsstaat bedeutet, dass „einige Menschen das Geschick der übrigen in die Hand nehmen. Sie werden auch nur Menschen sein.“ Warum sollte diese Macht nicht vielmehr nach Möglichkeit beschränkt werden? „Haben wir irgendeinen neuen Grund entdeckt, warum die Macht nicht ausarten sollte?“
Politische Falschmünzerei
Natürlich muss in diesem Zusammenhang noch der vor ein paar Jahren verstorbene Roland Baader erwähnt werden. Der Katholik und Ökonom nahm nie ein Blatt vor den Mund. In „Vom christlichen Glauben zur Sozialreligion“ (in: Mehr als man glaubt): „Sozialismus und Sozialstaat sind unmoralische Systeme.“ Die „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums habe „der beliebigen Aushöhlung des Eigentumsbegriffs Tür und Tor geöffnet“. „Die Ethik des Teilens ist unendlich wichtig im persönlich-familiären Bereich, aber sie wird zur perversen Ethik der Destruktion, wenn man sie auf ein Gesellschaftssystem aufpfropfen will.“
Zum Stichwort Moral auch in seinem Buch Fauler Zauber: „In Wirklichkeit handelt es sich beim Wohlfahrtsstaat und beim Sozialstaat um ein und dasselbe Phänomen. […] Entscheidend ist, dass beiden termini derselbe geistige Defekt zugrunde liegt, und zwar in der Theorie ebenso wie in der Praxis: Ist nämlich – hier beim Wohlfahrtsstaat wie dort beim Sozialstaat – das Band zwischen Leistung und Ertrag, zwischen Beitrag und Nutzen erst einmal prinzipiell zerrissen, dann kann der Kern aller Moral, die persönliche Verantwortung nämlich, nicht mehr stattfinden. (Und um Moral geht es ja angeblich beim Sozialstaat.) Kollektive Verantwortung, holistische Verantwortlichkeit gibt es nicht und kann es nicht geben. Deshalb kann es auch niemals eine Kollektivmoral geben, und folglich ist auch die ‘Moral’ oder das Moralische des Sozialstaat dieselbe Schimäre wie die des Wohlfahrtsstaates. Alle anderen Parolen sind nur rhetorische Blüten aus der hochinnovativen Werkstatt politischer Falschmünzerei.“
„Nichts unsozialer als der Wohlfahrtsstaat“
Baader wird von Käßmann, Marx und Co. gewiss als unverbesserlicher Neoliberaler oder Libertärer abgetan. Mit dergleichen Typen redet man ja gar nicht. Also höre man doch auf Ludwig Erhard, einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, der schon 1958 in „Die Zeit“ (Nr. 33) schrieb: „Nichts ist darum in der Regel unsozialer als der sogenannte ‘Wohlfahrtsstaat’, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken läßt. Es ist ein Betrug, der am Ende immer – wie viele geschichtliche Beispiele erweisen – mit dem Fluch der Inflation bezahlt werden muß, es sei denn, daß eine Politik der Gleichmacherei die Volkswirtschaften an der Ausnutzung des technischen Fortschrittes verhindert und damit ihre Wettbewerbskraft zerstört. Dann aber ist das Übel womöglich noch größer.“
In Wohlstand für alle, das bekannteste Werk des Christdemokraten aus dem Jahr 1957, behandelt Kapitel 12 unser Thema: „Versorgungsstaat – der moderne Wahn“. Erhard darin: „Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung kann auf die Dauer nur dann bestehen, wenn und solange auch im sozialen Leben der Nation ein Höchstmaß an Freiheit, an privater Initiative und Selbstvorsorge gewährleistet ist. Wenn dagegen die Bemühungen der Sozialpolitik darauf abzielen, dem Menschen schon von der Stunde seiner Geburt an volle Sicherheit gegen alle Widrigkeiten des Lebens zu gewährleisten, d.h. ihn in einer absoluten Weise gegen die Wechselfälle des Lebens abschirmen zu wollen, dann kann man von solchen Menschen einfach nicht mehr verlangen, daß sie das Maß an Kraft, Leistung, Initiative und anderen besten menschlichen Werten entfalten, das für das Leben und die Zukunft der Nation schicksalhaft ist und darüber hinaus die Voraussetzung einer auf die Initiative der Persönlichkeit begründeten ‘Sozialen Marktwirtschaft’ bietet.“
Und geradezu prophetisch: „Ich bin in der letzten Zeit allenthalben erschrocken, wie übermächtig der Ruf nach kollektiver Sicherheit im sozialen Bereich erschallte. Wo aber sollen wir hinkommen und wie wollen wir den Fortschritt aufrechterhalten, wenn wir uns immer mehr in eine Form des Zusammenlebens von Menschen begeben, in der niemand mehr die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen bereit ist und jedermann Sicherheit im Kollektiv gewinnen möchte. Ich habe diese Flucht vor der Eigenverantwortung drastisch genug gekennzeichnet, wenn ich sagte, daß, falls diese Sucht weiter um sich greift, wir in eine gesellschaftliche Ordnung schlittern, in der jeder die Hand in der Tasche des anderen hat.“
(Alexander Rüstow gebrauchte ein Jahr zuvor in „Wohlfahrtsstaat oder Selbstverantwortung?“ ein ähnliches und etwas präziseres Bild. Er plädierte zwar für ein recht starken Staat, sah aber auch, dass der Staat „alles, was er ausgibt, vorher einnehmen muss. Er ist insofern nichts weiter als ein ungeheures, höchst kompliziertes Röhrensystem, teils aus Saugröhren, teils aus Druckröhren bestehend. Der Wohlfahrtsstaat legt Wert darauf, daß er zu jedem Staatsbürger ein Druckrohr leitet, durch das er seine Wohlfahrtsleistungen zupumpt. Zugleich aber hat er in der Geldtasche jedes Staatsbürgers ein Saugrohr verschiedenen Querschnitts […].“)
Noch einmal Erhard: „Die Blindheit und intellektuelle Fahrlässigkeit, mit der wir dem Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat zusteuern, kann nur zu unserem Unheil ausschlagen. Dieser Drang und Hang ist mehr als alles andere geeignet, die echten menschlichen Tugenden: Verantwortungsfreudigkeit, Nächsten- und Menschenliebe, das Verlangen nach Bewährung, die Bereitschaft zur Selbstvorsorge und noch vieles Gute mehr allmählich aber sicher absterben zu lassen – und am Ende steht vielleicht nicht die klassenlose, wohl aber die seelenlos mechanisierte Gesellschaft.“
Was würden Thielicke, Lewis und Erhard wohl heute sagen – zwei Generationen real existierender Sozialstaat später? Sie waren unabhängige Denker. Dagegen beten die großen Kirchen und ihre Spitzen heute, so Baader, „nur die Parolen des Wohlfahrtsstaates nach“.
Dabei haben sie etwas zu tun. Erhard erinnerte in dem Beitrag in der „Zeit“: „im Rahmen einer freiheitlichen Lebensordnung bleibt es dabei, daß der Zweck alles Wirtschaftens nur der Verbrauch sein kann.“ Die Wirtschaft ist auf Konsum durch Menschen ausgerichtet. Was sonst? Konsumismus zeugt daher nicht vom Versagen der Wirtschaft, sondern auch der Kirche, die neben anderen Institutionen für den Bereich „jenseits von Angebot und Nachfrage“ (W. Röpke – noch so ein früher Neoliberaler) zuständig ist. Die Kirchen sollten nicht immer nur nach dem Sozialstaat rufen, sondern ihre eigenen Hausaufgaben machen und die Werte und Tugenden ihrer Mitglieder bilden und prägen. Genau hierhin gehört die Mahnung zum Verzicht um höherer Ziel willen, die die Wirtschaft selbst nicht festlegt. „Wir haben verlernt zu verzichten“. Darin steckt viel Wahrheit, aber wer ist für dies Verlernen verantwortlich? Das selbstverantwortete Abgeben lernt man nur in einem Rahmen der Freiwilligkeit, vor allem in Familie und Kirche, und nicht durch die Zwangsmaßnahmen des Sozialstaates. Es ist letztlich dieser Sozialstaat, der den guten Konsum zum Konsumismus entarten lässt.
(Bild o.: Albert Anker, Armensuppe, 1893.)