Die christliche Kampfformation
An zweifacher Front
Die Sicht des Bösen im christlichen Glauben ist komplexer als man gemeinhin denkt. Das Böse steckt als Schwäche und Verführbarkeit in uns und greift uns gleichzeitig von außen her als Kraft an. So finden sich im „Vater unser“ gleich zwei Bitten (Matthäus 6,13): „ lass uns nicht in Versuchung geraten“ – bewahre uns vor uns selbst, d.h. vor dem Bösen in uns; und „errette uns vor dem Bösen“ – bewahre uns vor den Bösen und dem Bösen, dem Teufel von außen.
Ähnlich auch im Römerbrief. In den Kapiteln 5–8 setzt Paulus den Glauben voraus (5,1) und bespricht das Verhältnis des Christen zum Bösen in der Welt: nach dem Rahmen in 5,1–11 erläutert der Apostel in 5,12–8,17 das Verhältnis zum Bösen in uns, das wir selbst verschulden, dann in 8,18–39 thematisiert er das Verhältnis zum Bösen von außen. Schließlich sei noch Jakobus 1,1–12 genannt: Trübsal und Versuchung, die von außen auf uns eindringen; und 1,13–18: Versuchung der Sünde von innen.
Auf diesem Hintergrund gibt es nun mehrere wichtige Tugenden. Da wäre zuerst die Wachsamkeit. Die Ermahnung zur doppelten Wachsamkeit finden wir auch im Neuen Testament. Jesus ruft sein Jünger auf: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet! Der Geist ist willig, aber die menschliche Natur ist schwach“ (Matthäus 26,41). Hier geht es mehr um die eigene Schwäche. An anderer Stelle richtet sich die Wachsamkeit auf den Feind von außen: „Seid besonnen, seid wachsam! Euer Feind, der Teufel, streift umher wie ein brüllender Löwe, immer auf der Suche nach einem Opfer, das er verschlingen kann“ (1 Petrus 5,8).
Außerdem muss gegen das Böse gekämpft werden. Im Alten Testament wurden oft die Schwerter geschwungen. Der Kampf der Christen um das Reich Gottes wird dagegen nicht mehr mit äußerer Gewalt geführt. Dennoch behält auch das Neue Testament ähnlich der gerade zitierten Stelle eine recht militärische Sprache bei: „Haltet unbeirrt am Glauben fest! Seid mutig und seid stark! “ (1 Korinther 16,13; s. auch 9,26 und Lukas 13,24, wo das Ringen wörtlich „kämpft“ heißt; auch in Lukas 22,35–38 geht es, trotz der Erwähnung von „Schwertern“, um einen geistlichen Kampf).
In Epheser 6,10f schreibt Paulus sogar: „Lasst euch vom Herrn Kraft geben, lasst euch stärken durch seine gewaltige Macht! 11 Legt die Rüstung an, die Gott für euch bereithält; ergreift alle seine Waffen! Damit werdet ihr in der Lage sein, den heimtückischen Angriffen des Teufels standzuhalten.“ Mit äußerer Gewalt haben die anschließend genannten Waffen dann aber nichts zu tun: Wahrheit, Gerechtigkeit, Glauben, Heil usw. – hier wird wieder sehr deutlich das innen und außen im Kampf gegen das Böse verknüpft. Die Bedrohung kommt durchaus von außen („Brandpfeile“!), aber die Waffen sind eng mit unseren inneren Einstellungen verknüpft.
Mut und Tapferkeit
Schon Plato sprach von vier herausragenden Tugenden, die später „Kardinaltugenden“ genannt wurden: Klugheit, Tapferkeit, Maß und Gerechtigkeit. Bei seinem Schüler Aristoteles ist die Tapferkeit die gesunde Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Von den Einsichten der antiken Philosophen ist durchaus zu lernen. David W. Gill rückt diese Tugenden in einen christlichen Kontext:
„Biblischer Mut unterscheidet sich von der klassischen Tugend der Griechen [Tapferkeit] in mindestens zwei Hinsichten. Er ist erstens untrennbar verbunden mit der Gegenwart des Herrn. ‘Sei getrost und unverzagt. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tust’ (Josua 1,9). Mut entspringt nicht einer Kraft in uns, sondern Gottes Gegenwart und Macht. Zweitens ist biblischer Mut auf die Zukunft ausgerichtet. Mut wird inspiriert durch Hoffnung und Vertrauen auf die Zukunft… Gott gibt uns Mut – die Fähigkeit Ja zu sagen und am Tun des Richtigen festzuhalten, auch wenn es schwer fällt, auch wenn wir erschöpft sind und alles in uns ruft ‘Es reicht!’. Selbstbeherrschung ist sein Partner – die Fähigkeit Nein zu sagen, sich zu weigern das Falsche zu tun, auch wenn wir dies so sehr wollen, dass es schmerzt und alles in uns ruft ‘Hol es dir jetzt!’.“ (Becoming good)
Auch Reformator Johannes Calvin betonte die Tapferkeit im christlichen Kampf – und unsere Angewiesenheit auf göttliche Hilfe: „Deshalb sollen wir alles daran wenden, dass uns der Feind – dieser kampfbereiteste in seiner Kühnheit, dieser gewaltigste in seiner Kraft, dieser schlaueste in seinen Ränken, unermüdlich in seiner Umsicht und Schnelligkeit, voll Tücke aller Art, kampferfahren bis auf äußerste, der uns, wie wir gewarnt sind, ohne Unterlass bedroht! –, dass uns dieser Feind nicht in Sorglosigkeit und Trägheit überfalle, sondern wir wackeren und aufrechten Geistes festen Fuß fassen, um ihm zu widerstehen! Und weil dieser Kriegsdienst erst mit dem Tode endet, so werden wir zur Beharrlichkeit ermahnt. Vor allem aber sollen wir im Bewusstsein unserer Schwachheit und Unerfahrenheit Gottes Hilfe anrufen und nichts ohne Vertrauen auf ihn unternehmen; denn er allein kann Rat und Kraft, Mut und Rüstung schenken“. (Inst. I,14,13)
Schließlich seien noch die hilfreichen Einsichten James I. Packers zitiert: „Innere seelische Festigkeit [engl. fortitude], die vierte der vier Kardinaltugenden der Moraltheologie des Mittelalters, ist Tapferkeit und mehr. Tapferkeit kann unbeständig sein und vergehen, doch Festigkeit ist eine Verbindung von Mut und Durchhaltevermögen. Sie hält an. Glaube wirkt Festigkeit, denn er hält vor uns die Hoffnung vor Augen… Die Idee der Festigkeit stammt von Aristoteles, doch die Kraft sie zu praktizieren, kommt nur aus dem Evangelium…“ (Rediscovering Holiness)
Die Tugend des Mutes, der Tapferkeit, hat es heute schwer. Die komplexe Ordnung der biblischen Tugenden ist aus den Fugen geraten und ein in vielfacher Hinsicht verweichlichtes Christentum dabei herausgekommen. Dabei brauchen wir jedoch Mut wie zur Evangeliumsverkündigung, den in Apostelgeschichte 4,13.29 und Epheser 6,19 genannten „Freimut“ (s. auch Dt 31,6; Jos 1,6.9.18; 1 Kor 16,13). Und natürlich brauchen wir Mut zum Unterschied, zum Anderssein als Christ, wie auch John Stott in der Einleitung seines Bergpredigtkommentars sehr gut deutlich gemacht hat.
Lehren von „Rom“
Natürlich kann bei diesem Thema John White (1924–2002) nicht unerwähnt bleiben, der in seinem bekannten Bestseller Der Kampf (The Fight: A Practical Handbook for Christian Living, 1976) schreibt:
„Das Bild des Krieges illustriert nicht einzelne Aspekte des Christenlebens, sondern das Leben eines Christen ist Krieg. Ich möchte sogar noch weitergehen in meiner Behauptung. Die irdischen Kriege sind nicht der eigentliche Krieg, sie sind nur schreckliche Reflexe des wirklichen Krieges. Und in diesen wirklichen Krieg ist der Christ hineingestellt. Die Kriege auf Erden sind wie die fernen Auswirkungen eines Erdbebens, dessen Zentrum Lichtjahre entfernt liegt, während der Christ im Zentrum kämpft. Für den, der im Zentrum des Krieges unterliegt, ist die Sache tödlich… Sind Sie bereit, Christus in das Zentrum des Kampfes zu folgen?.. Wir müssen wissen, dass der Krieg etwas kostet. Die Gefahren und Versuchungen sind wirklich. Treffen Sie deshalb keine impulsiven Entscheidungen aus einer augenblicklichen Begeisterung heraus. Überschlagen Sie vorher die Kosten! Aber was sage ich hier? Da ich mich in diesem Buch an Christen richte, klingt das fast so, als würde ich behaupten, der Christ könne auch ohne Kampf leben. Aber das stimmt nicht. Das Überschlagen der Kosten muss eigentlich vorher geschehen, ehe wir überhaupt Christ werden. Sich für Jesus als den persönlichen Retter und Heiland entscheiden bedeutet, in eine Armee einzutreten. Ob Sie es wissen oder nicht, wenn Sie Christ sind, gehören Sie schon zu der Armee. Die einzige Möglichkeit, die Ihnen noch offen bleibt (wenn Sie nicht kämpfen wollen), ist zu desertieren, Ihre Uniform zu verstecken und so zu tun, als ob Sie nicht dazu gehörten.“
Der Christ gehört zu einer Armee. Er ist also kein Einzelkämpfer. In diesem Zusammenhang ist auch der bekannte Abschnitt in Epheser 6,10f über die Waffenrüstung der Christen (s.o.) zu sehen. Der einzelne Christ ist zum Anlegen dieser Rüstung aufgefordert; und die oben geschilderten Tugenden sind zuallererst persönliche Eigenschaften. Doch jeder Kämpfer ist Teil eines größeren Ganzen. Den damaligen Lesern des Paulusbriefes war vollkommen klar, dass der Kampf in einer Formation geführt werden muss, in der Gemeinschaft der Christen, also in der Gemeinde.
Zur Zeit Jesu und der Apostel war die römische Armee die einzige, die die Menschen vor Augen hatten. Seit der späten Republik und dann auch während der frühen Kaiserzeit, als die biblischen Schriften verfasst wurden, war sie eine Kampftruppe von Profis. Mit der Heeresreform des Marius zwei Generationen vor Caesar war aus der früheren Bürgerarmee endgültig eine Berufsarmee von Freiwilligen geworden. Die Bewaffnung der Legionäre wurde vereinheitlicht, und man kämpfte nun in den Einheiten von Zenturien, Manipeln und Kohorten.
Große Stärke des römischen Heeres war die eiserne Disziplin, die es überhaupt erst möglich machte, taktisch sehr wirkungsvoll in Formationen zu kämpfen. Seht gut deutlich wird dies in einer Szene der TV-Serie „Rom“ (2005–2007), die vor zehn Jahren auch auf deutschen und österreichischen Kanälen lief. Der Zenturio Lucius Vorenus blickt auf Horden von Galliern, die sich mit lautem Kriegsgeschrei nahen. Als ein bestimmter Abstand unterschritten ist, gibt er das Kommando zur Formationsbildung – und aus der ersten Reihe entsteht ein Wall aus Schildern. Die Gallier stürmen wild gegen die Einheit an und werden durch gezielte Schwertstöße aus der Deckung der Schilde heraus abgewehrt und getötet. Der hünenhafte Titus Pullo, einer der Hauptfiguren der Serie, verlässt jedoch die Formation und wirft sich mitten unter die Gallier. Vorenus pfeift ihn streng zurück: „Get back in formation!“
Vorenus nutzt im Film tatsächlich eine Trillerpfeife. Damit gibt er das Signal, wenn die Soldaten der ersten Kampflinie sich nach hinten zu begeben hat (im Bild o. in der Vogelperspektive gezeigt), damit die nachrückende Reihe dem Feind direkt begegnet. Ob es solche Pfeifen gegeben hat, ist unsicher. Spekulativ ist auch das gegenseitige Festhalten und Stützen der Legionäre an einem Riemen über dem Rücken. Wie auch immer diese Details historisch zu bewerten sind – sehr gut wird gezeigt, dass die Soldaten im wahrsten Sinne des Wortes zusammenhielten und so eine effektive Kampfmaschine bildeten. (Der disziplinierte Aufmarsch der römischen Legionen ist übrigens auch in Stanley Kubricks „Spartacus“ gut dargestellt.)
In der Szene wird ein Moment der Schlacht bei Alesia 52 v. Chr. dargestellt. Am Ende standen etwa 40.000 römische Legionäre einer geschätzten Viertelmillion Gallier gegenüber – und Caesars Truppen siegten. Über Jahrhunderte bewährte sich dies Erfolgsrezept, das nicht zuletzt zur langen Dominanz Roms führte: hervorragend ausgebildete Kämpfer, die eingebunden waren in diszipliniert agierende Einheiten, die unter der richtigen Führung eine selten wieder erreichte Durchschlagskraft erreichten.
Christen brauchen die geistliche Waffenrüstung, weil sie als „Fremdlinge und Pilger“ (1 Petrus 2,11) in der Welt vielen Anfeindungen ausgesetzt sind. Petrus ermahnt daher zu einem „rechtschaffenen Leben“ und zu „guten Werken“ (V. 12). Man beachte aber die Verse davor. Der Christ ist Teil eines „auserwählten Geschlechts“, des „Volks des Eigentums“. Als Teil dieses Volkes sollen er und sie die „Wohltaten“ Gottes, also das Evangelium, verkünden und sich durch ihre Moral von der Umwelt unterscheiden (V. 9). Wie ein römischer Legionär außerhalb seiner Formation seine Kraft nicht entfalten und nur schwer überleben kann, so sind auch Gläubige auf die geistliche Kampfformation, die Kirche, angewiesen.
Militärischer Erfolg ist schließlich von kompetenter und vorbildlicher Leitung abhängig. Dies galt für die Ebene der Offiziere wie der Zenturionen und bis hinauf zur Armeespitze. Caesar war machtbessessen, ruhmsüchtig und skrupellos, doch für seine Legionäre setzte er sich ein und war bei ihnen äußerst beliebt. Nur so war es möglich, Legionen durchs feindliche Gallien zu führen. Am Abend des 2. Oktobers bei der Schlacht um Alesia nahmen die Gallier die Römer an einer schwachen Stelle des Belagerungswalls in die Zange. Der Untergang der Legionen drohte. Alles stand auf der Kippe – nicht nur die Schlacht, sondern die ganze Eroberung Galliens, Caesars Schicksal und mit all dem im Rückblick sogar die Zukunft Europas. Caesar hatte immer ein Gespür für den richtigen Moment und tat genau das entscheiden Richtige: Er setzte alles auf eine Karte, schwang sich auf sein Roß und ritt mitten ins Kampfgetümmel. Mit seinem purpurnen Umhang war er für alle Legionäre sofort erkennbar – und ein Ruck ging durch das römische Heer, das durch den mutigen Einsatz des obersten Feldherren an ihrer Seite ungeheuer gestärkt wurde. Caesars mutige Führung konnte das Blatt noch einmal zu Gunsten der Römer wenden. – Auch in der christlichen Kirche ist das Fußvolk auf mutige Leiter angewiesen, die sich in der Stunde der höchsten Not an die Spitze des Kampfes stellen und dabei kein Risiko scheuen.