Der Händler als Held
Neben den Weisen werden als einzige Besucher bei dem neugeborenen Jesus nur die Hirten von den nahen Feldern genannt (Lk 2,8f; mglw. trafen die Weisen auch erst eine geraume Zeit später auf die Familie Jesu, d.h. Mt 2 ist zeitlich nach Lk 2 anzusiedeln). Ihnen verkündigt ein Engel von der Geburt, und sie entschließen sich, Jesus zu besuchen. Schließlich verkündigen sie, was sie gesehen und erlebt haben und werden so gleichsam zu den ersten Evangelisten. Dies ist im damaligen historisch-kulturellen Kontext höchst bemerkenswert. Denn das allgemeine Image der Hirten im römischen Reich war äußerst schlecht. James F. Jeffers:
„Grundsätzlich schauten die Griechen und Römer auf die Hirten herab, die als dreckig und stinkend angesehen wurden, da sie die meiste Zeit draußen mit den Tieren verbrachten. Aristoteles sagte, dass unter den Menschen ‘die faulsten die Hirten sind, die ein müßiges Leben führen und sich ohne Mühe ernähren von ihren gezähmten Tieren; ihre Herden müssen von einem Ort zu nächsten wandern auf der Suche nach Weide. So sind sie gezwungen ihnen zu folgen und werden so selbst zu einer lebendigen Farm’ (Politik 1,8). Viele Römer glaubten außerdem, dass viele Hirten auch noch Wegelagerer und Räuber waren…“ (The Graeco-Roman World of the New Testament)
Jesus selbst wird in Mt 13,55 und Mk 6,3 als „Zimmermann“ bzw. „Sohn eines Zimmermanns“ bezeichnet. Eine angemessenere Übersetzung des gr. tekton wäre wohl „Bauhandwerker“ (das gr. Wort steckt auch in unserem „Architekten“). Über Jahrzehnte dürfte Jesus diesen Beruf lange mit seinem Adoptivvater Joseph ausgeübt haben. In Palästina sah man dabei in so einer Beschäftigung keinen Widerspruch zur Bildung. Die Zimmerleute galten sogar als gelehrter Handwerksstand.
Anders in der griechisch-römischen Kultur. Ende des II Jahrhunderts warf der Philosoph Celsus den Christen vor, ihr Religionsstifter sei nichts anderes als ein Bauhandwerker gewesen. Dies war ein polemisches Argument, denn die damalige Oberklasse verhöhnte die im Handwerk Arbeitenden. Außerdem betrachtete die Elite die Handwerker als ungebildet und tugendlos. Mit anderen seines Standes teilte Cicero die Ansicht, dass physische Arbeit den Körper, die Seele und die guten Sitten verroht. Die meisten antiken Autoren meinten, dass der bessere Teil des Menschen der psychische und geistliche ist.
Auch die von Jesus berufenen Jünger hatten alle ‘normale’ Berufe, sie waren überwiegend Fischer (Mt 4,18; Mk 1,16). Trotz ihrer neuen Berufung gaben sie ihr Handwerk offensichtlich nicht völlig auf bzw. verlernten es nicht (Joh 21,3).
In Jesu Gleichnissen spiegelt sich alltägliche Berufswelt ebenfalls oft wieder. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25f) werden wir in eine sehr anschauliche, real anmutende Situation hineingeführt: die Straße zwischen Jerusalem und Jericho; der von Räubern überfallene Reisende; ein Priester, Levit und Samariter. Dass Jesus hier einen verhassten Samariter und keinen einfachen Juden als Helden der Geschichte präsentiert, war damals in Judäa und Galiläa äußerst provozierend.
Aber damit nicht genug: Der Beruf des Samariters wird nicht direkt genannt, aber jeder Leser des Lukasevangeliums im römischen Reich hatte sicher eine klare Vorstellung über den Broterwerb des barmherzigen Mannes. „Vermutlich war diese Samariter ein Geschäftsmann bzw. Kaufmann“, so Gerhard Maier in seinem Bibelkommentar. Damals reiste außer Händlern kaum jemand außerhalb der Heimat über Land, denn dies war eben recht gefährlich und teuer. Der Samariter besaß ein Reit- bzw. Lasttier (V. 34), welches er für den Warentransport benötigte. Offensichtlich kannte er sich in der Gegend aus, denn den Verletzten brachte er in eine Herberge, die er von seinen Handelstouren wohl schon gut kannte. Darauf deuten auch die Worte zum Wirt hin: er kündigt sein Wiederkommen an, d.h. er bereist die Route offensichtlich regelmäßig, und das war – abgesehen von Militärs, Beamten und Tempeldienern – nur bei Kaufleuten denkbar.
„Handelsgeist und krämerische Gewinnsucht“
Natürlich ist der Samariter eine fiktive Gestalt. Aber Jesu Gleichnisse sind meist sehr lebensnah, ja oftmals provozierend direkt. Es ist wohl kein Zufall, dass die Figur des Helden der Geschichte wegen seiner Religion nicht nur die Juden verstörte, sondern auch die breitere griechisch-römische Kultur – wegen seines Berufes. Denn wie im Fall der Hirten, Bauhandwerker oder Fischer galten auch die Händler damals wenig.
In den Gesetzen hält es der griechische Philosoph Platon zwar für theoretisch denkbar, dass Kleinhandel und Gewerbe „auf untadelige Weise“ betrieben werden; „die große Masse der Menschen“ ist jedoch „maßlos in ihren Bedürfnissen, und wenn sich ihnen ein mäßiger Gewinn darbietet, so steigert dies ihre Gewinnsucht bis zum Unersättlichen. Dies ist der Grund, weshalb Groß- und Kleinhandel und Gastwirtschaft und überhaupt alle Arten von Gelderwerb verachtet werden und im schlechten Rufe stehen.“ (XI, 918d) Die Nähe des Meeres erfüllt „die Bürger mit Handelsgeist und krämerischer Gewinnsucht“, was „ihren Seelen einen trügerischen und unzuverlässigen Charakter einflößt“, sie werden „der Treue und dem Wohlwollen gegen einander und gegen andere Menschen“ entfremdet (IV,705a).
Platons Schüler Aristoteles behauptet in seiner Politik, es sei „unmöglich, tugendhaft zu handeln, wenn man das Leben eines vulgären Handwerkers oder Lohnarbeiters führt“ (III.5.1278a20-1). „Die Bürger sollten nicht das Leben eines vulgären Handwerkers oder Kaufmanns führen. Denn diese Arten der Beschäftigung sind der Tugend unwürdige und feindlich“(VII.9.1328b39-1329a2). In seinem Entwurfe eines ideal verfassten Staates, in der alle Bürger nach Tugend streben, haben die Kaufleute kein Bürgerrecht.
Antony Flew (1923–2010) fasste gut zusammen: „Aristoteles Behauptung war, dass jeder gewinnträchtige Austausch im Wesentlichen ausbeuterisch ist. Denn er glaubte, dass die Erwerbungen eines jeden Händlers notwendigerweise auf Kosten der Handelspartner gehen müssen“. Aristoteles glaubte also an ein ökonomisches Nullsummenspiel: jedem Plus auf einer Seite muss ein Minus auf der anderen gegenüber stehen; gewinnt der eine, muss der andere Handelspartner entsprechend verlieren. Flew weiter: „Ohne eine wissenschaftliche Ökonomie hatten die alten Griechen wenig Verständnis für die wichtige Rolle der Unternehmer in der Gesellschaft. Nach überlieferten schriftlichen Berichten wurde jemand, der ein produktives Handwerk ausübte, als ‘vulgär’ (banausos) verunglimpft. Handwerker, Händler und Bankiers waren oft Ausländer, ehemalige Sklaven oder Bürger von zweifelhafter Herkunft. In den antiken Komödien machte man sich über Geschäftsleute gerne lustig.“ (Social Life and Moral Judgment)
Jahrhunderte später bezeichnete Cicero, der römische Politiker, Schriftsteller und Philosoph, den „Erwerb aller ungelernter Tagelöhner“ in Von den Pflichten „als unedel und unsauber“. „Zu den schmutzigen Geschäften rechnet man die Zwischenhändler… Sie würden gar nichts verdienen, wenn sie sich nicht ganz auf Lügnerei verlegten. Es gibt wahrhaftig nichts Schändlicheres als Unsolidheit. Alle Handwerker fallen auch unter diese unsaubere Zunft, was kann schon eine Werkstatt Edles an sich haben?“ Cicero will aber differenzieren: „Der Kleinhandel aber ist zu den unsauberen Geschäften zu rechnen, während der kapitalkräftige Großhandel, der die Verbrauchsgüter aus aller Welt herbeischafft und sie ehrlich den Massen zugutekommen lässt, nicht zu tadeln ist.“
E.W. und W. Stegmann fassen in Urchristliche Sozialgeschichte das Denken in der griechisch-römischen Antike gut zusammen. Grundsätzlich traf man damals die Unterscheidung „zwischen Tätigkeiten, die als körperliche oder geistige Anstrengungen zum Zwecke des Lebensunterhaltes verrichtet wurden (und im Prinzip mit niedrigem sozialen Ansehen verbunden waren), und Pflichten, Geschäften und Fähigkeiten, die der Elite vorbehalten waren.“ Auf der einen Seite standen also Beschäftigungen, denen es um die Geistesfreuden geht, auf der andere solche, die auf einen unmittelbaren Nutzen zielten. Die „freien Künste“ waren die eines freien Mannes würdigen Beschäftigungen wie Mathematik, Rhetorik, Philosophie; demgegenüber standen Handwerk und Handel, aber auch Kunstherstellung, Medizin und Architektur. „In der Geringschätzung handwerklicher, überhaupt körperlicher und für Lohn verrichteter Arbeit waren sich Platon, Aristoteles und Cicero… einig, auch wenn die Begründungen dafür differierten.“
Grundsätzlich hatte Arbeit für die antiken Oberschichtmitglieder also keinen Wert an sich. Dieser Geist spiegelt sich auch im apokryphen Buch Jesus Sirach wieder (38,24f): „Wer frei ist von Arbeit, kann sich der Weisheit widmen.“ Einzig die landwirtschaftliche Arbeit wurde positiver bewertet. Der sich selbst versorgende Bauer genoss noch das meiste Ansehen. Cicero: „Von allen Erwerbsarten ist die Landwirtschaft die beste, die ergiebigste und angenehmste, die des freien Mannes würdigste.“ Im Gegensatz zum Händler produziert der Landwirt wenigstens etwas. Noch einmal Stegmann und Stegmann: „In der Antike war das Vorurteil weit verbreitet, dass der Kaufmann eigentlich keine Arbeit leistet, sondern eher überflüssigerweise den Preis einer Ware verteuert… Handel war keine Arbeit.“
„Der Hauptspruch und Grund aller Wucherkniffe“
Das Judentum und Christentum hatten eine ganz andere Sicht der Arbeit als Plato, Aristoteles und Cicero. Gott selbst, der Schöpfer, ist ein arbeitender Gott (Gen 2,2; Ps 104,24). Der Mensch als Ebenbild Gottes ist zur Arbeit berufen (Gen 1,28; 2,15). Arbeit gehört zu unserem Menschsein unbedingt hinzu, sie macht unsere Würde aus; sie ist nicht bloß notwendiges Übel und nicht Folge der Sünde.
Im Zuge der Reformation wurde in einem nächsten Schritt die weltliche Berufsarbeit rehabilitiert. Werner Lachmann in Leben um zu arbeiten? über Martin Luthers Sicht der Arbeit: „Wer Gott dienen will, darf in seinem Beruf bleiben, darf tun, was Obrigkeit, Amt und Stand von ihm fordern. Mit seiner Arbeit und seinem Ertrag dient der Christ seinem Nächsten und somit Gott… Der wahre Gottesruf verwirklicht sich innerhalb der Welt und in der Arbeit.“ Ganz anders als die antiken Griechen und Römer betonte der Reformator, dass ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben gerade auch in den ‘niederen’ Berufen möglich ist. Luther:
„Ein armes Dienstmägdelein kann ernstlich die Freude im Herzen haben und sagen: Ich koche jetzt, ich mache das Bett, kehre das Haus. Wer hat‘s mich geheißen? Es hat mich mein Herr und meine Frau geheißen. Wer hat ihnen nun solche Macht über mich gegeben? Es hat Gott getan. Ei, so muß es wahr sein, daß ich nicht allein ihnen, sondern auch Gott im Himmel diene. Wie kann ich seliger sein!? Ist es doch ebensoviel, als wenn ich Gott im Himmel wollte kochen.“
Dennoch stand Luther dem Kaufmannsstand eher skeptisch gegenüber. Er ging längst nicht so weit wie Aristoteles, doch auch er meinte: „Ich sehe nicht viel gute Sitten, die je in ein Land durch Kaufmannschaft gekommen sind“. Den Fernhandel wollte er nicht recht akzeptieren, da er diesen mit Luxuswaren und Prachtentfaltung in Verbindung brachte. Andreas Pawlas: Luther hätte „schon gern den Stand der Bauern vermehrt und den der Kaufleute vermindert“. Das Gewerbe des Handels als solches sei nicht verwerflich, aber Luther verbindet damit so manch unmoralisches Verhalten wie „den Hauptspruch und Grund aller Wucherkniffe“: „Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich kann. Das halten sie für ihr Recht.“ Aber damit werde dem „Geiz der Raum gemacht und der Hölle Tür und Fenster aufgemacht“. Luther war, so Pawlas, „die durch die Kaufleute gewonnene wirtschaftliche Prosperität eher unheimlich und ein Zeichen des bevorstehenden jüngsten Tages“. Er glaubte, dass damals „das Kleiden so köstlich geworden [ist], dass es nicht höher kommen kann.“ (Alle Zitate aus Pawlaws Die lutherische Berufs- und Wirtschaftsethik)
Versorgung statt Vermehrung?
Luthers Naherwartung, der Glaube an ein baldiges Ende der Welt, wurde genährt durch die Türken in Ungarn, die Bauernkriege und die Bedrohung durch die katholischen Mächte. Diese düstere Zukunft und sein Denken in eher vormodernen wirtschaftlichen Kategorien ließen ihn die Möglichkeiten der großen Wohlstandssteigerung – auch durch Handel – nicht erkennen. Die ‘antikapitalistischen’ Äußerungen lassen sich also durch den historischen Standpunkt des Reformators recht gut erklären und so einordnen.
Anders sieht dies bei Thomas Giudici und Wolfgang Simson aus, die aus der Perspektive der reichen Schweiz der heutigen Tage in Der Preis des Geldes schreiben:
„Die vormoderne Wirtschaft von der Antike bis in die Zeit der Industrialisierung war ein integrierter Teil des Lebens. Sie war den anderen Lebensbereichen nicht übergeordnet… Ihre Hauptaufgabe war die Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft…, also die Versorgung und nicht die Vermehrung. Mehr zu produzieren und zu arbeiten, als dafür notwendig war, wäre den Menschen damals sinnlos vorgekommen… Zum epochalen Bruch dieser Sichtweise der Wirtschaft kam es durch die Industrialisierung. Der Lebensbereich der Wirtschaft begann sich zu verselbständigen und war nicht mehr eingebunden in die allgemein gültigen Sinnzusammenhänge und Wertmaßstäbe des Lebens… Mit der Entstehung des marktwirtschaftlichen Gedankenguts der Nutzen- und Gewinnmaximierung wurde Arbeit zu einem Mittel der Vermehrung des eigenen Wohlstandes weit über die existentielle Versorgung hinaus.“
Noch einmal: Dass Luther von der damals Fahrt aufnehmenden Globalisierung (das Zeitalter der Entdeckungen hatte gerade begonnen) verunsichert war, kann man gut verstehen. Wenn nun, nach zwei Jahrhunderten nie gesehener Wohlstandszunahme von geradezu sagenhaftem Ausmaße, zwei selbst doch relativ reiche Mitteleuropäer sich einer solchen Nostalgie für die „vormoderne Wirtschaft“ hingeben, ist dies einfach töricht. Und zynisch allemal. Denn die „existentielle Versorgung“ bedeutete im vorindustriellen Europa ein gerade mal genug zum Überleben haben – Wasser und Brot, ein Kleidungsstück am Körper und ein Dach über dem Kopf. Viel mehr nicht. Hans Albert gibt zu bedenken: Das „vorherrschende Lebensniveau“ in „allen Agrargesellschaften“ war eines „des größten Elends“. „Wer die auf der modernenTechnik beruhende Zivilisation europäischen Stils toto coelo abzulehnen geneigt ist, sollte sich diese Tatsache eindringlich vor Augen führen.“ (Freiheit und Ordnung)
Gott sei Dank haben unser Vorfahren auf breiter Front die „Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft“ durchbrochen, und dies wurde durch fabrikmäßige Herstellung von preisgünstigen Alltagswaren und immer intensiveren Handel über die Grenzen des Dorfes und der ncäshten Umgebung hinaus möglich. Auch die beiden Autoren profitieren persönlich in hohem Maße davon und offensichtlich mehr, als ihnen bewusst ist. „Vermehrung des eigenen Wohlstandes“ ist an sich in keiner Weise zu verachten. Jahrtausende lang war er auf die kleine Elite der Herrschenden und Kämpfenden (und Raubenden) beschränkt, auf Adelige und Soldaten und Priester. Mit der Industrialisierung und dem immer intensiver werdenden Handel wurde die Wohlstandsvermehrung gleichsam demokratisiert und erstmals in der Weltgeschichte für Bevölkerungsmassen möglich.
„Er hatte auch Geld“
Die Geschichte des barmherzigen Samariters kannte auch Margaret Thatcher (1925–2013) genau. Anders als so viele andere Regierungschefs und Minister in Großbritannien (wie Churchill oder nun gerade J. Cameron) entstammte sie nicht der aristokratischen Oberschicht. Thatcher wurde über dem Laden ihres Vaters Alfred Roberts geboren und half bald im elterlichen Geschäft mit. All die Tugenden des „Krämergeistes“ saugte sie tief in sich hinein: Zuverlässigkeit, Fleiß, Sparsamkeit und Achtung für die Kunden – die Arroganz der schöngeistigen Adelselite in England war ihr immer fremd.
Thatcher wuchs im streng religiösen Umfeld der Methodisten auf, war daher mit den biblischen Geschichten gut vertraut. Schon in einem der ersten längeren TV-Interviews als Premierministerin im Jahr 1980 kommt sie auf den Samariter zu sprechen. Gegen Ende berührt Interviewer Brian Walden das Thema Ungleichheit: „Wird der Preis der wirtschaftlichen Erholung und des Wohlstandes in diesem Land größere Ungleichheit sein?“ Thatcher – hier ganz in der klassisch liberalen Tradition – sieht Gleichheit in erster Linie in der Gleichheit vor dem Gesetz und bei Wahlen verwirklicht. Eine Gesellschaft, in der Bürger ihre Talente voll ausschöpfen können, wird immer ein gewisses Maß an Ungleichheit hervorbringen, doch nur durch dies Ausnutzen unserer Gaben und Möglichkeiten wird Wohlstand geschaffen. Die „ungleichere Gesellschaft“ (in den Augen Waldens) sieht sie als eine „Gesellschaft der größeren Möglichkeiten“. Und weiter:
„Wenn Chancen und Talent ungleich verteilt sind und man Menschen ermöglicht, dieses Talent und diese Chancen auszuüben, bedeutet dies mehr Ungleichheit; aber es bedeutet, dass man die Armen aus der Armut herauszieht, weil es die Ressourcen gibt, um dies zu tun. Niemand würde sich an den barmherzigen Samariter erinnern, wenn er nur gute Absichten gehabt hätte; er hatte auch Geld.“
Damit endet das Interview. Thatcher brachte sehr gut den Krämergeist und die christliche Gesinnung des persönlichen Helfens in Einklang. Für sie war der Händler ein Held, der nicht unbedingt dem Mammon verfiel, sondern dessen Möglichkeiten der konkreten Barmherzigkeit erweitert wurden. Sie selbst erlebte dies in ihrer Jugend, und von diesem so ganz und gar nichtelitären Geist sollte man sich auch heute anstecken lassen.
(Bild o.: Domenico Campagnola, Der barmherzige Samariter)