Was ist das Evangelium (nicht)?
Das Reformationsjubiläum naht. 2017 werden die Protestanten auf den Beginn der kirchlichen Erneuerung durch Luther vor 500 Jahren zurückblicken. Die Reformatoren wollten damals die Kirche gewiss nicht spalten. Ihnen ging es um das Evangelium. Im Antwortschreiben an Kardinal Sadoleto aus dem Jahr 1539 blickt der junge Johannes Calvin zurück: Ja, er wurde als Christ erzogen, „ich habe mich immer zum christlichen Glauben bekannt“. Doch „die Fackel“ des Wortes Gottes „war uns weggenommen“, weshalb er nur „Bruchstücke“ des Evangeliums gehört hatte. Calvin wirkte in Genf, und dort hatten die Bürger aus einer „Flut der Irrtümer herausgefunden“ und sich „der reinen Lehre des Evangeliums zugewandt“. „Evangelisch“, dem Evangelium gemäß, setzte sich als treffende Bezeichnung aller Anhänger der Reformation nach und nach durch.
Damals wie heute ist die Kirche berufen, sich nach dem Wort Gottes zu erneuern und das reine Evangelium zu verbreiten. Doch die Flut der Irrtümer ist immer noch bei uns, und Bruchstücke werden uns wieder viel zu oft als das reine Evangelien verkauft.
Auf seinen Zig Besuchen in Deutschland verbreitet der Dalai Lama immer sein Evangelium vom „reinen Herzen“. Die gute Nachricht aller Religionen sei „die Botschaft von Liebe, Mitgefühl und universaler Geschwisterschaft“. Das Wesen der buddhistischen Lehre: „Wenn möglich helfen Sie anderen, und wenn Sie dies nicht können, dann tun Sie ihnen zumindest nichts Böses.“ Der Tibeter sieht darin auch den gemeinsamen Weg der Religionen zur Erlösung. – Das Christentum widersetzt sich jedoch dieser Vereinnahmung. Erlösung geschieht nicht durch Mitgefühl und Dienst für andere. Unsere Handlungen und inneren Einstellung erlösen uns leider nicht. Es ist Gott, der rettet. Im Buddhismus rettet sich der Mensch selbst. Unser Herz ist keineswegs rein, sondern „böse von Jugend auf“ (Gen 8,21), und deshalb muss Gott das „steinerne Herz“ herausnehmen und ein „neues Herz“ schenken (Hes 11,19; 36,26).
Gewiss hätte der Dalai Lama nichts gegen das Du-bist-OK-Evangelium, das Christen heute gern verbreiten. Da klingt der Kern der Guten Nachricht dann so: „Du bist ein von Gott geliebter Mensch… Gott ist in allen Höhen und Tiefen des Lebens an deiner Seite“ (Nikolaus Schneider). Oder Gott sagt: „Es ist gut, dass du da bist. Ich freue mich an jeder Sekunde deines Lebens – und du musst nichts dafür tun.“ Und bei Rob Bell ist ausdrücklich „jeder schon auf der Party“ Gottes. Allen ist schon vergeben. Wer das nicht in diesem Leben für sich akzeptiert, der, so Bell, bekommt noch weitere Chancen nach dem Tod, bis schließlich die Liebe vollkommen siegt. – Wunderbar, kann man da nur sagen. Wozu braucht’s da noch eine Kirche?
Andere wie Torsten Hebel glauben, dass sich das Evangelium „nur um eine Sache“ dreht: „Werden wie Jesus. Punkt. Lebt so, wie Jesus gelebt hat!“ Brian McLaren bezeichnet das Doppelgebot der Liebe als die „rettende Lehre“ oder als die „Grund-lagen des Glauben“. Und Dallas Willard warnt vor einer Überbetonung von Gnade und Rechtfertigung: „Wenn wir nun eines erkennen müssen, dann dies: Ein Evangelium der Rechtfertigung allein macht noch keinen wiedergeborenen Jünger.“ – So wichtig die Mahnung zur ernsthaften Nachfolge und zum konsequenten Gehorsam ist – was schafft denn die Wiedergeburt? Was rettet uns tatsächlich? Unser Jüngersein? Unser Leben der Liebe und der guten Taten?
Häufig wird heute gegen ein „Bekehrungsevangelium“ polemisiert. Das Evangelium des Friedens mit Gott (Röm 5,1) und der Bewahrung vor dem zukünftigen Zorn (1 Thess 1,10) erscheint vielen als zu klein und eng. Und auf einmal wird all das Gute, das Gott in der Welt tut, und all das soziale Handeln, das vom Heil in Christus motiviert wird, fester Bestandteil des eigentlichen Evangeliums. Es kann kein Zweifel bestehen: Frucht des Evangeliums ist eine Umwandlung des Denkens und Lebens, von Kulturen und Gesellschaften (Mt 5,13). Und gewiss ist Gottes Motivation zur Erlösung von Menschen seine große Liebe (Joh 3,16). Im Mittelpunkt des Evangeliums steht aber das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18), die Botschaft von Jesu Opfer auf Golgotha. Dies Wort vom stellvertretenden Tod des Sohnes Gottes ist das Herz der Guten Nachricht und wird in den Augen der Welt immer eine „Torheit“ bleiben.
Das Evangelium schenkt dem Glaubenden Christus als Gabe, so Luther: „Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus, ehe du ihn zum Vorbild nimmst, zuvor entgegennimmst und erkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen ist.“ Diese Gabe ist zuerst anzunehmen, und hier haben unsere Werke und guten Taten nichts verloren. Der Glaube allein rettet, aber er bleibt nicht allein oder faul, wie Luther sagte. Wer die Gabe empfangen hat und seine Größe begreift, wird dann gerne dem Vorbild Jesu folgen. – Luther, Calvin und viele andere entdeckten vor 500 Jahren die „fröhliche, gute, tröstliche Botschaft“ des Evangeliums neu. Bis heute ist ihre Verkündigung die Hauptaufgabe der Kirche.
(Bild o.: Rembrandt, Kreuzabnahme, Alte Pinakothek München)