Wo steckt der Antichrist?

Wo steckt der Antichrist?

In Rom, wo denn sonst! – So hätte im siebzehnten Jahrhundert wohl so gut wie jeder Engländer geantwortet. Die Mitglieder der Kirche von England zunindest. 1534 hatte Heinrich VIII die Kirche in seinem Land von Rom gelöst und sich selbst an die Stelle des Papstes gesetzt. Unter der Herrschaft seiner Tochter Elisabeth ab 1553 festigte sich die Reformation im Land. Die Monarchin konnte sich über vier Jahrzehnte an der Macht halten, und das trotz zahlreicher Verschwörungen, gerade auch von katholischer Seite. Schließlich hatte Papst Pius V Elisabeth 1570 als Häretikerin offiziell exkommuniziert und die Untertanen von ihrer Gehorsamsverpflichtung entbunden. Hinzu kam, dass Hunderte katholische Priester ins Land geschmuggelt wurden, um die Katholiken im Untergrund zu betreuen und gerade unter den Adeligen für Rom zu missionieren. 1585 erklärte das Parlament es für Hochverrat, wenn ein katholischer Priester englischen Boden auch nur betritt. Ein paar Jahre später konnte der Invasionsversuch durch den spanischen König Philipp II abgewehrt werden.

Auch nach ihrem Tod sah sich die Insel weiter von den katholischen Mächten bedroht, und tatsächlich versuchten englische Katholiken bei der Parlamentseröffnung im November 1605 mit zweieinhalb Tonnen Schießpulver die gesamte Staatsspitze auf einen Schlag zu beseitigen. Der Putsch („gunpowder plot“) schlug fehl und führte zu weiteren scharfen antikatholischen Maßnahmen. So blieben den Katholiken bis ins 19. Jahrhundert viele Bereiche im Bildungssektor und Staatsdienst verschlossen.

Auf dem Hintergrund dieser allein schon politisch sehr aufgeheizten Situation wundert es nicht, dass auch die Autoren des Westminster-Bekenntnisses von 1647 deutlich formulierten: „Es gibt kein anderes Haupt der Kirche außer dem Herrn Jesus Christus. Auch der Papst von Rom kann nicht in irgendeinem Sinn ihr Haupt sein, sondern er ist der Antichrist, der Mensch der Sünde und Sohn des Verderbens, der sich selbst in der Kirche gegen Christus und alles, was Gott genannt wird, erhebt.“ (25,6)

„Der rechte Endchrist“

Die Überzeugung, dass der Antichrist in Rom sitzt, war allerdings ganz und gar keine Erfindung der Briten und nicht ganz neu. Schon im Mittelalter wurden einige der Päpste als Antichristen bezeichnet (durch Joachim von Fiore oder die Franziskaner-Spiritualen). Auch die Vorreformatoren wie John Wycliff (14. Jhdt.) oder Jan Hus (15. Jhdt.) identifizierten das Papsttum mit dem Antichristen. Martin Luther sah ab 1520 den Papst in Rom eindeutig als den endzeitlichen Widersacher Christi an. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 findet sich dann ein längerer Abschnitt zum Papsttum (II,4), in dem der Reformator den Papst direkt Antichrist nennt: er ist „der rechte Endchrist (Antichrist) oder Widerchrist“. Das Kapitel endet mit einem scharfen Bibelzitat: „Strafe dich Gott, Satan!“ (Sach 2,3). Noch kurz vor seinem Tod brachte Luther 1545 die Schrift Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet heraus. (Als Illustrator wirkte damals zu dem Thema vor allem Lucas Cranach, s. o. der kolorierte Schnitt.)

Doch es war keineswegs nur der gern mal polternde Luther. Auch in anderen Bekenntnissen wie der Konkordienformel (FC SD X,20,22) und auch schon in Melanchtons Von der Gewalt und Obrigkeit des Papstes (39, 41, 42, 57) und dessen Apologie des Augsburger Bekenntnisses finden sich klare Aussagen (in letzterem Bekenntnis wird die Kirche in Rom „antichristliches Reich“ genannt, XV,18; außerdem fallen dort in XXVI,98 im Hinblick auf die Messe neben Antichrist auch Begriffe wie „Abgötterei“ und „öffentliche Ketzerei“).

Der Antichrist sitzt in Rom. In diesem Punkt waren sich so gut wie alle Reformatoren einig. In den reformierten Bekenntnissen des 16. Jahrhunderts findet sich der Papst als Antichrist aber nur im wenig bedeutsamen Zweiten schottischen Bekenntnis (1581), später dann erst wieder im Westminster-Bekenntnis. Auch die Methodisten (John Wesley) und die Baptisten (C.H. Spurgeon) folgten dieser Linie recht konsequent. Bis ins 19. Jahrhundert bestand in dieser Frage ein breiter protestantischer Konsens.

Rückblickend war die Kritik am Papsttum während der Reformationsepoche im Grunde berechtigt, denn der moralische Verfall Roms war tatsächlich erschreckend. Calvin verurteilte in der Institutio (IV,7,24) Lehre und Lebenswandel der Päpste; sie seien von zahlreichen Irrtümern geblendet und in viel Abgötterei versunken. Mit „Wut“ unterdrückten die Päpste „die wieder aufkommende Lehre des Evangeliums“, und sie feuern auch noch die Fürsten zu „grausamen Wüten“ gegen die Christen an. Er nennt einige grausame und blutrünstige Kirchenfürsten mit Namen, die nur „ihre Macht aufrechterhalten“ wollten. „Mag Rom wohl vorzeiten die Mutter aller Kirchen gewesen sein, so hat es jedenfalls, seitdem es begonnen hat, der Sitz des Antichristen zu werden, aufgehört, das zu sein, was es war.“ Historiker wie Barbara Tuchman bestätigen die tiefe Verderbtheit der damaligen Päpste (s. das sehr gute Kapitel über die Renaissance-Päpste in ihrem The March of Folly / Die Torheit der Regierenden, 1985).

„Das päpstliche System in Geist, Form und Wirkung“

Nun liegt die konfessionelle Feindschaft der Reformationsepoche lange hinter uns. Wie ist diese Frage nun heute zu betrachten? Gilt diese Gleichsetzung von Papst und Antichrist heute noch? Auf höchster Ebene zwischen den großen Kirchen ist der Konflikt gleichsam ausgeräumt: „Der Papst ist nicht der Antichrist… Alle Christen und Kirchen haben Anlass, das Inerscheinungtreten des Antichristen bei sich selbst zu fürchten und um Bewahrung davor zu beten. Kein Amt als solches kann aber mit dem Antichristen identifiziert werden.“ (W. Pannenberg, K. Lehmann, Lehrverurteilungen – kirchentrennend?)

Also alles bloß olle Kamellen? Konservative protestantische Kirchen halten jedoch meist daran fest, dass das Papsttum als Institution antichristlich ist, nicht unbedingt einzelne Päpste (so z.B. die Lutherische Kirche – Missouri-Synode in den USA). Tatsächlich ist das Papstamt für Protestanten weiterhin unakzeptabel, und die kirchliche Macht des Papstes wurde bekanntlich im 19. und 20. Jahrhundert noch ausgebaut, zuletzt noch im neuen Kanonischen Recht (CIC) von 1983. Der Papst als Stellvertreter Christi und als absoluter Herrscher in der Kirche stellt aus evangelischer Sicht das solus Christus massiv in Frage. Alle Protestanten unterstreichen weiterhin, was das Westminster-Bekenntnis in 25,6 positiv bekräftigt: Christus allein ist das Haupt seiner Kirche.

Die amerikanischen Presbyterianer haben in ihrer Redaktion des Westminster-Bekenntnisses von 1788 den Abschnitt zum Haupt in der Kirche und zum Papsttum abgeändert. Es wird geleugnet, dass der Papst in Rom in irgendeiner Weise Haupt sein könne; er wird jedoch nicht mit dem Antichristen identifiziert. (S. auch zu diesem Punkt recht ausführlich das Zweite helvetische Bekenntnis, XVII,6) So deutete dann auch A. A. Hodge im 19. Jhdt.: „Sie [die Autoren des Westminster-Bekenntnisses] meinten wahrscheinlich, dass das päpstliche System in Geist, Form und Wirkung gänzlich antichristlich ist und eine Abweichung vom apostolischen Christentum darstellt.“ (The Confession of Faith, 1869)

Ein Tropfen Papstblut

Aus deutscher Perspektive scheint all dies heute aus einer anderen Galaxie zu stammen. Ist der Papst der Antichrist? Was für eine Frage?! Was für eine törichte Frage! Man schaue sich bitte den Reformer Franziskus an… In Deutschland, wo die Nettigkeit zwischen den großen Kirchen schon seit geraumer Zeit fast keine Grenzen kennt, hält man nichts von Kraftausdrücken à la Antichrist. Und natürlich ist es nur zu begrüßen, dass sich nach Jahrhunderten der Feindschaft die Wogen geglättet haben und sich ein anderer Umgangston eingebürgert hat. Seit 50 Jahren sind die Protestanten in den Augen Roms nicht mehr per se Häretiker, und die Evangelischen haben begriffen, dass die Päpste spätestens seit Johannes XXIII von ganz anderem Zuschnitt sind als die machtlüsternen Fürsten Jahrhunderte zuvor.

Trotzdem bleiben Fragen, und sie kommen gerade aus den Ländern mit dominant katholischer Bevölkerungsmehrheit wie in Südeuropa oder auch im Nordosten, in Litauen. Im deutschsprachigen Raum nimmt man die bescheidenen Gesten des Papstes aus Argentinien wahr; in Litauen begegnet einem der Kult um den verstorbenen Papst auf Schritt und Tritt. 1993 besuchte Johannes Paul II das Land, und wo er damals auch nur seinen Fuß hingesetzt hat, findet man heute in Bronze gegossene Denkmäler oder Gedenktafeln oder Straßennamen oder Pilgerzentren. Will man seinem Seelenheil etwas Gutes tun, pilgert man den Weg des Papstes vom Herbst ’93 nach.

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Reliquiar mit Papstblut in Šiauliai

In diesen Tagen erhielt die Jesuitenkirche in Šiauliai, in der der Papst aus Polen bei seinem Besuch vor über zwei Jahrzehnten einen Gottesdienst hielt, eine wertvolle Reliquie: ein paar Tropfen Papstblut. Vor solchen Objekten der Verehrung, und hinzu kommen die zahlreichen wundertätigen Marienbilder und andere Kanäle besonderer göttlicher Gnade, gehen katholische Christen auf die Knie und erhoffen sich Hilfe. ‘Aufgeklärte’ Katholiken buchen all dies gerne unter dem Stichwort „Volksfrömmigkeit“ ab, aber das macht die Sache in den Augen der Protestanten ja nicht besser: Ist das wirklich wahre Frömmigkeit?

Protestantischer Konsens vs. Sola Scriptura

Aus der Perspektive der Länder mit einem Anteil von 1% Evangelischen wie Italien oder Litauen sind die ollen Kamellen nicht ganz so uninteressant. Am 2. Oktober warf Leonardo De Chirico auf seinem Blog Vaticanfiles die alte Frage auf: „Is the Pope the Anti-Christ?“ Ist der Papst der Antichrist? Darin schilderte der Theologie und Pastor einer reformiert-baptistischen Gemeinde aus Rom die historische protestantische Sicht. Er erläuterte vor allem, was François Turrettini, reformierter Theologe im Genf des 17. Jahrhunderts, zu sagen hatte. De Chirico, auch einer der Leiter der Evangelischen Allianz Italiens, riss ein Thema an und stellte eine Frage, die er aber leider nicht angemessen beantwortete – der Sack blieb nicht zugebunden.

Erst Mitte November nahm der Italiener eindeutiger Stellung. In diesem Interview:

„Luther, Calvin, die protestantischen Bekenntnisse des siebzehnten Jahrhunderts, die Puritaner, Wesley, Spurgeon usw. glaubten, dass das Papsttum (nicht dieser oder jener Papst) die Institution ist, aus der der Anti-Christ schließlich kommen wird. Ich teile diesen breiten protestantischen Konsens. Das Papsttum beansprucht christologische und pneumatologische Titel und Vorrechte (z.B. Stellvertreter Christi, unfehlbarer Lehrer, Oberhaupt der Kirche mit voller, unmittelbarer und universaler Macht), und dies wird mit irdischer politischer Macht gekoppelt. Man bedenke, dass Päpste Monarchen eines souveränen politischen Staates sind. Im Papsttum vermischt sich auf tragische Weise, was Gott und was dem Kaisers gehört. Diese vergiftete Mischung ist das potenzielle Milieu, aus dem der Antichrist emporsteigen kann.“

ChiricoWie wir sahen, hat sich diese Deutung unter den konservativeren Protestanten nach der Reformationsepoche irgendwann  weitgehend durchgesetzt. Nur ganz wenige wagen es nun, die Päpste der jüngeren Zeit direkt als Antichristusse zu bezeichnen. Meist wird das Papsttum als System und Institution antichristlich genannt. De Chirico teilt dem Leser jedoch nicht mit, dass zumindest im 16. und 17. Jahrhundert die jeweiligen Päpste ganz gewiss in die Verwerfung miteingeschlossen wurden. Die klare Differenzierung zwischen Papst und Papsttum und das Erwarten des Antichristen bloß in der Zukunft (die Institution, „aus der der Anti-Christ schließlich kommen wird“) ist sicher in dieser Form nicht der frühe protestantische Konsens. De Chirico betont, dass Turrettini den Antichristen nicht als eine einzelne Person ansah, sondern als eine Reihe von Personen und als ein Amt. Das mag so sein, doch in diese Reihe bezog Turrettini den jeweiligen Amtsinhaber sicher mit ein. Auch ein Puritaner der Zeit, Cotton Mather, meinte unzweideutig: „Noch regiert der Teufel durch seinen Stellvertreter in Rom.“ Hier hätte De Chirico ehrlicher sein sollen und besser behauptet, dass er (wie z.B. Hodge, s.o.) die historische Auffassung in diese Weise deutet.

Wohl nicht zufällig erschien De Chiricos Beitrag kurz vor der Familiensynode im Vatikan im Oktober. Als Gast nahm an der Bischofsversammlung auch Thomas Schirrmacher als Vertreter der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) teil. Schirrmacher ist wie De Chirico Mitglied der World Reformed Fellowship. Mitte Oktober reagierte er mit „Is The Pope the Antichrist? Not According to Sola Scriptura!“ Ist der Papst der Antichrist? Nicht nach dem Prinzip „Allein die Schrift“.

Schirrmacher zeigte sich darin „dankbar für die Hinweise auf die Reformation und frühe reformierten Quellen [in De Chiricos Text]. Es gibt viel, dass wir modernen Evangelikalen aus diesen Quellen lernen können, was die Arbeit des Evangeliums heute stärken wird.“ Er ist aber überzeugt, dass „die zentralen Beschreibungen des Antichristen in allen Texten des Johannes das Gegenteil von dem sind, wofür der [heutige] Papst steht.“ Weiter schreibt der Theologe aus Bonn:

„Soweit ich es überblicken kann, entdeckt keiner der heutigen evangelikalen exegetischen Kommentare zu 1. Johannes und Offenbarung den Papst oder die katholische Kirche in diesen Texten. Dies sollte, so glaube ich, das Ende der Debatte sein. Wenn wir eine Stellungnahme nicht durch die Exegese der Heiligen Schrift beweisen können, erlaubt uns die Geschichte nicht solch ein hartes Urteil. Selbst Luther hat die Texte bei Johannes nicht exegetisiert, um zu beweisen, dass der Papst der Antichrist ist; er gebrauchte den Begriff einfach gegen den Papst. Lasst uns Luther und der Reformation folgen, indem wir das Prinzip Sola Scriptura anwenden, auch wenn das bedeutet, dass wir mit einigen Meinungen dieser Reformatoren nicht einverstanden sind.“

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Schirrmacher im Gespräch mit dem Papst

Beide Artikel finden sich nun hier auf der Seite der World Reformed Fellowship – mit Nachträgen zum jeweiligen Beitrag des anderen. De Chirico meint, dass Schirrmacher seine Sicht völlig falsch dargestellt habe. Er habe nicht behauptet, dass Papst Franziskus der Antichrist sei. Schirrmacher wiederum sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, manche evangelikale Leiter hätten eine naive Sicht gegenüber dem heutigen Papst. Er verteidigt hier die Gespräche der WEA im Vatikan und ruft dazu auf „den Charakter des heutigen Papstes und die Theologie, für die er und seine Kirchen stehen“, als „zwei sehr unterschiedliche Dinge“ zu erkennen. Und aus eigener Erfahrung und aktiver Teilnehmer der Familiensynode unterstreicht er, wie viel sich geändert hat: „Nun kann man als Evangelikaler die eigenen Überzeugungen im Vatikan vorbringen.“

Antichristliches – aber wo?

Eine richtige Debatte hat sich auf dem Blog der World Reformed Fellowship leider nicht entwickelt. Viele Missverständnisse und ein aneinander Vorbeireden, so scheint es doch, hat die Diskussion gekennzeichnet. De Chirico wählte eine etwas reißerische Überschrift, wenn auch mit Fragezeichen, nimmt nicht klar Stellung und wundert sich dann, dass er nicht präzise verstanden wird. Warum ausgerechnet zu so einem Zeitpunkt so ein Text, der ja wohl bei den meisten Lesern so verstanden wird, dass der Papst eben der Antichrist sein könnte? Und die Kritik an die Adresse der WEA-Vertreter kommt nur zwischen den Zeilen daher und ist nicht konkret genug.

Auf der anderen Seite sieht Schirrmacher mit einer exegetischen Frage die Debatte beendet, sagt aber nicht, wo denn die Reformatoren z.B. im Hinblick auf das Papsttum richtig lagen. Hier stellt sich die Frage, was wir denn heute konkret für die Beziehung mit Rom „aus diesen Quellen lernen können“? Evangelikale und Rom – hat uns die strenge Sicht der vergangenen Jahrhunderte noch irgendetwas zu sagen? Wenn ja, was?

Man sollte mit Identifikationen heute tatsächlich vorsichtig sein, da die Deutung der entsprechenden Bibelstellen schwierig ist. Der „Antichrist“ (gr. antichristos) wird im NT nur in den Johannesbriefen erwähnt (1 Joh 2,18.22; 4,3; 2 Joh 7). Der „Mensch der Bosheit“ und der „Sohn des Verderbens“ (2 Thess 2,3) sowie die „falschen Christusse und falschen Propheten“ (Mt 24,24) werden ebenfalls traditionell mit dem Antichristen in Verbindung gebracht. Dann gibt es noch die Ausführungen zum widergöttlichen Tier in  Off 12–13, Dan 7–9, 11 und weitere Widersacher Gottes im AT.

Ohne hier ins Detail zu gehen ist ja zu erkennen, dass es um eine Person und um mehrere Personen geht (Plural in 1 Joh 2,18); dass sowohl die Zukunft, als auch die Gegenwart (1 Joh 4,3) im Blick sind; dass daher mehrfache Erfüllungen von Prophezeiungen denkbar scheinen. Hinzu kommt, dass daneben auch von antichristlichem Geist oder einer Art System (2 Thess 2,7) die Rede ist.

Bei Johannes steht die falsche Lehre des Antichristen im Mittelpunkt, eine falsche Christologie (2 Joh 7), und im Blick waren damals wohl die ersten Gnostiker, die die Inkarnation leugneten. Nun leugnet die römische Kirche die Fleischwerdung Christi natürlich nicht, aber ist damit das ganze Thema schon vom Tisch? Wie sind in diesem Zusammenhang die anderen falschen Lehren der römischen Kirche einzuordnen?

Im Westminster-Bekenntnis geht es im betreffenden Abschnitt einzig um das Haupt der Kirche; auch in der ersten der zehn Berner Thesen (1528) wird unterstrichen, dass allein Christus das Haupt der Kirche ist und diese nur auf seine Stimme zu hören habe. Wie ist das heutige Papstamt in dieser Hinsicht zu bewerten? Wenn das gr. „anti“  im Sinne der Konkurrenz gedeutet wird, dann kann Louis Berkhof gefolgt werden, der in seiner systematischen Theologie von 1938 „Elemente des Antichristen“ im Papsttum sieht; weitere Identifizierung will dieser aber nicht vornehmen.

Die widerchristlichen Lehrelemente sind also am besten konkret zu benennen. Dabei gilt es aber schließlich zu bedenken, dass jede Kirche zu einer der „Synagogen des Satans“ (Westminster, 25,5) werden kann. Dies ist ja auch die richtige Warnung bei Pannenberg/Lehmann, wenn vor dem „Inerscheinungtreten des Antichristen“ (s.o.) in der jeweils eigenen Kirche gewarnt wird. Aber hier sollte man dann auch hier und da konkret werden. So denke ich, dass Johannes Paul II sicher nicht der Antichrist war, aber wie soll man den für Protestanten äußerst abstoßenden Kult um sein Blut anders bezeichnen als widerchristlich?

Protestanten wiederum müssen auf die Warnung J. Gresham Machens hören. In Christianity and Liberalism (1923) betonte der reformierte Theologe, dass der theologische Liberalismus seiner presbyterianischen Konfession höchst destruktiv und „antichristlich bis zur Wurzel“ war. Machen unterstrich sogar, „wie groß das gemeinsame Erbe mit der Kirche Roms ist“. Naiv war er natürlich dennoch nicht: Zwischen Rom und den konservativen Protestanten erstreckt sich ein tiefer Graben. Doch dieser ist geradezu flach „verglichen mit dem Abgrund, der zwischen uns und den [liberalen] Geistlichen unserer eigenen Kirche liegt“. Deren Lehre bezeichnet Machen äußerst streng als „im Kern antichristlich“. Wir sollten also durchaus in diesen Kategorien der Widerchristlichkeit denken. Die Frage nach dem Antichristen und dem Antichristlichen ist berechtigt und muss konkret gestellt werden. Den Katholiken und Protestanten gerade auch im Hinblick auf das eigene Lager.

Lernen von Franziskus

Eine letzte Bemerkung: der heutige Papst ist bekannt dafür, dass er den bürokratischen Apparat des Vatikans umgeht und gerne mal selbst zum Hörer greift. Schirrmacher schildert dies aus eigener Erfahrung. Nun zeigt aber die „Debatte“ zwischen den WEA-Vertretern und dem Italiener einmal wieder, dass die Chemie hier irgendwie nicht stimmt – wer auch immer dafür die Hauptverantwortung trägt (wie so oft hat so eine Missstimmung gewiss zwei Seiten). Die Kommunikation der evangelikalen Leiter ist offensichtlich verbesserungsfähig. Sollte man sich nicht den Papst zum Vorbild nehmen und einfach mal zum Telefon greifen, wenn unterschiedliche Sichtweisen durch die Luft wabern und die Atmosphäre zu vergiften drohen?