Luthers 95. These
… und die falsche geistliche Sicherheit
Am Tag vor Allerheiligen im Jahr 1517 rief ein kaum bekannter Augustinermönch und Theologiedozent an einer unbedeutenden sächsischen Provinzuniversität zu einer Disputation über den Ablass auf. Heute wissen wir, dass mit dem Anschlag der 95 Thesen von Martin Luther an der Schlosskirche in Wittenberg die Reformation begann. Keiner der damals Beteiligten hatte diese Dimension im Blick. Luther selbst wollte in diesem Jahr eins sicher nicht: die Kirche spalten und eine neue Konfession ins Leben rufen.
Luther ging es wahrlich nicht um seine Rolle in der Kirchengeschichte. Sein Anliegen war das eines Seelsorgers und Hirten. Er war zutiefst besorgt um das ewige Heil der Menschen in seiner sächsischen Heimat, dort, wo Ablassprediger Johann Tetzel sein Unwesen trieb. Schon die berühmte erste These fasst sein Anliegen gut zusammen: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‘Tut Buße’ usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“
Wann genau Luther seine reformatorische Erkenntnis zu Röm 1,17 (das sog. „Turmerlebnis“, die eigentliche innere Wende in seinem Denken und Leben) machte, ist bis heute unklar; Daten zwischen 1513 und 1518 werden hier genannt. In jedem Fall ist gewiss, dass der Luther der Thesen noch ein treues Kind seiner Kirche war. 1517 stellte er noch nicht den Ablass als solchen in Frage (immer wieder nennt er den Papst); auch so manche andere typisch evangelische Lehre findet sich noch nicht in den Thesen, weshalb sie auch nicht Teil der Bekenntnisschriften der lutherischen Kirchen sind. Manche klingen aus heutiger Perspektive nicht gerade evangelisch oder man möchte Luther zurückfragen, was er genauer meinte wie z.B. bei der 94.: „Man soll die Christen ermutigen, daß sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten.“ Die letzte der Thesen lautet dann wie folgt: „und daß die lieber darauf trauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu beruhigen..“
Auch wenn in den Thesen noch nicht die evangelische Rechtfertigung aus Glauben allein klar deutlich wird, zeigt sich in den allerletzten Worten sehr gut Luthers Motivation: ihm machte die „Sicherheit durch einen [falschen] Frieden“ (so wörtl. aus dem lat. Original) Sorgen, die der Ablass damals hervorrief. Die Menschen, die einen Ablassbrief bei Tetzel erwarben, dachten fälschlich, dass damit ihr Heil gesichert sei. Hier erhob Luther vehementen Einspruch.
Luthers gemäßigte Kritik in den Thesen wurden von seinem Mainzer Erzbischof und von Rom nicht aufgegriffen, im Gegenteil: der Mönch sollte zum Schweigen gebracht werden; an grundlegende Reformen dachte man überhaupt nicht. So wurde Luther zum Reformator, der im Spätsommer 1518 in den Resolutiones zu den Ablassthesen später schon viel radikaler schrieb. Der Ablass wird darin als „schädlich“ und „verwerflich“ bezeichnet, da er in falscher Weise das Gewissen beruhigt und tatsächlich Verlorenen das heil vorgaukelt.
Luthers Ton ist hier schärfer, aber sein Anliegen ist das gleiche wie in den Thesen: wider die falsche Sicherheit. Die Reformatoren hatten erkannt, dass vieles in der römischen Kirche die Menschen nicht zum Heil hinführt, sondern von ihm weg. Reformator Johannes Calvin formulierte daher streng, aber in der Sache korrekt: „All diese Ablässe sind… tatsächlich eine Entweihung des Blutes Christi, ein höhnischer Betrug des Satans! Sie sollen das Christenvolk von Gottes Gnade, von dem Leben, das in Christus ist, wegführen, sollen es von dem wahren Wege zum Heil abbringen!“ (Institutio, III,5,2)
Calvin hatte gut erkannt: Um wahrhaft Gott zu erkennen, müssen wir zu richtigen Erkenntnissen über uns selbst gelangen. In einem frühen Werk aus dem Jahr 1537 (Brève instruction chrétienne) schreibt der Genfer Reformator, dass Gott „eine erste Tür in sein Reich“ öffnet, indem er in uns „zwei schreckliche Krankheiten“ heilt: „ein Gefühl der [geistlichen] Sicherheit“, und „ein falsches Vertrauen auf sich selbst“. Erst wenn wir begreifen, dass wir vor Gott alles andere als ‘gesichert’ dastehen und uns aus dieser Lage nicht selbst befreien können, „erst dann beginnen wir die Augen zum Himmel zu heben“.
Schon die Propheten im Alten Testament predigten oftmals gegen ein falsches Sicherheitsgefühl an. Viele Israeliten dachten, dass ihre Beziehung zu Gott sowieso in Ordnung ist, da man ja dem Gottesvolk angehörte, beschnitten war und der Tempel, das Haus Gottes, in Jerusalem stand. Und so manche falschen Propheten verkündeten eine falsche Sicherheit. Jeremia warnte vor diesen: „Sie heilen den Bruch der Tochter meines Volkes oberflächlich und sagen: Friede, Friede! – und da ist doch kein Friede.“ (Jer 6,14; Elberfelder). Verse wie diesen zitierte Luther in den Thesen 92–93.
Die Verkündigung von Frieden ist Aufgabe der christlichen Gemeinde. Ihre Botschaft ist die des Friedens Gottes, den er mit den Menschen schließen will, Frieden durch Jesus Christus (Apg 10,36). Christen sind diejenigen, die Frieden mit Gott haben (Röm 5,1). Doch das heißt eben auch: vor dem Christwerden sind Menschen Feinde Gottes (Röm 5,10), d.h. sie leben in Feindschaft mit ihm. Zur Erkenntnis dieser Feindschaft muss der Mensch kommen.
Luther hatte 1517 begriffen: das religiöse Werk macht nicht zum Christen; nötig ist „innere Buße“ und echte Gottesfurcht. Und er sah, dass echter Frömmigkeit eine religiöse Handlung, der damalige Ablass, im Wege stand. Falsche Religiosität ist wohl der größte Feind echten Glaubens. Deshalb kritisierte Jesus die religiösen Führer seiner Zeit und seiner Religion am schärfsten. Deshalb meinte Calvin streng, dass ohne Glauben alle religiösen Rituale, ja „echten und wohlmeinenden Anstrengungen Gott zu dienen“ unfruchtbar bleiben; sie haben keinen Sinn und „bleiben Zeitvergeudung“. Denn auf diese Weise „beten die Menschen die Träume und Gespinste ihres Herzens an, aber nicht den ewigen Gott.“
Dies betonte auch C.S. Lewis in seinem kurzen Essay „Dreierlei Menschen“ (Three Kinds of Men, 1943). Er unterscheidet in geistlicher Hinsicht drei Gruppen von Menschen. Die erste bilden diejenigen, „die nur an sich selbst und ihr Vergnügen denken“; all die, die keinerlei Gott über sich anerkennen, offene Atheisten und Hedonisten. Die zweite Sorte sind all die, „die den Anspruch einer anderen Instanz an ihr Leben anerkennen – den Willen Gottes, den kategorischen Imperativ oder das Allgemeinwohl – und sich ernstlich bemühen, ihre eigenen Interessen nicht weiter zu verfolgen, als dieser Anspruch zulässt.“ Sie sind – in einem weiteren Sinne – alle religiös, doch diese Religion „der moralischen Anstrengung“ macht, so Lewis, „zwangsläufig unglücklich“. Denn diese Menschen werden hin und her gerissen zwischen den Forderungen ihres unbefriedigten Ichs und den Schuldgefühlen wegen ihres Egoismus. Trotz allem äußeren Schein des Anstands und der Tugend lebt diese große Mehrheit in Feindschaft mit sich und mit Gott. Die dritte Gruppe sind diejenigen, die begreifen, dass moralische Anstrengungen nicht erlösen; die ihren moralischen Bankrott vor Gott erkannt haben; die sich Christus ganz ausliefern und anvertrauen. „Das Klügste, was wir tun können, ist, zu Bettlern zu werden…“, so Lewis.
„Wir sind Bettler. Hoc est verum [das ist wahr]“ lauten auch die letzten schriftlichen Worte Luthers kurz vor seinem Tod 1546. Vor Gott stehen wir mit leeren Taschen und Händen da, denn all unsere Werke und noch so religiösen Anstrengungen, aller Moralismus macht uns nicht wohlgefällig vor Gott. Der „verlorene Sohn“ in Jesu Gleichnis in Lk 15 hat das begriffen und kommt wie ein Bettler zum Vater zurück und wird von diesem herzlich aufgenommen. Der ältere Sohn kann das nicht begreifen. Er hält sich für etwas Besseres als einen Bettler, für gehorsam und anständig, sicher auch gut religiös. Aber er ist nicht weniger verloren als der jüngere, und sogar in einer noch schlechteren Lage, nämlich gefangen in seiner falschen Sicherheit. Er, nicht der verloren Sohn, ist der unglücklichste und die tragischste Figur in der Geschichte.