Dogmatik ist nix, Praxis alles?
Am vergangenen Sonntag (20.09.) war in der SWR2-Sendung „Fundamentalistisch oder einfach nur fromm“ die evangelikale Bewegung das Thema. Zu Wort kamen der Journalist und Baptistenpastor Andreas Malessa, der Pfarrer und Vorsitzende der Evangelischen Allianz Michael Diener, der Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD Thies Gundlach und der frühere Leiter des ERFs und Dieners Vorgänger Jürgen Werth. „idea“ berichtete hier.
Ein wichtiger Schwerpunkt des Radiobeitrags war die Begriffsdefinition von „evangelikal“. Diener: „Ich halt‘s seit einiger Zeit mit der Definition, die die Bundeskanzlerin vor zwei Jahren gegeben hat. Da sprach sie davon, dass Evangelikale die ‚intensiv Evangelischen‘ sind.“ Und weiter: „Evangelische Christen, die ihr Leben grundsätzlich vom christlichen Glauben her denken und leben“, könne man als evangelikal bezeichnen. Sie sind danach bestrebt, dass der Glaube auch den Alltag durchdringt. Gundlach nennt „stabile Orientierungspunkte“, die die Evangelikalen für sich gefunden haben.
Man fragt sich bei all dem, was daran spezifisch evangelikal sein soll. Ist intensiver evangelischer Glaube schon evangelikal? Welcher Christ (welcher Konfession auch immer), der seinen Glauben auch nur halbwegs ernst nimmt, will sein Leben nicht „grundsätzlich“ von seinem Glauben bestimmen lassen? „Stabile Orientierungspunkte“ – wer hat die nicht?
Der SWR-Sprecher, Journalist Daniel Kaiser, liefert etwas theologische Substanz. In der Sicht der Evangelikalen „enthält [die Bibel] nicht nur Gottes Wort, sie ist es“. Das trifft die Debatte in Deutschland vor etwa 50 Jahren und die Entstehung der evangelikalen Bewegung ziemlich gut. Die dann bald als Evangelikale Bezeichneten verteidigten die klassische protestantische Auffassung über die Natur des geschriebenen Wortes Gottes. Allerdings blieb es in der Sendung bei dieser einen präzisen Feststellung, und keiner der Evangelikalen selbst (Malessa, Diener, Werth) äußerte sich in diese Richtung oder bestätigte: Ja, wir sehen die ganze Schrift als inspiriertes Wort Gottes an.
Selbst wenn so ein Bekenntnis ausgesprochen worden wäre, kann man sicher sein, dass die Evangelikalen sofort ein weiteres Bekenntnis nachgeschoben hätten: das zum Lehrpluralismus. Ja, wir schätzen die Bibel, aber Inspirationsverständnisse gibt es bei uns viele. Da sind die Anhänger der rationalistischen Unfehlbarkeit, und da sind…
Keine Einheit in den „wirklich wichtigen Fragen“
In der Sendung ist genau dies tatsächlich der Akzent, den Malessa setzt. Um das Wesen der Hl. Schrift geht es zwar nicht direkt, doch die Vielfalt der Positionen unter den Evangelikalen wird herausgehoben. Alle sind sich einig, dass die Bibel irgendwie gedeutet werden muss. Da gibt es am einen Ende des Spektrums die „wortwörtlich, fundamentalistisch Interpretierenden“, die „mit hoher intellektueller Akrobatik versuchen, die Bibel auch als naturwissenschaftlich zutreffendes Buch darzustellen.“ Am anderen Ende sind die, die eine von Jesus gegebene „seelsorgerlich-wertschätzende Verantwortung… für homosexuell empfindende Menschen“ erkennen. – Malessa wie man ihn kennt. Der Meister der Worte haut die Konservativen unter den Evangelikalen, nun schon am Rand, in die Pfanne, und die natürlich auch von ihm vertretene volle Inklusion der Homosexuellen in die Gemeinden wird als von Jesus selbst gebotene liebevolle Seelsorge abgebucht. Eine auch nur im Ansatz faire Darstellung ist dies nicht.
Aber es kommt noch besser. „Über keine der wirklich wichtigen Fragen, also wer ist Jesus, was bildet Gemeinde, was bedeutet die Taufe, was ist eine Bekehrung, sind die sich wirklich einig. Das liegt aber daran, dass sie kein gemeinsames Credo haben, sondern auf die Vielfalt wert legen.“ Malessa setzt noch eine Spitze drauf: „Bei den Evangelikalen sind Bekenntnispapiere und irgendwelche Glaubenssätze in der Dogmatik nix und die Praxis alles.“ Den Evangelikalen geht es um die „praktische Umsetzung der Frömmigkeit“. Der Name Spener fällt, einer der Väter des Pietismus. Malessa sieht das einigende Band der Evangelikalen ganz in der praktischen Frömmigkeit und im Lebensstil.
Nun mag man zugestehen, dass der Journalist hier zugespitzt formuliert hat. Historisch gesehen ist es weitgehend Unsinn, was Malessa hier behauptet. Und wenn die gegenwärtige evangelikale Bewegung Deutschlands ihm hier folgt, sollte sie sich schleunigst einen anderen Namen zulegen.
Die evangelikale Bewegung unterscheidet sich gerade dadurch von der breiter aufgestellten ökumenischen Bewegung, dass sie Einheit auf der Grundlage von einigen festen „Glaubenssätzen in der Dogmatik“ darzustellen sucht. Seit 1846, der Gründung der Evangelischen Allianz in London, werden sie in recht kurzen, aber immer noch präzisen Glaubensgrundlagen der Allianz zusammengefasst. Diese trugen und tragen offiziell nicht den Namen Bekenntnis oder Credo, sie haben aber genau diese Funktion: ein einigendes Band der Lehre. Über die „wirklich wichtigen Fragen“ waren sich die Evangelikalen immer einig! Interessanterweiter fehlt in der Sendung jeder Hinweis auf die Glaubensgrundlagen.
Malessa wirft alles bunt durcheinander: Jesus, Taufe, Gemeinde… Natürlich gab und gibt es bei den Evangelikalen verschiedene Auffassungen zur Kirchenleitung, zu den Sakramenten, zur Eschatologie, zur Ethik usw. Doch damit frönen sie noch lange nicht dem Motto „Nichts ist unmöglich!“. Das Allianz-Credo grenzt die Vielfalt auch ein. Und vor allem umreißt es positiv die zentralen Lehren, in denen man sich einig ist.
Der konstatierte und damit weiter verstärkte Gegensatz von Lehre und Frömmigkeit, von Dogmatik und Praxis, von Credo und Lebensstil macht es dem evangelikalen Führungspersonal relativ leicht, bisherige Positionen unter dem gesellschaftlichen Druck aufzugeben. Hier soll nur eins festgehalten werden: intensiv evangelisch ist so etwas nicht. Die Väter des evangelischen, reformatorischen Glaubens hielten Glaubenssätze in der Dogmatik und Glaubenspraxis zusammen.
„Die ganze Theologie ist praktisch, nicht spekulativ“
Auf der einen Seite lehnten die Reformatoren die theologischen Haarspaltereien und ewigen Begriffsdefinitionen der scholastischen Theologie als „esoterische Magie“ (Calvin) oder sogar als „erlogenes, verfluchtes, teuflisches Geschwätz“ (Luther) ab. Sie waren wenig an Gott als solchem, d.h. an Gott als abstraktem Wesen interessiert. Ihnen ging es um Gott, der uns geschaffen und sich Menschen offenbart hat, der Bünde geschlossen und zu unserem Heil gehandelt hat.
Luther betonte daher: „Die [ganze] Theologie ist praktisch, nicht spekulativ“. Denn es geht in der gesamten Theologie in erster Linie um unseren Weg zum Heil Gottes. Die Beziehung von Gott und Mensch rückte in der Reformation neu in den Mittelpunkt. Auch Calvin hielt wenig von „unnützen Gedankenspielen, wenn einige sich eifrig um die Frage nach Gottes ‘Sein’ und ‘Wesen’ mühen“. „Zweck und Ziel der Gotteserkenntnis soll doch vielmehr sein, daß wir lernen, Gott zu fürchten und zu ehren, ferner: daß wir unter ihrer Leitung alles von ihm erbitten und ihm alles in Dankbarkeit zuschreiben lernen“ (Inst. I,2,2).
Den praktischen und persönlichen Nutzen der Glaubenslehre hatte auch schon Melanchthon in der ersten reformatorischen Dogmatik überhaupt, den Loci communes (1521), betont (s. Bild o.). Er hofft, so gleich eingangs, dass die Leser sehen, „wie abscheulich die überall in der Theologie faselten, die uns anstelle der Lehre Christi aristotelische Spitzfindigkeiten dargeboten haben“. Die Haupthemen sind „die Macht der Sünde, das Gesetz, die Gnade“. Positiv geht es ihm um praktische Christuserkenntnis:
„Das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen, nicht seine Naturen, die Art und Weise der Menschwerdung betrachten. Wenn man nicht weiß, zu welchem praktischem Nutzen Christus das Fleisch annahm und ans Kreuz geschlagen wurde, was nützte es, seine Historie zu kennen? Oder aber genügt es einem Arzt, die Farben, Formen und Umrisse der Kräuter zu kennen, kommt es nicht darauf an, über ihre Heilkraft Bescheid zu wissen?“
Es geht also nicht um abstrakte Theologie, fern vom Leben; es geht um unsere Gotteserkenntnis. Diese steht aber in keinerlei Gegensatz zur Dogmatik oder Glaubenslehre.
The Real Scandal of the Evangelical Mind
Inzwischen ist von dieser reformatorischen Einheit von Dogmatik und Praxis nicht mehr viel zu sehen. In dem Büchlein The Real Scandal of the Evangelical Mind nahm der britische Theologe Carl Trueman, der seit einer Weile in den USA lehrt, auch zur bekannten Definition von „evangelikal“ des Briten David Bebbington (biblicism, crucicentrism, conversionism, activism) Stellung. Die beiden eher theologischen Punkte (Bibel und Kreuz mit all den damit verbundenen Lehren) sind in den Hintergrund getreten. So gibt es eben keine halbwegs klare und einige Lehre der Evangelikalen zur Schrift und zur Deutung des Kreuzestodes mehr. Letztlich haben die letzten beiden Punkte klar das Oberwasser gewonnen, und die umreißen den von Malessa herausgehobenen Aspekt: die Praxis der Frömmigkeit.
Trueman gibt nun jedoch zu bedenken: Die Betonung der Erfahrung und die weitgehende Abwesenheit von lehrmäßigen Kriterien wird den Evangelikalismus weiter von jeglicher kirchlichen Identität weg und hin zu Mystizismus und Subjektivismus treiben. In den „kommenden kulturellen Stürmen“ werden jedoch nur diejenigen, die „klar definierte Glaubensgrundsätze besitzen“, die den historischen Bekenntnissen stark ähneln, bestehen. Die Geschichte der letzten einhundert Jahre habe gezeigt, dass Minimalbekenntnisse Irrlehren und Abschwächen von Glaubenssätzen kaum etwas entgegenzusetzen haben. Natürlich ist auch Glaubenstreue der Leiter gefragt. „Doch ohne ein starkes und umfassendes Lehrbekenntnis wird das Hüten der Tore sogar für treue und wohlwollende Leiter geradezu unmöglich.“
Truemans Buchtitel ist eine bewußte Anspielung an The Scandal of the Evangelical Mind von Mark Noll aus dem Jahr 1994. Noll, wie Trueman Dozent für historische Theologie, beklagt darin u.a. den Antiintellektualismus vieler Evangelikaler. Trueman setzt einen anderen Akzent: „Der heute wahre Skandal des evangelikalen Denkens ist nicht, dass das Denken nicht vorhanden ist, sondern dass ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums fehlt.“
Hier schließt sich der Kreis, denn für dieses gemeinsame Verständnis der Guten Nachricht braucht es eben auch „irgendwelche Glaubenssätze der Dogmatik“. Wenn aber nicht klar ist, welches nun das Evangelium ist, für das die evangelikale Bewegung steht, dann bleibt tatsächlich ein bloßes „einfach nur fromm“. Diese Frömmigkeit mag tatsächlich intensiv sein; ob sie auch evangelisch, evangeliumsgemäß, ist wird umso fraglicher.