„Wasserscheide“ der Evangelikalen?
Oder: Woher wissen wir, dass Gott gut ist?
Roger E. Olson (geb. 1952) ist einer der bekanntesten postkonservativen evangelikalen Theologen der USA. Seit vielen Jahren lehrt der Baptist an der Baylor University in Texas. Olson hat sehr gut und klar geschriebene Bücher zur historischen und systematischen Theologie verfasst wie das umfangreiche Werk The Story of Christian Theology oder auch The Mosaic of Christian Belief. Mit seinem Freund Stanley Grenz (1950–2005) schrieb Olson 20th Century Theology, darin Portraits der wichtigsten Theologen des vergangenen Jahrhunderts. Olson rechnet sich der Tradition des Arminianismus zu, den er in Arminian Theology sehr kenntnisreich verteidigt. Im Ton und Umgang ist Olson auf Ausgleich bedacht, meidet unnötige Schärfe (s. z.B. hier). In der Sache aber positioniert er sich dennoch oft eindeutig wie auch der Buchtitel Against Calvinism deutlich macht. In deutscher Sprache erschien sein Buch über W.P. Youngs populären Roman The Shack (Gott und „Die Hütte“).
Pietismus kontra Scholastik?
Wie schon Stanley Grenz, so beteiligt sich auch Olson an den Diskussionen über die Identität und Zukunft der evangelikalen Bewegung (s. sein Reformed and Always Reforming). Man kann hier schnell den Überblick verlieren und sich im Dschungel der vielen Argumente und Vorschläge verlaufen. Olson selbst hat vor einiger Zeit in einem Beitrag auf patheos.com (wo er regelmäßig bloggt) die Sache gut auf den Punkt gebracht und eine Zusammenfassung wichtiger Elemente seiner Position gegeben.
Olson stellt eingangs von „Bewildered by ‘seeing as’“ dar, dass es auch in der Theologie verschiedene Gesamtperspektiven gibt, d.h. dieselben Phänomene und vor allem biblischen Texte werden recht unterschiedlich gedeutet – weil man eben aus einer anderen Perspektive schaut. Olson ist nun kein postmoderner Relativist, der alle Perspektiven als gleich wahr bezeichnen würde. Er bezeichnet Arminianismus und Calvinismus als unterschiedliche Perspektiven, die sich aber nur zum geringen Teil ergänzen; sie können nicht beide völlig Recht haben. Olson gebraucht hier auch den vom Philosophen R.M. Hare geprägten Begriff „blik“ (vom deutschen „Blick“): man blickt eben ganz anders auf die Dinge.
Olson glaubt nun nicht, dass die Meinungsverschiedenheiten der beiden Lager bloß darin begründet sind, dass die eine Seite die Heilige Schrift achtet und die andere Seite nicht. Aber er sieht durchaus unterschiedliche hermeneutische Ansätze am Werk. Die oft konservativ genannte Position skizziert er so: „Es scheint mir, dass EINIGE Christen die Bibel als göttlich betrachten. Das heißt, dass sie sie so sehr schätzen, dass sie sie in Bezug auf die Autorität auf die gleichen Ebene mit Gott selbst stellen.“ Dass die Autorität der Bibel nur eine nachgeordnete ist und nicht mit der Gottes auf einer Ebene steht, ist tatsächlich eine Kernvorstellung der Postkonservativen und so manch anderer (in Deutschland z.B. von Siegfried Zimmer hochgehalten).
Olson formuliert nun seine Hauptthese: „Meine Erfahrung davon, WER GOTT IST, ist nicht auf die Schrift beschränkt; ich habe unmittelbare Erfahrungen Gottes als einem guten, die mich überzeugen, dass die Schrift Gottes Wort ist – das Reden Gottes.“ Etwas weiter unten führt er dann aus:
„Es scheint so, dass einige Evangelikalen die Erfahrung Gottes als immer durch Schrift vermittelt ansehen, was sie aus meiner Sicht in die Richtung von Bibelvergötterung [bibliolatry] neigen lässt. Das ist der Grund, weshalb sie sagen, sie würden glauben, dass Gott ein Monster (oder der Urheber des Bösen oder was auch immer) ist, FALLS die Schrift dies sagt. Andere Evangelikalen (wie ich) sehen die Erfahrung Gottes als SOWOHL von der Schrift vermittelt ALS AUCH als unvermittelt an, und in Bezug auf die Kenntnis von Gottes Charakter betrachten sie die letztere als primäre.“
Dies ist natürlich auf die Calvinisten gemünzt, die der Bibel unbedingt und konsequent folgen wollen – auch wenn sie dann darin einen Gott entdecken, dessen Ratschluss auch das Böse miteinschließt und der nicht alle Menschen zum Heil erwählt, ja manche in der ewigen Verdammnis belässt. Wenn bei Olson daraus so etwas wie „Wir akzeptieren jeden, aber auch wirklich jeden Gott, den wir da in der Bibel entdecken“, ist das ist natürlich schon eine nicht gerade schmeichlerische Darstellung der calvinistischen Position. Ein weiterer längerer Abschnitt:
„Als ich gerettet wurde, habe ich mich nicht zur Bibel bekehrt; ich wurde zum Gott Jesu Christi bekehrt. DANN erfuhr ich durch die Bibel mehr über Gott und glaubte daran, WEIL sie mir von dem Gott Jesu Christi erzählte, dem ich in der Bekehrung und meiner persönlichen Beziehung mit ihm begegnet war. Meine Erfahrung von Gott ist sowohl vermittelt als auch unvermittelt, und die beiden sind untrennbar miteinander verbunden. Aber wenn ich die Bibel öffne, um sie zu lesen und zu studieren, tue ich dies nicht als unbeschriebenes Blatt [tabula rasa] – bereit zu glauben, was auch immer sie mir sagen könnte, SELBST WENN sie mir sagen sollte…, dass Gott ein Ungeheuer ist, das mich hassen könnte und das Schlimmste für mich wolle oder seine eigene Ehre mehr als mich (und uns alle) liebt. Wenn ich versucht bin dies zu glauben, gehe ich zu Gott und entdecke ihn neu in unmittelbarer Erfahrung durch Jesus Christus oder ich erinnere mich zumindest an jene Augenblicke, als mein Herz seltsam erwärmt wurde und ich WUSSTE – ohne die Möglichkeit des Zweifels – , dass Gott mich liebt und Beste für mich will und mich nicht hasst…“
Olson sieht seine Position in der Tradition des Pietismus verwurzelt; auf der anderen Seite steht bei ihm die protestantische Scholastik (in Deutschland ist der Begriff Orthodoxie gebräuchlicher):
„Ich bin überzeugt, dass dies ein Unterschied in der Art einer Wasserscheide zwischen modernen Evangelikalen ist. Es gibt diejenigen von uns, die im Pietismus verwurzelt sind, und es gibt diejenigen, die in der Tradition der protestantischen Scholastik stehen (vertreten z.B. durch Turretin, Hodge und Warfield). Ich behaupte, dass Calvin auf meiner Seite steht – auch wenn es falsch wäre, ihn einen Pietisten zu nennen. Er appellierte an den Heiligen Geist und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes als einzigen Grund der Wahrheit und Autorität der Heiligen Schrift. Postcalvinische Calvinisten haben dies weitgehend vergessen.“
Gott, das Ungeheuer?
Man kann Olson nur danken für diese zugespitzte Darstellung. Problematisch ist jedoch vor allem, dass er die gegnerische Position des scholastischen Calvinismus deutlich verzerrt darstellt (nach Olson glauben sie doch tatsächlich an einen Monster-Gott). Ich wüsste nicht, dass Calvinisten behaupten und lehren, Erfahrung Gottes als solche sei immer durch die Schrift vermittelt. Dies ist offensichtlich falsch, schließlich erfährt in gewisser Weise jeder Mensch Gott. Die Frage ist, wie die unmittelbare Erfahrung zu bewerten ist und wie im Einzelnen die Vermittlung der Gotteserkenntnis durch Schöpfung, Schrift und Erfahrung geschieht. Olson hat eine falsche Polarisierung vorgenommen, die die Calvinisten gleich in ein schlechtes Licht rückt.
Man kann Olson also durchaus zugestehen: Ja, wir machen alle möglichen geistlichen Erfahrungen. Es wäre dumm, dies zu leugnen. Olson ist nun aber recht optimistisch, was die Erfahrungsinhalte abgesehen von der Offenbarung durch die Bibel angeht. Gott als den Guten erfahren wir zuerst und primär, so Olson, außerhalb der Schrift. Der Mensch begegnet Gott und entdeckt dann in der Bibel denselben guten Gott. Wenn er die Bibel liest, erkennt er darin das Zeugnis Gottes, den er auch außerhalb der Schrift erfährt.
Olson sieht Calvin auf seiner Seite, doch dieser war ganz und gar nicht so optimistisch. In der sog. Allgemeinen Offenbarung teilt sich Gott durchaus mit, alle Menschen erkennen Gott, machen also Erfahrungen mit ihm und diese sind – Stichwort „allgemeine Gnade“ – zum Teil durchaus positiv. Von einem Wissen um die uneingeschränkte Güte Gottes bei allen Menschen kann aber keine Rede sein. Nach Apg 17 (Paulus auf dem Areopag) erkennen Nichtgläubige Gott als mächtigen Schöpfer, auch als richtenden Instanz. Seine Gutheit steht nicht im Vordergrund. Calvin sprach öfter vom „Nebel des Irrtums, der uns umgibt“ (Inst. III,2,4) – Christen dabei eingeschlossen – und betonte, dass unsere Gotteserkenntnis jenseits der Bibel mangelhaft ist: „so bringt die Schrift unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung, zerstreut das Dunkel und zeigt uns deutlich den wahren Gott“ (Inst. I,6,1).
Natürlich hat Olson nicht die allgemeine Offenbarung in der Schöpfung im Blick; er beruft sich in erster Linie auf seine Erfahrung als Christ, auf die Erfahrung der Güte Gottes in der Errettung. Dass beim Christwerden der Mensch den festen Zusagen Gottes in der Hl. Schrift vertraut, erwähnt Olson interessanterweise mit keinem Wort. Er gesteht selbst ein, dass die Erfahrung Gottes außerhalb der Schrift „keine Lehren kommuniziert“. Für „kognitiven Inhalt“ ist die Bibel zuständig. Woher weiß Olson dann aber so sicher, dass Gott der uneingeschränkt gute ist? Wie hat ihm das die nebenbiblische Erfahrung mitgeteilt? Diese Erfahrungen verweisen auf die Schrift und werden durch sie ergänzt, so der Theologe. Aber diese Informationen über Gott aus der Bibel „können der präkognitiven Erfahrung Gottes als des uneingeschränkt guten nicht widersprechen“.
Wie ist dann aber die Erkenntnis von der uneingeschränkten Güte Gottes einzuordnen? Ist dies nicht eine Lehre und ein kognitiver Inhalt? Warum soll dieser Aspekt Gottes, diese seine Eigenschaft wesentlich präkognitiv entdeckt werden? Nun soll ja gar nicht bestritten werden, dass Menschen diese Gutheit erfahren. Aber Olson geht ja deutlich über diese Tatsache hinaus. Diese Erkenntnis ist bei ihm ausdrücklich die primäre und sogar die hermeneutische Schlüsselerkenntnis. Ist es aber nicht so, dass Menschen, auch Gläubige, sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Gott machen? Man lese nur die Psalmen. Olson greift nun seinerseits besondere Erfahrungen heraus wie ein in besonderer Weise berührtes Herz und ein überrationales, direktes Erkennen (aufgrund „meiner persönlichen Beziehung zu Jesus Christus und durch den Heiligen Geist in mir“), das vor allem einen, genau einen Inhalt hat: Gott liebt mich und will das Beste für mich. Mit welcher Berechtigung wird nun aber alles durch dieses eine Raster gedrückt?
Olson sieht zwischen Bibel und außerbiblischer Erfahrung keinen Widerspruch. „Nichts in meiner Erfahrung Gottes widerspricht der Schrift; das ist auch gar nicht möglich.“ Und auch die Bibel „kann nicht im Widerspruch zu dem Gott stehen, den ich durch meine unmittelbare Erfahrung von Jesus Christus als gut erkannt habe, denn der einzige Grund, warum ich der Bibel glaube, ist, dass sie das Wort DIESES GOTTES ist.“
Wie der letzte Satz zeigt, ist das Ergebnis bei Olson, dass die nicht- oder nebenbiblische, die unvermittelte Erfahrung des Menschen die Bibel als Wort Gottes beglaubigt oder authentifiziert. Er stellt dies als die reformatorische Position dar (s.o., „Er [Calvin] appellierte an den Heiligen Geist und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes als einzigen Grund der Wahrheit und Autorität der Heiligen Schrift“); auch das „Turmerlebnis“ Luthers sei eine Bestätigung. Olson bedauert, „dass einige konservative Evangelikale vergessen haben oder bequem die Tatsache ignorieren, dass Luther die Autorität der Bibel immer im Heiligen Geist und nicht in irgendeiner selbstbeglaubigenden Qualität [self-authenticating quality] verwurzelt sah. Sein Sola Scriptura war nicht Bibelvergötterung und noch nicht einmal nahe daran.“
Diese kategorische Formulierung ist schon sehr seltsam, und das ist noch milde formuliert. Man bedenke, dass hier ein historischer Theologe schreibt. Es ist nun gerade die klassisch-reformatorische Position, dass Bibel sich selbst beglaubigt und diese innere Qualität in sich besitzt, erst einmal ganz unabhängig von jeder Erfahrung. Ein Gegensatz zum Wirken des Heiligen Geistes besteht hier aber gar nicht (s. auch das nun wahrlich scholastische Westminster-Bekenntnis, I,4–5, über die Rolle des Geistes): Gott bezeugt die Autorität seines Wortes durch seinen Geist, der das Wort selbst benutzt. Insofern ist der Geist tatsächlich der einzige Grund unserer Überzeugung von der Wahrheit und Autorität der Schrift. Aber eben nicht losgelöst oder neben der Schrift.
Was Olson nun aber macht, ist folgendes: Er stellt eine menschliche Erfahrung neben und faktisch über die Schrift und identifiziert der Einfachheit halber diese mit Gottes Stimme. Der Geist, also Gott, sagt ihm in der persönlichen Erfahrung direkt und unvermittelt etwas über Gott. Hier ist zurückzufragen: Woher weiß er das so genau? Olson: Ich weiß es einfach, jenseits aller Zweifel. Punkt.
Die Reformatoren betonten dagegen, dass unsere Gewissheit über den Charakter der Bibel und über den Charakter Gottes auf der Bibel selbst ruht. Natürlich ist Gewissheit in jedem Fall auch eine Erfahrung, aber eben nicht jenseits des geschriebenen Wortes. Die Erfahrung an sich muss bei Olson das gesamte Fundament tragen, aber das überfordert sie. Denn unsere Erfahrung ist äußerst vielfältig, oft sogar widersprüchlich, mit Höhen und Tiefen. Sicher sind da die Momente zu finden, in denen wir die Güte Gottes entdecken. Welcher Christ würde das leugnen? Solcher Momente haben gewiss ihren Wert; sie bestätigen und kräftigen den Glauben. Aber sind sie letzter Grund der Glaubensgewissheit?
Es ist interessant, dass Olson ausdrücklich schreibt, dass er „nicht bereit [ist] zu glauben, was auch immer sie [die Bibel] mir sagen könnte“. Irgendwie ist das natürlich wahr. Ich lese die Bibel ja auch nicht in der Bereitschaft oder der Offenheit für alles mögliche. Bei Zweifeln, die sein bisheriges Gottesverständnis infrage stellen, nimmt er Zuflucht zu seiner Erfahrung. Wohlgemerkt: bei Zweifeln, die bei der Bibellektüre entstehen. Olson sagt richtig, dass zwischen echter geistlicher Erfahrung und der biblischen Botschaft kein Widerspruch bestehen kann. Wenn scheinbare Widersprüche auftauchen, dann werden sie nach ihm durch den Input der unmittelbaren Erfahrung gelöst.
Bei Kant war die Vernunft des Menschen der „Probierstein“, an dem sich alles zu messen hat. Ausschlaggebender Faktor bei Olson ist die Erfahrung. Letztlich ist sie es, die bestimmte Bibeldeutungen möglich oder unmöglich macht. Zeichnet sich durch Exegese ab, dass ein calvinistischer Monster-Gott dabei herauskommt, so darf dies nicht sein. Diese Perspektive muss falsch sein, weil die Erfahrung mit Jesus und dem Geist eine der umfassenden, radikalen und konsequenten Liebe ist.
Das würde das Geschäft der Theologie ungeheuer vereinfachen. Etwas böse könnte man formulieren, dass die hermeneutische Hauptfrage für Olson letztlich lautet: Wie fühlt sich diese Interpretation nun an – auf dem Hintergrund meiner persönlichen Gotteserfahrung? Man wundert sich nicht, dass ein kantiges (um es mal etwas neutraler zu formulieren) Gottesbild da auf der Strecke bleibt. Luther hätte es sich in seinem Ringen um die Bedeutung von Römer 1,17 auch leichter machen können. Er war nun wahrlich von Zweifeln schwer hin und her gerissen, mitten in einer tiefen existentiellen Krise. In dieser nahm er jedoch nicht zu den wärmeren Momenten seiner geistlichen Erfahrung Zuflucht. Nein, er schlug (wie er sagte) wie wild weiter auf den biblischen Text ein. Bis Gott durch diesen zu ihm sprach und sich als der Gerechte und Barmherzige offenbarte.
Die Bibel darf nur sagen, was wir sie sagen lassen. Mit dieser Versuchung ringen alle Christen, alle Theologen und natürlich auch die scholastischen Calvinisten. Olson ist aber fast schon stolz darauf: Ich lasse die Bibel nicht sagen, dass Gott ein Ungeheuer ist – weil ich, ganz tief in mir, ganz sicher, ganz unmittelbar weiß, dass er dies nicht ist. Natürlich ist Gott kein Ungeheuer. Solche Formulierung zeigen doch nur, dass Olson sich keinen Millimeter von seiner Position entfernen möchte. Wie könnte jemand wie er von der Wahrheit des calvinistischen Gottesbildes überzeugt werden? Es ist praktisch noch nicht einmal denkbar.
Olson glaubt nicht, dass dieser Unterschied in der Wahrnehmung durch Debatten oder den Ruf nach mehr Exegese aufgehoben werden kann. Wodurch aber dann? Ist es nicht ein Armutszeugnis für einen Theologen, dass er der besseren und vertieften Exegese eine Absage erteilt?
Dreierlei Licht
Olson sieht Luther und Calvin auf seiner Seite und etikettiert die von ihm abgelehnte Position mit „scholastisch“, was diese natürlich von den Reformatoren wegrücken soll. Ich glaube nun aber nicht, dass Luther ihm beipflichten würde, im Gegenteil.
Gegen Ende von Vom unfreien Willen (1525) gebraucht Luther das Bild vom dreifachen Licht: „das Licht der Natur, das Licht der Gnade und das Licht der Herrlichkeit, wie es eine verbreitete und gute Unterscheidung tut.“ Betrachten wir nur den normalen Verlauf des Weltgeschehens, so ringen wir mit der Ungerechtigkeit Gottes: Warum geht es den Verbrechern und Gottlosen oftmals wunderbar? Luther: „Im Licht der Natur ist es unlösbar, dass das gerecht ist, dass der Gute heimgesucht wird und dass es dem Bösen wohl geht.“
Doch diese Ungerechtigkeit Gottes ist nur eine scheinbare, was sich im Licht der Gnade erweist. Im „Licht des Evangeliums“ erkennen wir, „dass es den Gottlosen zwar äußerlich wohl gehe, dass sie aber an der Seele zugrunde gehen“. Dieses Licht ändert alles, denn nun wird klar: „es gibt ein Leben nach diesem Leben, in dem alles, was hier nicht bestraft und belohnt ist, dort wird bestraft und belohnt werden, da dies Leben nichts ist als ein Vorläufer oder vielmehr Anfang des künftigen Lebens.“
Es gibt nun aber auch für Christen, die das Licht der Gnade haben, immer noch unbeantwortete Fragen, ja Rätsel; manche hat Luther ja in dem Buch in der Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam berührt. Vieles verstehen wir nun, hier auf Erden, noch nicht, doch Luther ist überzeugt, „dass dann das Licht der Herrlichkeit eine jede Frage auf das Leichteste lösen kann, die im Lichte des Wortes oder der Gnade unlösbar ist.“
Unlösbare Fragen. Manche haben die scholastischen Theologen ausgebuddelt und auf den Tisch gelegt, weil sie eben schon in der Bibel aufgeworfen werden. Ein Gott, der die vollkommene Güte ist und dennoch das Böse in seinen Ratschluss miteinschließt – wie kann das sein? Und noch existentieller: Warum rettet Gott den einen und den anderen nicht? Luther:
„Im Licht der Gnade ist es unlösbar, wie Gott den verdammen kann, der aus seinen eigenen Kräften nichts anderes tun kann, als sündigen und schuldig werden. Hier sagen sowohl das Licht der Natur, wie das Licht der Gnade, dass die Schuld nicht des armen Menschen, sondern des ungerechten Gottes sei. Denn sie können nicht anders über Gott urteilen, der den gottlosen Menschen umsonst ohne Verdienste krönt, und einen anderen nicht krönt, sondern verdammt, der vielleicht weniger oder wenigstens nicht mehr gottlos ist. Aber das Licht der Herrlichkeit redet anders und wird alsdann zeigen, dass Gott, dessen Gericht bisher eine unbegreifliche Gerechtigkeit innewohnt, die gerechteste und offenkundigste Gerechtigkeit zugehört.“
Im Licht der Gnade urteilt Olson: so einen ungerechten Gott will ich nicht; so ein Ungeheuer wie bei den scholastischen Calvinisten lehne ich ab. Luther könnte ihm entgegnen: Ignoriere nicht das Licht der Herrlichkeit. Maße dich nicht an, aufgrund deiner Erfahrung so über Gottes Wesen zu urteilen.
Olsons Bild der Wasserscheide ist gar nicht verkehrt (auch Francis Schaeffer gebrauchte es im Hinblick auf die Evangelikalen in Die grosse Anpassung). Nur glaube ich nicht, dass die Gegenüberstellung „pietistisch“ und „scholastisch“ passend ist. Es gab schließlich nicht wenige Gruppen und Strömungen, die Erfahrung und Bibelorientierung verbunden haben wie nicht zuletzt die Puritaner Englands und Amerikas (die dummerweise fast alle Calvinisten waren). Mir scheint, dass die Wasserscheide zwischen reformatorischer und nicht mehr reformatorischer Theologie verläuft (G. R. McDermott traf in diesem Beitrag die ähnliche Unterscheidung zwischen „traditionists“ und „meliorists“). Olson würde das sicher anders sehen, aber das ist eben auch wieder eine Frage des „Blicks“…