Das Vermächtnis der „vier Apostel“
Eines der Meisterwerke in der Alten Pinakothek in München ist ein großformatiges Zweitafelbild Albrecht Dürers. Die „vier Apostel“ stellt Johannes, Petrus, Paulus und Markus dar. Der Evangelist Markus ist zwar kein Apostel wie die drei anderen, doch der Titel des Bildes setzte sich schon früh durch.
Auf der linken Tafel ist der jugendliche Johannes zu sehen, hinter ihm verdeckt steht Petrus, erkennbar an seinem Schlüssel. Beide blicken in eine biblische Schrift, das Johannesevangelium. In der rechten Tafel schaut Markus – mit einer Schriftrolle – Paulus an. Dieser dominiert mit seinem Gewand die rechte Bildhälfte, hält in der einen Hand ein Schwert, in der anderen ein geschlossenes Buch und blickt den Betrachter direkt an.
Das 1526 geschaffene Werk schenkte Dürer dem Rat seiner Heimatstadt Nürnberg. Die weitgehend unabhängige Reichsstadt hatte gerade erst die Reformation eingeführt. Dürer selbst sympathisierte früh mit der von Luther angestoßenen Bewegung, blieb aber lange zögerlich und schlug sich erst recht spät auf die Seite der Evangelischen.
Dürer gab in den „vier Apostels“ seiner nun herangereiften religiösen Überzeugung Ausdruck, ja hinterließ das Werk ein paar Jahre vor seinem Tod als eine Art Vermächtnis „zu seinem Gedächtnis“, wie er selbst formulierte. Mit den beiden Tafeln knüpfte der Künstler an der Tradition mittelalterlicher Rathausbilder an, die zur guten Regentschaft ermahnten. Tatsächlich hing das Werk auch etwa einhundert Jahre im Nürnberger Rathaus bis es während des 30-jährigen Kriegs in den Besitz der Wittelsbacher gelangte. Nach der Gründung der Pinakothek durch Bayernkönig Ludwig I fand das Werk dort 1836 seinen Platz.
„Die Warnung dieser vier vortrefflichen Männer“
Der Rat der Stadt wird in zwei Inschriften an der Sockelleiste der beiden Tafeln direkt angesprochen. Der Text besteht aus einer Überschrift und vier auf die Dargestellten bezogenen Bibelzitaten nach der damals neuen Übersetzung Luthers. Ganz evangelisch wird die Stadtregierung aufgefordert, das Bibelwort zu respektieren und durch die Dargestellten ermahnt, nicht religiösen Verführern, den „falschen Propheten“, zu folgen. Ins Hochdeutsche übertragen beginnt die Inschrift wie folgt:
„Alle weltlichen Regenten sollen in diesen gefährlichen Zeiten in entsprechender Weise darauf Acht haben, dass sie an Stelle des göttlichen Wortes nicht menschliche Verführungen annehmen. Denn Gott will nicht, dass etwas zu seinem Wort hinzu oder hinweg genommen wird. Deshalb soll die Warnung dieser vier vortrefflichen Männer – Petrus, Johannes, Paulus und Markus – gehört werden.“
Anschließend wird 2 Petrus 2,1–3 zitiert: eine strenge Warnung vor „falschen Propheten“ und „falschen Lehrern, die verderbliche Irrlehren einführen und verleugnen den Herrn“. Es folgt die ähnliche Ermahnung aus 1 Johannes 4,1–3: „Prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt.“ Danach kommt Paulus in 2 Timotheus 3,1–7 zu Wort: „Das sollst du aber wissen, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten kommen werden. Denn die Menschen werden viel von sich halten, geldgierig sein, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, gottlos, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, zuchtlos, wild, dem Guten fein…“ Schließlich zitiert Dürer Markus 12,38–40, die „Warnung vor den Schriftgelehrten“, die das Ansehen in der Gesellschaft genießen und nach Ehre streben, doch „sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete.“
Dass der Rat der Stadt vor allem mit Bibelzitaten ermahnt wird, ist natürlich kein Zufall. Dies entsprach ganz dem neuen evangelischen Glauben. Und die linke Tafel unterstreicht optisch: Die Bibel selbst muss gelesen und studiert werden. Nur wer die Botschaft der Bibel tatsächlich kennt, kann sie auch gegen die falschen Propheten verteidigen. Johannes und Petrus veranschaulichen diesen Aspekt durch ihr vertieftes Blicken in das Buch.
Besonders Paulus auf der rechten Tafel stellt einen zweiten wichtigen Aspekt dar: die wachsame Verteidigung des biblischen Glaubens. Traditionell wird er mit einem Schwert abgebildet, das Instrument seines Martyriums, aber auch das „Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes“ (Eph 6,17). Die biblische Botschaft ist also zu studieren, und dies wiederum ermöglicht ihre wirkungsvolle Verteidigung gegen die „Anschläge des Teufels“ (Eph 6,11), konkret die Verführungen der Irrlehrer.
„Alle Gotteslästerungen und Häresien unterdrücken“
Damals ging man wie selbstverständlich davon aus, dass sich auch die zivile oder weltliche Obrigkeit an der Bibel zu orientieren und den wahren Glauben zu schützen habe. Im Zweiten helvetischen Bekenntnis fordert Heinrich Bullinger, die Regierung habe „gottesfürchtig und fromm“ zu sein. Sie soll „den reinen Glauben fördern, Lügen und jeden Aberglauben, samt aller Gottlosigkeit und allem Götzendienst, ausrotten und die Kirche schützen. Also lehren wir, dass einer christlichen Obrigkeit die Sorge für die Religion in erster Linie obliege. Sie soll selbst Gottes Wort zur Hand haben und dafür sorgen, dass nichts ihm Widersprechendes gelehrt werde. Sie regiere ferner das Volk, das ihr von Gott anvertraut ist, mit guten, dem Worte Gottes entsprechenden Gesetzen, und halte es in Zucht, Pflicht und Gehorsam.“ (Kap. 30)
Ähnlich drückt sich auch das ein paar Jahre zuvor verfasste Niederländische Bekenntnis aus. Und im Westminster-Bekenntnis (1647) aus Großbritannien heißt es: „Die weltliche Obrigkeit darf sich die Verwaltung des Wortes und der Sakramente oder die Gewalt der Schlüssel des Himmelreichs nicht aneignen. Sie hat jedoch die Autorität und es ist ihre Pflicht darauf zu achten, dass in der Kirche Einigkeit und Friede bewahrt werden, dass die Wahrheit Gottes rein und ganz erhalten bleibt, dass alle Gotteslästerungen und Häresien unterdrückt und aller Missbrauch in Gottesdienst und Kirchenzucht verhindert oder reformiert… werden.“ (23.3)
Dies ist für heutige Ohren gewiss gewöhnungsbedürftig, drückte damals aber einen breiten Konsens aus. Erst die Kongregationisten, Independenten wie Baptisten und dann auch die Presbyterianer in Amerika betonten konsequenter die Trennung von Kirche und Staat: Schutz der Kirche ist immer noch zu gewähren, aber einem einzelnen Bekenntnis soll kein Vorrang eingeräumt werden, und auch der Kampf gegen Irrlehren wird nicht mehr als Aufgabe der staatlichen Organe gesehen.
Die einsame Orthodoxie
Dürers „Apostel“ befinden sich seit Jahrhunderten nicht mehr in einem Rathaus. An prominenter Stelle in der Pinakothek hängend, am Ende einer langen Saalflucht, hat das Werk nun eine Botschaft über den engen Kreis von Regierenden hinaus.
Konzentrierte Vertiefung in den biblischen Text, sich von diesem etwas sagen und von ihm prägen lassen, ihn in sich eindringen und wirken lassen: das Hineinschauen – dafür steht die linke Tafel. Im Protestantismus hat diese Haltung eine lange Tradition, nicht zuletzt im Pietismus und anderen Bibellesebewegungen.
Paulus wacher und strenger Blick auf der rechten Tafel veranschaulicht die zweite Grundhaltung: die Wendung nach Draußen in Richtung Welt. Hier ist an die Ausbreitung und die Verteidigung des Glaubens zu denken. Auch hier ist das Erbe der christlichen Geschichte reich: Anstrengungen im Bereich Mission und Evangelisation, Auseinandersetzung mit Herausforderungen der Zeit in der Apologetik.
Ein heute gerne „meditativ“ genannter Zugang zur Bibel ist immer noch beliebt und natürlich auch notwendig. Der Blick in die Welt wird auch nicht vernachlässigt. Den politisch Engagierteren kommen dabei gerne Begriffe wie „Raubtierkapitalismus“, „Klimakollaps“ oder „MDG“ (Millenium Development Goals der UNO) über die Lippen. „Transformation“ und „Gerechtigkeit“ im Sinne der Bekämpfung sozialer Übel sind nun auch evangelikale Schlagwörter.
Wo sind aber die „verderblichen Irrlehren“ geblieben? Gibt es sie überhaupt noch? Wer redet noch von ihnen? Wo ist noch eine Spannung zwischen Orthodoxie, Rechtgläubigkeit, und Häresie, Irrlehre, zu erkennen?
Was ist orthodoxer Glaube heute? Wie ist er konkret inhaltlich zu füllen? Werden hier nun Positionen bezogen, muss man sich auf den Vorwurfe gefasst machen, man sei ein in seinen Traditionen und Überzeugungen einbetonierter „Standpunktfetischist“ oder ein „Lordsiegelbewahrer des Glaubens“. Dass sich mit solcher Polemik auch das gesamte traditionelle Christentum vom Tisch wischen ließe, ist den prominenten Evangelikalen, die sich so äußern, wohl nicht bewusst.
Gibt es in Kirche und Lehre noch Linien, die überschritten werden können d.h. gibt es Punkte, an denen wir berechtigt von Irrlehre sprechen können und sollen? Theoretisch würde dies so gut wie jeder ernsthafte Christ bejahen. Doch werden diese Linien tatsächlich gezogen? Ist es nicht eher so, dass selbst in evangelikalen Kreisen all diejenigen, die noch irgendwelche Linien ziehen, schon mal als Jäger von Häretikern verspottet werden?
Die einzige Häresie ist nun die Behauptung, dass hier und dort bestimmte Linie überschritten werden und tatsächlich von falscher Lehre geredet werden muss. Einzige Versuchung scheint heute der Fundamentalismus zu sein; für ihn werden Kraftausdrücke der Verwerfung reserviert. Dabei hat der historische Fundamentalismus vor einhundert Jahren nur genau das getan, was die von Dürer zitierten Bibelstellen fordern: Markierungen in gefährlichen Zeiten setzen.
Man kann heute lesen, dass diese oder jene theologische Einrichtung, Ausbildungsstätte oder ein Medium „weniger“ oder „mehr“ orthodox sei. Aber was heißt das eigentlich? Interessant ist doch, dass die von Dürer zitierten Texte des Neuen Testaments kaum Raum für Zwischentöne lassen. Es geht um ein Entweder-Oder. Reflexhaft lautet nun oft der Vorwurf an Christen, die ähnlich argumentieren, sie würden Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, und das gehe ja nun wirklich nicht. Alles ist komplizierter.
Das stimmt. Aber dann muss man auch ernsthaft in die komplizierte Materie einsteigen. Die protestantischen Medien geben hier wenig Hilfestellung. Man muss auf den Seiten der EKD schon sehr tief stöbern, um das Wort Irrlehre auch nur zu finden. Unter den vielen hundert Stichworten auf evangelisch.de ist es natürlich auch nicht zu finden.
Offensichtlich hat eine rhetorische Revolution stattgefunden: die Häresie als ein ernstes Problem ist verschwunden. Und das betrifft auch die evangelikale Welt. Im vergangenen Herbst hatte „Christianity Today“ vielsagende Umfrageergebnisse veröffentlicht. So betrachtet z.B. eine Mehrheit den Heiligen Geist eher als Kraft denn als Person.
„Er kann‘s“
Wie ernst die Lage auch in Deutschland ist, zeigt nicht zuletzt Jürgen Mettes Vorwort zu Mit dir. Für dich. Vor dir.: Was Gott ist. Und was nicht, die deutsche Ausgabe von Rob Bells What We Talk About When We Talk About God. Der bekanne deutsche Evangelist äußert sich darin beeindruckt von den kommunikativen Fähigkeiten des US-Armerikaners („Er kann‘s“), die tatsächlich kaum zu bestreiten sind. Mette lobt, dass Bell Luft in „versiegelte Fässer“ gelassen, d.h. Tabuthemen angesprochen und unter den Tisch gekehrte Debatten belebt hat. „Wer weiß, welche Fässer er noch lüftet. Er scheint in diesem Klima [der Kontroversen] richtig zu gedeihen und beschäftigt derweil jede Menge konservativer Theologen, die besorgt oder gar empört seinen Weg verfolgen und Gegenentwürfe in die Debatte werfen, um den Stopf wieder ins Loch zu hauen“. Leider hat Mette mit dem Ende dieses Satzes nun wahrlich einseitig Partei ergriffen (aber wen wundert‘s in einem doch meist lobenden Vorwort): „Gegenentwürfe“ sind ja in jedem Fall legitim, doch er stellt es nun so dar, als ob die Andersdenken weitere Diskussionen fast schon mit Gewalt einfach nur unterdrücken wollen.
Bell werde „von frommen Leuten, die in ihm einen gefährlichen Verführer sehen“ „scharf überwacht“, ja „observiert“. Mette geht nicht auf die Frage ein, inwieweit diese Besorgnung berechtigt sein könnte. Er nennt selbst die gewisse Warnung der Willow Creek-Leiter in den USA an die deutsche Freunde: „Universalist!“ Und ihm ist auch die Rezension von Michael Kruger auf dem Portal reformation21. org der „Alliance of Confessing Evangelicals“ bekannt. „Von welchem Gott Rob Bell auch immer spricht, der Gott der Christen ist es nicht“, so zitiert Mette Kruger sogar. Dessen Schlussfolgerung dort: „In the end, my overall concern about this volume is a simple one: it is not Christian. Bell’s makeover of Christianity has changed it into something entirely different. It is not Christianity at all, it is modern liberalism.“ Es wäre interessant zu erfahren, wie Mette zu diesem klaren Urteil steht. Will da auch jemand das Fass wieder dicht machen? Oder könnte hier nicht eine berechtigte Warnung vor einem Irrlehrer vorliegen? Überhaupt kein Christentum mehr – sollte hier ein Theologe nicht vielleicht einmal genauer hinschauen, anstatt nur alles mit einem banalen „jeder wird in diesem Buch finden, was er sucht” hinwegzubügeln? Und auch Mette sollte irgendwann einmal eine Position beziehen: Gibt es in seiner Theologie noch irgendwelche Linien, jenseits derer der Vorwurf der Irrlehre wenigstens ernsthaft geprüft werden sollte? Von einem Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Ev. Allianz ist das sicher nicht zu viel verlangt.
Viel ist zu tun, und vor allem muss sicher die theologische Ausbildung verbessert werden, damit Pastoren und Mitarbeiter angemessene Orientierung geben können. Andernfalls passen sich Gemeindemitglieder dem Trend der Zeit einfach an. Wie spiegelt sich nun aber der Nachdruck von Dürers Stellen in den Kirchen und ihren Ausbildungsstellen wider? Es stimmt, dass Christen in erster Linie eine gute Nachricht haben, das Positive, Lebensbejahende und Befreiende steht im Mittelpunkt. Und nun kommt die „Gesellschaftsrelevanz“ hinzu. Aber das ist eben nicht alles. Weil die Fragen eben nicht ganz so einfach zu beantworten sind, muss in den Curricula Raum für ihre Diskussion geschaffen werden, natürlich vor allem in den Fächern Dogmatik und Dogmengeschichte. Hinzu tritt die Ethik, denn z.B. bei Petrus liegt ein Schwerpunkt auf dem moralischen Fehlverhalten der Irrlehrer.
Aber wer weiß, vielleicht wird eine Erneuerung doch nicht von den Theologen ausgehen. Albrecht Dürer war auch ein Künstler und theologischer Laie.