Das Evangelium im Land der Kreuze
(Ausführliche und erweiterte Textversion von Vorträgen in Frankfurt und München am 28. bzw. 30. Juni)
Litauen in Europa
Vor ziemlich genau 30 Jahren, Mitte Juni 1985, wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet. Es zielte auf die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den europäischen Staaten. Wer heute von Vilnius nach Frankfurt fliegt, wird tatsächlich von keinem einzigen Grenzpolizisten aufgehalten. Freies Reisen quer durch fast ganz Europa – Schengen wurde Realität. Europa ist zusammengewachsen.
Litauen führte Anfang des Jahres als letzter der baltischen Staaten den Euro ein. Die drei Länder am Rand der Ostsee haben wie kaum andere von der europäischen Einigung profitiert. Vor gut 20 Jahren befanden sich Russland, Weißrussland, die Ukraine und die baltischen Republiken alle in etwa in der gleichen Ausgangsposition. Innerhalb einer Generation haben Estland, Lettland und Litauen unter den postsowjetischen Staaten den größten Sprung nach vorne geschafft, und nun tut sich zwischen ihnen und der Ukraine eine wirtschaftliche Kluft auf.
Aber der Weg war hart. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es im Baltikum nicht wenige durchsetzungsfähige Frauen in Führungspositionen schaffen. Derzeit wird Litauen von einer wahrlich eisernen Staatspräsidentin geführt. Dalia Grybauskaitė, im vergangenen Jahr Trägerin des Karlspreises, ist bekannt für ihre scharfen Worte Richtung Kreml. In Lettland leitet nun eine Frau die Regierungsgeschäfte. Als im Krisenjahr 2009 die litauische Wirtschaft um 15% einbrach, musste vor allem Finanzministerin Ingrida Šimonytė den Staat vor dem Bankrott bewahren. Sie war bei Amtsantritt gerade 35 Jahre jung. Die konservativ-liberale Regierung sorgte sogar noch für das Kunststück, dass der Haushalt fit für den Euro gemacht wurde.
25 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung hat es Litauen also in Nato, EU und Euro-Raum geschafft. Aber für die Menschen bleiben viele Herausforderungen. Über die Jahre wurde alles teurer: Das Niveau der Lebenshaltungskosten liegt nun schon bei etwa 70% des deutschen Schnitts. Der Durchschnittslohn (brutto) beträgt allerdings nur 700 Euro. Ein Rentner erhält im Durchschnitt 250 Euro im Monat, nach deutscher Kaufkraft etwa 360 Euro – das entspricht in etwa dem Hartz IV-Regelsatz in einer Bedarfsgemeinschaft. In Litauen werden 7,2% des BIP für Renten aufgebracht, in Italien und Griechenland um die 16%.
In Europa treffen nun Welten aufeinander: Varoufakis und Schäuble, die Russlandbeschwichtiger und die von Russland Geängstigten, Länder mit „Ehe für alle“ und andere, denen schon mal pauschal das Etikett „homophob“ angeklebt wird. Auch in der Bewältigung des Flüchtlingsdramas ist keinerlei Einigung in Sicht. Die Osteuropäer verweigern sich dem vorgeschlagenen Verteilungsschlüssel. Litauen will nicht einmal 710 Flüchtlinge aufnehmen – wenig solidarisch.
„Europas Scheitern“ drohe, so der „Spiegel“ vor einer Woche auf dem Titel. Und tatsächlich muss man angesichts all der Krisen fragen, was uns noch eint – außer, dass man nun an einem Tisch sitzt, miteinander redet und seinen Wohlstand verteidigt. In der EU bastelt man schon eine Weile an einem „neuen Leitmotiv für Europa“. Alle suchen nach dem „Geist Europas“, und Renaissance, Aufklärung und Humanismus dürfen als Quellen des europäischen Erbes genannt werden. Aber der christliche Glaube?
Die Grundidee der europäischen Einigung ist durchaus christlich, die Stichworte lauten Versöhnung statt Krieg, Einheit in Vielfalt und Freiheit, Bindung durch Verträge. Doch das Christentum ist in Europa auf dem Rückzug. „Weltmeister in Nachhaltigkeit“ – das sei nun eine „starke Grundidee“, also konkret: Energiewende, Stromsparlampe und Elektromobil. Aber wehe, man will öffentlich Positionen der traditionellen christlichen Moral vertreten…
Der vergessen(d)e Kontinent
„Zu den Gegenden, wo Christus eher unbekannt ist, gehört heute leider auch Europa, wohin es bereits Paulus gezogen hatte. Europa ist heute erneut der vergessen(d)e Kontinent. Die Statistik nebenan [Weltkarte, s. Ausschnitt] zeigt, in welchen Weltregionen die Gemeinden am schnellsten wachsen. Es ist schockierend, dass Europa inzwischen der Kontinent mit dem geringsten Anteil engagierter Christen ist. Schlimmer noch: der einzige Kontinent, wo ihre Zahl abnimmt.“ So schreibt Missionsleiter Detlef Blöcher in Nr. 2/2015 von „DMG informiert“. Diesen Aussagen des Leitartikels ist nur zuzustimmen. Ja, Europa ist Missionsgebiet, vielleicht sogar die wichtigste.
Europa ist der Kontinent mit den meisten Konfessionslosen und Atheisten. In Ländern wie Frankreich, Belgien oder Tschechien ging in den letzten 50 Jahren der Anteil der Kirchenmitglieder drastisch zurück. Waren in Schweden um 1900 noch so gut wie alle Bürger Mitglieder der lutherischen Staatskirche, so ist es heute noch nicht einmal jeder zweite. Weltweit am stärksten haben sich dabei einige der neuen Bundesländer entkirchlicht – und das kleine Estland. Man spottet, dass sich in der Hauptstadt Tallinn im Sommer mehr Touristen in den Kirchen versammeln als Einheimische.
In einigen katholisch oder orthodox geprägten Ländern wie Polen, Kroatien oder Rumänien sieht dies etwas anders aus. Und auch in Litauen ist das Bild komplexer. Besucht man den Berg der Kreuze, 10 Kilometer nördlich von Šiauliai, kommt man aus dem Staunen kaum heraus: Kreuze soweit das Auge reicht, ja ein Meer von Kreuzen. Auch sonst ist das Symbol des Christentums fast allgegenwärtig. Etwa 90% der Litauer bezeichnen sich als religiös, knapp 80% rechnen sich der römisch-katholischen Kirche zu. Doch der Eindruck eines frommen Volkes täuscht.
Nur jeder siebte Katholik besucht regelmäßig die Messe; nur zwei von drei Gläubigen glauben auch tatsächlich an ein Leben nach dem Tod im Sinne der Bibel; zwei von fünf Katholiken Litauens halten dagegen die Lehre der Reinkarnation für wahr; jeder zweite kann mit der Dreieinigkeit nichts anfangen; und die meisten scheren sich nicht weiter um die katholische Morallehre: eine breite Mehrheit hält Abtreibung in den ersten Monat für grundsätzlich gerechtfertigt, und fast jede zweite Ehe wird geschieden. – 50 Jahre in einem atheistischen, lügnerischen, demoralisierenden System haben ihre Spuren hinterlassen.
Botschafter des Kreuzes
Die katholische Kirche war in der Sowjetrepublik Litauen ein wichtiger Hort des Widerstands und brachte manchen Märtyrer hervor. In den letzten 20 Jahren hat sie sich in vielerlei Hinsicht erneuert; manche der Bischöfe sind erst Anfang 40. Aber das reine Evangelium wird verdeckt durch die beliebten Ablässe, gerade in den Sommermonaten, einen ausgeprägten Marienkult – ihre erste anerkannte Erscheinung in Europa soll 1608 in Litauen geschehen sein – und natürlich die Heiligenverehrung. Hinzu kommen im erst um 1400 christianisierten Land zahlreiche Bräuche, die heidnische Wurzeln haben. Sie durchseuchen fast jedes christliche bzw. katholische Fest wie Ostern, den Johannistag (Sommersonnenwende), Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen, Advent usw.
Es ist vor allem die Berufung der evangelischen Kirchen die Botschaft vom Kreuz, die Gute Nachricht über die Rettung durch Jesus Christus, unverfälscht und klar zu verkündigen. Denn während der Reformation wurde ja in erster Linie das Evangelium wieder in den Mittelpunkt gerückt. Wo sind aber die Evangelischen Litauens, die Botschafter des Kreuzes?
Vor 400 Jahren war fast jeder zweite Litauer evangelisch. Zählt man heute alle Protestanten zusammen, kommt man auf etwa 30.000 – ein Prozent der Bevölkerung. Gut die Hälfte davon, 17.000, rechnet sich der lutherischen Kirche zu, die 55 Gemeinden im Land umfasst. Aber auch solche Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Um die 6000 Litauer bezeichnen sich als evangelisch-reformiert. Doch Mitgliedsbeiträge in Gemeinden zahlt etwa ein Viertel, und nüchtern geschätzt besuchen sonntags insgesamt vielleicht 150 Gläubige die Gottesdienste dieser Kirche im ganzen Land.
Neben diesen über 450 Jahre alten Kirchen gibt es jüngere Gemeindebünde. Schon im 19. Jahrhundert fassten die Baptisten in Litauen Fuß. Die Gemeinde in Klaipėda, früher Memel, ist eine der ältesten Europas. Zum Baptistenbund gehören heute acht Gemeinden mit insgesamt einigen Hundert Mitgliedern. Daneben gibt es noch ungefähr ein Dutzend unabhängiger Baptistengemeinden. Sechs Ortsgemeinden bilden den Bund der Freien Christen, die nun Mitglied der weltweiten Konferenz der Mennoniten-Brüder sind. Die Methodistenkirche umfasst 11 Gemeinden. Zum Pfingstbund gehören 25 Versammlungen. Zu nennen sind außerdem noch die Adventisten, die an mehr als 20 Orten aktiv sind. Nach den Lutheranern hat die Wort-des-Glaubens-Kirche das dichteste Gemeindenetz; in der evangelisch-charismatischen Kirche, die mit der internationalen „Glaubens-Bewegung“ schon Jahrzehnte nichts mehr zu tun hat, sind über 30 Gemeinden zusammengeschlossen.
Herausforderungen
Die kleine Zahl
Es gibt also an die 200 evangelische Gemeinden im Land, deren Mitglieder und Pastoren sich oftmals redlich mühen, das Evangelium zu verkünden. Aber in nur sehr wenigen Gottesdiensten finden sich sonntäglich mehr als einhundert Gläubige zusammen. Die Personaldecke ist oft sehr dünn, d.h. für nicht wenige wichtige Aufgaben fehlen einfach die Mitarbeiter, oder freiwerdende Stellen sind nur äußerst schwer zu besetzen. So ist es eine große Herausforderung, passende Vorstandsmitglieder in der Studentenmission zu finden – oder Dozenten für eine theologische Ausbildungsstätte (s.u.). Jeder gute, engagierte, bewährte Mitarbeiter in Werken und Gemeinden ist in Litauen wahres Gold wert.
Die Zahl der ausländischen protestantischen Missionare ist ebenfalls überschaubar. Lässt man einmal die Unterrichtenden an der LCC International University in Klaipėda außen vor, sind insgesamt wohl ein paar Dutzend Ausländer in litauischen Kirchen und christlichen Organisationen tätig. Die Mehrheit von diesen kommt aus den USA. Deutsche Missionare in Litauen kann man wohl an einer Hand abzählen. Zu ihnen gehört Kapitänin Susanne Kettler, die seit etwa 20 Jahren die Arbeit der Heilsarmee leitet.
Traditionsabbruch
Im Zuge der Gegenreformation wurden die meist reformierten Gemeinden im 17. und 18. Jahrhundert stark zurückgedrängt. Im 19. Jahrhundert war Litauen Teil des Zarenreichs, was für die Evangelischen manche Erleichterungen mit sich brachte. Lutheraner und Reformierte konnten so manche Kirche bauen; Freikirchen wie die Baptisten erreichten das Land, es folgten Anfang des 20. Jahrhunderts Methodisten und Pfingstler. Im Norden Ostpreußens, im Memelland, war der Pietismus besonders unter den litauischsprachigen Lutheranern stark verwurzelt und wirkte auch auf andere evangelische Kirchen und ins russische Litauen hinein.
Der II Weltkrieg und fast ein halbes Jahrhundert in der Sowjetunion brachten eine scharfe Zäsur mit sich. Viele Lutheraner siedelten nach Deutschland um. Die einstmals so bedeutende pietistische Bewegung verschwand bis auf wenige Reste. Alle Kirchen litten unter teilweise starker Verfolgung und Repression. In den 80er Jahren hatte die reformierte Kirche keinen einzigen aktiven Pastoren mehr und musste sich bei den Lutheranern einen Geistlichen ausliehen. Der Protestantismus Litauens sah dem Exitus entgegen. Dazu kam es Gott sei Dank nicht. Aber zwei Generationen wurden durch Verbot jeglicher Jugendarbeit, Katechese und fast jeder Art von systematischer Lehre leider recht erfolgreich säkularisiert und dem lebendigen Glauben entfremdet. – Dieses Erbe wiegt schwer, und man unterschätze nicht den Segen von lebendigen Traditionen. Sind sie erst einmal zerstört, ist Aufbauarbeit umso schwieriger und langwieriger.
Unkenntnis der Bibel
In Litauen selbst erschien erst 1932 eine Ausgabe der gesamten Bibel in litauischer Sprache, die Erzbischof Juozapas Skvireckas aus dem Lateinischen übersetzt hatte (im evangelischen Ostpreußen waren schon früher Bibelausgaben der Protestanten gedruckt worden). Bald darauf unterbrachen der Weltkrieg und Kommunismus die Herausgabe der Heiligen Schrift. 1972 erhielt die katholische Kirche Genehmigung zur Veröffentlichung des Neuen Testaments, übersetzt von Česlovas Kavaliauskas aus dem Griechischen. 1988, schon in der Perestroika, konnte diese Ausgabe in höherer Auflage gedruckt werden. Erst 1995 kam dann nach vielen Jahrzehnten wieder eine gesamte Bibel auf den Markt: Die Wort-des-Glaubens-Kirche verlegte die Übersetzung des Methodisten Kostas Burbulis. Ein Jahr später folgte die Litauische Bibelgesellschaft mit der überarbeiteten Rubšys/Kavaliauskas-Übersetzung.
Das normale Gemeindemitglied hat also erst seit 20 Jahren Zugang zum Wort Gottes. Verschiedene Ausgaben können nun in so gut wie jeder Buchhandlung gekauft werden. Langsam bessert sich auch die Situation bei den Hilfsmitteln zum Bibelstudium (Kommentare, Konkordanz, Lexika). Es gibt einzelne Christen, die eine erstaunliche Bibelkenntnisse haben, aber dies kann nicht über ein großes Problem hinwegtäuschen: selbst in vielen Gemeinden ist die Unkenntnis der Bibel und ihrer Inhalte groß, oftmals sogar erschreckend groß.
Neue Winde aus dem Westen
Gerade mit den letzten beiden Punkten hängt nun dieser zusammen. Neue Winde sind im Grunde häufig etwas Gutes. Die einst von den Scorpions besungenen „Winds of Change“ haben ja viel Sowjetstaub weggeblasen. Und auch Kirchen sollten nicht einfach in Traditionen erstarren und sich jedem Wandel verweigern. Viele Neuerungen, Ideen und Projekte waren und sind zu begrüßen.
Paulus warnt in Epheser 4,14 die Leser aber auch, sich nicht „von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben [zu] lassen“. Der Apostel ruft zur Mündigkeit und Festigkeit im Glauben auf. Ist die Verankerung in der Bibel gering, und geben Traditionen wenig Orientierung, ist die Gefahr groß, von jedem neuen Windstoß in eine andere Richtung getrieben zu werden. Vor 20 Jahren blies das Wohlstandsevangelium kräftig nach Litauen herein; schon seit einigen Jahren überschwemmen esoterische „Lebensberater“ den Buchmarkt; Anselm Grün, W.P. Young (Die Hütte) und wie sie alle heißen verdrehen vielen die Köpfe; dem theologischen Nachwuchs erscheinen manche Formen der postmodernen Theologie (Stichwort „emerging church“) als sehr attraktiv.
Es ist, wie gesagt, nicht sinnvoll, Neues in Bausch und Bogen zu verwerfen. Es genügt auch nicht, sich einfach als konservativ zu bezeichnen (die lutherische Kirche ordiniert z.B. keine Frauen und begründet dies einzig mit der eigenen Konservativität; dies ist aber alles andere als ausreichend). Was gelernt werden muss, ist biblisch begründete Analyse, Unterscheidung und Kritik.
Hoffnung
Nach dieser Skizze der politischen, wirtschaftlichen und religiös-kirchlichen Lage zu unseren drei Arbeitsfeldern in Litauen: eine theologische Ausbildungsstätte, die reformierte Kirche und die Studentenarbeit. Diese verbinde ich jeweils mit einem Stichwort: Kooperation, Demut, Offenheit. In diesen drei Bereichen geht es immer um das Evangelium, das letzter Trost von uns Menschen ist und dessen Verbreitung die Hauptaufgabe der Kirche ist.
Kooperation
Ein glaubhaftes Zeugnis des Evangeliums ist ein gemeinsames Zeugnis. Die Evangeliumsverkündigung ist gerade in Litauen auf Einheit und Zusammenarbeit der Christen angewiesen. Die Evangelischen bzw. die Evangelikalen, gering an Zahl, müssen zusammenrücken. Hier gibt es in Litauen noch viel Nachholbedarf. So hat das Land als eines der wenigen keine Evangelische Allianz. Aber es gibt Zeichen der Hoffnung: Mehrere Missionen und Kirchen – darunter auch die reformierte – sind Träger des Evangelischen Bibelinstituts (EBI) mit Studienzentren in Šiauliai und Vilnius. Da so gut wie alle Studierenden ihren Lebensunterhalt verdienen müssen und daher berufstätig sind, findet jeweils an einem Wochenende im Monat Blockunterricht statt.
Seit 2004 unterrichte ich am EBI insgesamt zehn Kurse, vor allem im Bereich Ethik und Dogmatik, seit diesem Jahr auch in Vilnius. Der Lerneifer und Fleiß vieler Studierender ist beeindruckend. Die zahlreichen positiven Rückmeldungen ermutigen. Das EBI ist die einzige theologische Ausbildungsstätte dieser Art in Litauen und von strategisch großer Bedeutung. Hier werden die Evangeliumsverkündiger von heute und morgen ausgebildet. Im Frühjahr wurden die Studiengänge von der E-AAA akkreditiert bzw. anerkannt.
Demut
Seit 2009 sind Rima und ich Mitglieder der evangelisch-reformierten Kirche Litauens (zuvor waren wir über zehn Jahre in der Freien christlichen Gemeinde in Šiauliai). Vor Ort bilden Lutheraner und Reformierte – obwohl rechtlich getrennt – eine Gemeinde. Im sechsten Jahr leitet Rima dort eine wöchentliche Bibelstunde. Sechs bis acht Damen kommen regelmäßig, was wenig erscheint, aber immerhin ein Viertel der Gottesdienstbesucher ist. Inzwischen hat die Gruppe schon zahlreiche Bücher der Bibel durchgearbeitet, darunter die 5 Bücher Mose und einige der Geschichtsbücher des ATs. Schließlich ist das Nichtwissen hier besonders groß. Die Besucherinnen schätzen es, dass sie nach und nach einen Gesamtüberblick zur Bibel bekommen, die Predigten nun besser einordnen können, Gelegenheit zu Fragen und Austausch haben.
Die Kirche steht außerdem vor der Aufgabe, den Reichtum ihrer Bekenntnisse neu zu entdecken. Lehrgrundlage ist u.a. das Zweite Helvetische Bekenntnis aus dem Jahr 1563. Ende 2011 erschien erstmals eine litauischsprachige Ausgabe, an der ich mitgearbeitet habe. 2014 veröffentlichte die Kirche seit vielen Jahrzehnten wieder den Heidelberger Katechismus. Rima und ich überarbeiteten die Übersetzung von Pfr. Dr. K. Daugirdas grundlegend. Ich entwarf die Gestaltung des Innenteils und verfasste auch für diesen Bekenntnistext der litauischen Kirche eine Einleitung: „Acht Gründe, warum wir den Heidelberger Katechismus heute studieren sollten“. Pünktlich zur Synode des Jahres lag die sehr schön gedruckte Neuausgabe vor. 2013 wählte mich die Kirche zum Kurator oder Ältesten, einem Mitglied der Synode auf Lebenszeit.
Die Arbeit in der Gesamtkirche und der Ortsgemeinde ist natürlich nicht immer nur harmonisch. Aber demütige Pastoren vor Ort und in der Kirchenleitung ermutigen zum Dienst. Dies hat vor allem auch mit der Person von Tomas Šernas zu tun. Der 1962 Geborene ist seit 2010 Generalsuperintendent und damit leitender Geistlicher der reformierten Kirche Litauens. Der Tiermediziner meldete sich Anfang 1991 als einer der ersten zum Dienst beim Zoll des jungen Staates Litauen. Als am 31. Juli eine Einheit der OMON-Miliz den litauischen Grenzposten bei Medininkai nahe Vilnius überfiel und ein Massaker anrichtete, überlebte Šernas schwerverletzt als einziger. Die für den nächsten Tag (!) geplante Hochzeit wurde um 699 Tage verschoben. Über 20 Jahre ist Šernas nun an den Rollstuhl gebunden, konnte aber dank intensiver Rehabilitation (auch in Koblenz) 1997 ein Studium der ev. Theologie in Klaipėda beginnen. 2001 ordinierte die reformierte Kirche ihm zum Diakon, ein Jahr später zum Pfarrer. Seitdem wohnt und arbeitet der Vater von Tochter Gertrūda mit Frau Rasa (einer Musiklehrerin) in Vilnius. Im Land ist er sicher der bekannteste Evangelische, mit seinen zahlreichen Auszeichnungen zweifellos auch der angesehenste.
Šernas entstammt einer alten reformierten Familie, hat aber erst spät, nach den Vorgängen von Medininkai, zum Glauben gefunden. Ihn zeichnet seine demütige, freundliche, humorvolle und offene Art aus. Vor allem hat er erkannt, dass die Kirche zwar auf eine Geschichte seit 1557 zurückblicken kann, jedoch ohne Neuaufbruch, ja Erweckung die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte womöglich nicht überstehen wird. Jüngst betonte er bei der Synode: Die wichtigsten Worte des Apostolischen Glaubensbekenntnisses sind die beiden ersten: ich glaube.
Šernas ruht sich nicht stolz auf seinem reformierten Erbe aus, sondern will, dass seine Kirche auch von den jungen Gemeinden lernt. Eine konkrete Frucht des demütigen Lernens der Kirchen voneinander und der Zusammenarbeit ist die litauische Ausgabe des New City Catechism (NCC), der Ende Mai gedruckt wurde. Der NCC wurde 2012 von der Gospel Coalition in den USA und der Redeemer Presbyterian Church in New York mit Pastor Tim Keller herausgegeben. Die 52 Fragen und Antworten beruhen auf den klassischen reformierten Bekenntnissen, deren Inhalte zeitgemäß aufbereitet und sinnvoll vereinfacht wurden. Bald nach Erscheinen machte ich die Studenten am EBI und Geschwister in den Kirchen auf den neuen Katechismus aufmerksam. Die Idee wurde aufgegriffen. Die Wort-des-Glaubens-Kirche kümmerte sich um Übersetzung und Druck; ich arbeitete daran mit und steuerte u.a. Parallelstellen in den historischen protestantischen Bekenntnissen und Katechismen zum Weiterstudium bei.
Wie schon der Heidelberger ist auch der NCC eine hervorragende Zusammenfassung des Evangeliums. Drei recht unterschiedlich geprägte evangelische Kirchen – die charismatische Wort-des-Glaubens-Kirche, unsere reformierte und die junge und dynamische City Church in Klaipėda – sind die gemeinsamen Herausgeber. Sie bekennen sich auch offiziell zum Inhalt. Getragen von einem Geist der Freundschaft wird die Gute Nachricht nun noch besser bekannt gemacht. – Das erste von litauischen evangelischen Kirchen gemeinsam veröffentlichte ausführliche Glaubensdokument.
Offenheit
Seit 1997 sind wir eng mit der litauischen Studentenmission LKSB verbunden (entsprechende Bewegung in Deutschland ist die SMD). Seit 1999 ist LKSB Mitglied im Weltverband IFES (International Fellowship of Evangelical Students). In allen dort zusammengeschlossenen Bewegungen geht es in erster Linie um die Verkündigung und das Zeugnis des Evangeliums in den Hochschulen eines Landes. Wir leiteten abwechselnd die örtliche Hochschulgruppe und waren in verschiedenen Bereichen tätig. Seit 2009 leite ich den Vorstand, der die angestellten Mitarbeiter unterstützt, berät und beaufsichtigt und strategische Entscheidungen fällt. LKSB steht organisatorisch noch auf wackeligen Füßen – dauernde Herausforderung dieser und der kommenden Jahre.
Der evangelistische Geist ist in der LKSB lebendig – andernfalls wäre die Bewegung auch schnell wieder verschwunden. Die gute Nachricht ist nun, dass die Universitäten Litauens offen sind für die Aktivitäten der christlichen Studenten und LKSB-Mitarbeiter. Auch die von der katholischen Kirche bestellten Hochschulkaplane werfen keine Stöcke in die Beine. Für Hochschulwochen wie im Herbst 2013 in Kaunas oder 2014 in Vilnius bekommt man problemlos Räume und kann ganz frei sein Programm gestalten. Ein Highlight dieser Veranstaltungen war das „Markus-Theater“: eine Gruppe von jungen Laiendarstellern, überwiegend Studenten, führt den Inhalt des gesamten Markus-Evangelium auf. Die Idee stammt von Andrew Page, und zahlreiche IFES-Bewegungen arbeiten erfolgreich damit. Auch in Litauen wich in diesem Frühjahr schnell die Skepsis mancher, als sie sahen, wie interessant hier die biblische Botschaft präsentiert wird.
Interessierten wird die Teilnahme an „Christsein entdecken“ (Christianity Explored) angeboten. Dies ist ein hervorragender Einführungskurs in den christlichen Glauben, der sich ebenfalls auf Texte aus dem Markus-Evangelium konzentriert. 2014 brachte LKSB das gesamte Kursmaterial einschließlich einer DVD mit den Videoansprachen von Rico Tice heraus. Der Kurs ist ein wichtiges Werkzeug zur Evangelisation und gerade für Litauen geeignet, da er direkt in die Bibel hineinführt. Den Kirchengemeinden wurde „Christsein entdecken“ bei mehreren regionalen Veranstaltungen vorgestellt. Im Rahmen der LKSB wird er regelmäßig eingesetzt. Als eine Mitarbeiterin sich mit Teilnehmern in einer Mensa traf, kam jemand auf sie zu: „Was lest ihr denn da? Das interessiert mich. Kann man da mitmachen?“ Viele junge wie ältere Menschen in Litauen sind irgendwie christlich geprägt, getauft, gefirmt, kennen aber meist die Kerninhalte des Evangeliums nicht. Dies ist eine große Aufgabe und Chance für die Evangelischen im Land.
Stichwort Offenheit: Wie schon dargestellt sind biblisch gut begründete Positionen zu vielen aktuellen Fragen in Litauen eher Mangelware. Gerade wir als Protestanten können sie vorbringen und müssen sie erläutern, und tatsächlich sorgt Gott hier von Zeit zu Zeit für weit offene Türen.
Im Winter wurde ich von der Vorstandsleiterin des Litauischen Instituts für freie Marktwirtschaft (LLRI) in Vilnius gebeten, bei einem größeren Projekt zum Thema „Mangel“ mitzuarbeiten. Das LLRI ist die bekannteste und einflussreichste private Wirtschaftsforschungseinrichtung im Land. Mangel oder engl. „scarcity“ ist einer der Kernbegriffe der Volkswirtschaftslehre, bisher aber noch wenig untersucht. Vertreter zahlreicher Fachgebiete wie Philosophen und Psychologen nehmen teil. Im Frühjahr schrieb ich einen 40-seitigen Beitrag aus biblisch-theologischer Sicht. Im Mai und Juni stellte ich Mitarbeitern des Instituts Ergebnisse und damit auch eine reformatorische Weltsicht vor.
Indischer Philosoph: Der Westen soll zur Bibel zurückkehren
So lautete die Überschrift eines „idea“-Artikels in der vergangenen Woche. Die Nachrichtenagentur hatte mit dem Inder Vishal Mangalwadi, der im Juni u.a. St. Chrischona besuchte, ein Interview geführt. Vor kurzem brachte der „fontis Verlag“ aus Basel sein Das Buch der Mitte. Wie wir wurden, was wir sind. Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur heraus. Laut „idea“ ist der indische Philosoph davon überzeugt, dass der Niedergang des Christentums in der westlichen Welt sich aufhalten lässt, wenn sie zur Bibel zurückkehrt. Mangalwadi fordert Christen auf, sich von „falschen Theologen“ abzuwenden: „Dann ist eine neue Erweckung möglich.“
In Europa müssen wir demütig anerkennen, dass nun mehr und mehr christliche Denker aus den einstigen Missionsländern im Süden uns gleichsam den Spiegel vorhalten und Wege aus Krisen und Niedergang zeigen. Mangalwadi hat recht: Rückkehr zur Bibel ist das Gebot der Stunde, und gute Theologie ist zu pflegen und zu fördern. Diese wird immer zu intensiver Evangelisation führen, zu Verkündigung des Evangeliums. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen. Vielleicht ist dann ja auch in Litauen eine neue Erweckung möglich.