„Tag des Sieges“?
Polen, die Ukraine und kleinere Länder wie Litauen – sie gerieten vor einem dreiviertel Jahrhundert zwischen die Mühlsteine der größenwahnsinnigen Diktatoren und ihrer Vernichtungsapparate. Quer durch Europa zog sich ein blutiger Streifen: „Bloodlands“ wie Historiker Timothy Snyder seinen Abriss der mitunter grauenhaften Geschichte in den Ländern Zentraleuropas in den 30er und 40er Jahren passend nennt. In Relation zur Bevölkerung haben diese Staaten durch Krieg, Bürgerkrieg, Holocaust, Hunger und Vertreibung sogar noch mehr Opfer an Zivilisten zu beklagen als Deutschland oder Russland.
Die ganze Welt erinnert in diesen Tagen an das Ende des II Weltkriegs vor genau 70 Jahren. Natürlich gedenkt man auch in Zentraleuropa der Millionen Toten. Der 8. Mai ist in Litauen Gedenktag der Kriegsopfer. Aber in Feierstimmung ist keiner so recht. In Litauen sind die Veteranen der Roten Armee, fast alle Zugezogenen während der Sowjetzeit, meist ganz unter sich, wenn sie Blumen am 9. Mai an den vielen Grabstätten niederlegen (s. Bild o. zwischen Kathedrale und Rathaus in Šiauliai). Viele anderen feiern lieber den Europa-Tag (in Erinnerung an den Schuman-Plan vom 9. Mai 1950).
In Moskau dagegen wird geklotzt. Dort wird nicht still der Toten gedacht, sondern ein Sieg gefeiert, über die Nazis damals, den angeblichen Faschismus dieser Tage und das Böse allgemein. Heute marschieren über 16.000 Soldaten über den Roten Platz, hunderte Panzer und Raketen werden gezeigt – eine pompöse Siegesfeier in guter alter Ostblock-Tradition. Der chinesische Präsident ist zu Besuch, auch ein Siegertyp, natürlich auch der Kollege aus Kasachstan, jedoch kein Staats- oder Regierungschef der westlichen Welt. Litauen hat als einziger EU-Staat nicht einmal den Botschafter vor Ort zu den Feierlichkeiten geschickt.
Warum sollte man auch auf all das Orange-Schwarz schauen, die Farben des Georgsbandes, das frühere Zeichen des Sieges im Zweiten Weltkrieg, nun aber „Symbol eines neuen Russlands“, eines aggressiven und vor Kraft strotzenden Landes? Letztes Jahr erklärte Putin, er sehe im Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 „nichts Schlimmes“ – in dem Teufelspakt, der die kaltblütige Aufteilung Zentraleuropas zur Folge hatte. Wie will man an der Seite von so jemandem auch nur irgendetwas feiern?
Julia Smirnova schreibt in der „Welt“, eingangs Putin zitierend: „‘Wir sind ein Siegervolk. Das haben wir in den Genen.’ Diese Großmachtfantasie ist populär, denn sie lindert die Schmerzen nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums und verspricht eine Zukunft, die angeblich mindestens so glorreich sein wird wie die Vergangenheit. Die national-patriotische Rhetorik soll das Volk auf den starken Staat einschwören und hinter dem Präsidenten scharen.“
Vor diesem starken Staat hat man im Baltikum schlicht und einfach Angst, auch wenn der Nato-Schirm beruhigend wirkt. Nicht zufällig titelt das litauische Nachrichtenmagazin „Veidas“ in dieser Woche „Die Szenarien des Kriegs gegen Litauen“, im Bild ein russischer Präsident mit Schiffchen auf dem Haupt. Die Titelgeschichte legt ausführlich dar, wie die genauen militärischen Kräfteverhältnisse in der Region sind. Bisher kann nur von einer symbolischen Verteidigungsstärke der dortigen Nato-Kräfte gesprochen werden. Sind wir auf einen plötzlichen Angriff vorbereitet?, fragt das Journal besorgt.
Gewiss waren die drei Jahre deutsche Besatzung Litauens 41–44 kein Zuckerschlecken. Auch für das Baltikum waren Germanisierung und Ausbeutung vorgesehen. Die Rote Armee wurde jedoch im Sommer 1944 nicht als Befreier willkommen geheißen. Nach der ersten Besatzung 1940 wusste man genau, was nun kommen würde. Und so machten sich schon damals Zehntausende aus dem Staub gen Westen, darunter auch der spätere litauische Präsident Valdas Adamkus. Der kaum 18-Jährige floh nach Deutschland, von wo er in die USA emigrierte. Andere gingen 44/45 in den Untergrund und begannen einen blutigen Partisanenkrieg, dem gleich im ersten Jahr Tausende zum Opfer fielen.
Deutschland hatte das Glück, das es zu weiten Teilen von Westalliierten besetzt wurde. Insofern ist der berühmte Satz Richard von Weizsäckers natürlich richtig: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“. Für sein Land gilt dies gewiss, zumal sich auch in der sowjetischen Zone die diktatorische Fratze erst nach und nach zeigte (man denke an Ulbrichs berühmten Satz aus dem Jahr 1945: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“).
Erika Steinbach hat im Interview mit dem „Spiegel“ in der letzten Woche (19/2015) richtig dargestellt, dass der 8. bzw. 9. Mai nicht nur ein Tag der Befreiung war, nicht für alle in Europa. Die langjährige Leiterin des Bundes der Vertriebenen warnt darin vor einer einseitigen „westlichen Sichtweise“ auf die Geschichte: „Wenn auf den ‘Tag der Befreiung’ für die Betroffenen keine Freiheit folgt, ist es für sie auch kein ‘Tag der Befreiung’ gewesen. Und so war es für viele Menschen in der späteren DDR, im Baltikum, in Ungarn, in Polen und der Tschechoslowakei und auch in der Sowjetunion. Gerade aus menschenrechtlicher Perspektive ist es unabdingbar, auch der Sichtweise dieser Menschen mehr Gehör zu verschaffen… Die Völker Mittel- und Osteuropas gerieten nahtlos von einer Diktatur in die nächste.“
So wundert es nicht, dass diese Völker in diesem Jahr bei einer gemeinsamen Zeremonie in Danzig des Kriegsendes gedachten – und damit auch des Kriegsanfangs. Denn in Danzig, auf der Westerplatte, begann ja das jahrelange Metzeln; polnische Soldaten hatten hier sieben Tage lang der Wehrmacht standgehalten.
Die Initiative ging vom polnischen Präsident aus, und am Donnerstagnachmittag trafen tatsächlich acht Amtskollegen vor allem aus Mittel- und Osteuropa in der Ostseestadt ein. Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaitė nahm einmal wieder kein Blatt vor den Mund. Nicht zufällig erinnert sie an den Kriegsbeginn im September 1939, „weil diese schmerzhafte Lektion der Geschichte nie vergessen werden sollte“. Die Vorgänge 1939/40 werden in Russland beharrlich ausgeblendet, machte sich Stalin damals doch zum Kumpanen von Hitler. Grybauskaitė betonte, dass man der Erpressung eines „Aggressors“ nicht nachgeben dürfe. „Nach 70 Jahren sind Frieden und Stabilität in Europa aufs Neue in Gefahr. Diejenigen, die sich Sieger und Befreier Europas nennen, haben einen neuen Krieg gegen einen souveränen Staat begonnen, gegen seinen Willen, über seine Zukunft selbst zu entscheiden“ – alles an die Adresse Moskaus gerichtet. Der „postsowjetische Imperialismus“ sei heute die größte Gefahr für Europa, weshalb die EU-Sanktionen gegen Russland auch keinesfalls aufzuheben seien.
Auf faz.net kommentierte Reinhard Veser treffend:
„Anstatt das Verbindende der historischen Erfahrungen zu betonen, diffamiert Moskau jene, die an die dunklen Seiten der sowjetischen Kriegsführung erinnern, etwa die Deportation ganzer Völker wegen vorgeblicher Kollaboration. Balten und Polen, die in der Ausdehnung von Stalins Herrschaft über ganz Mittel- und Osteuropa keine Befreiung sehen können, wird vorgeworfen, Sympathisanten des Faschismus zu sein. Die propagandistische Gleichsetzung des Kampfs der prorussischen Separatisten in der Ostukraine mit dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung ist der bisherige Höhepunkt dieses zynischen Umgangs mit der Geschichte. Aus ihm spricht Verachtung für alle Opfer der totalitären Gewalt, auch für die russischen – und er schafft neue, für ganz Europa gefährliche Konflikte.“
[…] Zuerst erschienen auf lahayne.lt […]