Wunder im Supermarkt?
Seit der Aufklärung gab es manche Versuche, ein Christentum ohne Wunder zu konstruieren. Anfang des 20. Jahrhunderts verschärfte sich die Debatte zwischen liberalen und konservativen Theologen. 1922 plädierte Harry Emerson Fosdick in seiner berühmten Rede „Shall the Fundamentalists Win?“ (Werden die Fundamentalisten gewinnen?) für ein freiheitliches, tolerantes und modernes Christentum. Er bezeichnete diejenigen, die z.B. an dem Wunder der Jungfrauengeburt festhalten, als Fundamentalisten, die auf keinen Fall den Sieg in der Kirche erringen dürften.
Dem Baptisten Fosdick folgten andere radikale Stimmen wie später der Anglikaner John Shelby Spong, der Lutheraner Gerd Lüdemann oder der Katholik John Dominic Crossan. Natürlich muss auch Rudolf Bultmann genannt werden. Sein berühmtes Zitat:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ (Neues Testament und Mythologie, 1941)
Inzwischen ist es schon salonfähig geworden, ein zentrales Wunder im Neuen Testament wie die Jungfrauengeburt in seiner Bedeutung herunterzuspielen. Leitende Bischöfe, Ratsvorsitzende der EKD wie zuletzt Margot Käßmann und Nikolaus Schneider glauben nicht mehr an die Historizität dieses Wunders (C.S. Lewis dagegen: „kein Wunder ist von größerer Bedeutung als dieses“). Auf Seiten der „Emerging Church“ sind es Rob Bell (Velvet Elvis) oder auch Brian McLaren, die den Glauben an die Jungfrauengeburt zwar nicht direkt leugnen, jedoch für irrelevant halten und interessanterweise in weiten Teilen die Argumentation von Fosdick übernehmen: in der Kirche muss Platz für alle sein, egal, ob sie an die Jungfrauengeburt glauben oder nicht; und das heißt praktisch: sollen die radikalen Fundamentalisten doch den Mund halten und schließlich gehen.
Die Wunder, besonders die der Bibel, der Heilsgeschichte, haben heute oft einen schweren Stand. Der Mainstream in der akademischen Hochschulwelt ist weitgehend naturalistisch, materialistisch oder atheistisch-agnostisch geprägt – für übernatürliche Phänomene ist da wenig Raum. Zu Recht fühlen sich viele Christen durch diese Einstellung in ihrem Glauben bedroht, denn ohne echte Wunder bleibt vom Christentum nicht viel übrig.
„Mit Jesus leben, bedeutet ein Leben mit Wundern“
Neben die Leugnung zahlreicher Wunder steht jedoch auf der anderen Seite eine zumindest verbale Wunderinflation. Gerade aus dem Bereich der Esoterik und New Age/New Thought werden wir mit angeblich Übernatürlichem überschwemmt. All dieses Wundergeschwätz ist natürlich weitgehend nur eine Verkaufsmasche. Rhonda Byrne, N. D. Walsch, Joseph Murphy und andere wären leichter zu entlarven, wenn Christen heute eine klare und präzisere Vorstellung von Wundern hätten. Leider heizen sie diese Wunderinflation oft jedoch noch weiter an, indem man leichtfertig so gut wie alles zu einem Wunder macht. Wird der eigene Dienst häufig von Wundern begleitet, verschafft dies besonders im geistlichen Dienst Stehenden eine besondere Aura des göttlichen Segens. Im Informationsbrief einer angesehenen deutschen Missionsgesellschaft schrieb vor einigen Jahren ein Missionar:
„Jesus lebt. Er kümmert sich um uns, selbst um Kleinigkeiten. Mit Jesus leben, bedeutet ein Leben mit Wundern: Einmal beim Einkaufen hatte ich nur wenig Geld in der Tasche. Während ich durch den Laden streifte, betete ich, dass es für alles reicht. Ich rechnete innerlich mit, gab das aber bald auf, weil ich einfach zu viel einkaufen musste. An der Kasse jedoch gab es keine böse Überraschung. Jesus half, was ich an Geld hatte, reichte ganz genau. Nicht immer schenkt er solche Wunder. Manchmal bleibt die Realität hart: Krankheiten, Tod, Ungewissheit und Naturkatastrophen treffen auch Christen. Doch mit Jesus zusammen können wir da durch.“
Natürlich wird hier viel Wahres gesagt. Doch glaubt der Missionar wirklich, Gott habe durch tatsächliche Neuschaffung die Zahl der Münzen oder Scheine im Portemonnaie konkret vermehrt? Oder meint er, dass ganz gegen sein Erwarten das Geld auf seltsame, eben wundersame Weise ausgereicht hat? Doch wohl das Zweite. Gott half sicher, aber sollten wir immer dann, wenn wir Gottes Bewahrung, Führung und Beistand erleben, von einem Wunder reden? Und ist Christen wirklich ein „Leben mit Wundern“ verheißen? Was ist damit gemeint?
„Wenn wir Jahr und Jahr treu um Heilung beten…“
Nicky Gumbel ist Autor des populären Alpha-Kurses, in dem eine Lektion „Heilt Gott auch heute noch?“ überschrieben ist. Diese Frage ist etwas tendenziell gestellt, denn ein ernsthafter Christ antwortet gewiss mit Ja. Doch dies heißt nicht, dass alle Aussagen von Gumbel nun zu akzeptieren seien. Sicher sind Heilungen, wie er betont, nie ausgestorben. Wir dürfen erwarten, dass Gott auch heute noch heilt. Wunder geschehen. Aber die entscheidende Frage ist, ob Gott noch in genau dem gleichen Maße und auf die gleiche Art heilt oder heilen will, wie zu Apostelzeiten und ob er dies Christen versprochen hat. Dies wird, und das sollte man nicht verschweigen, unter Christen kontrovers diskutiert.
Gumbel meint: „Wenn wir Jahr und Jahr treu um Heilung beten, werden wir erleben, wie Gott heilt.“ (Questions of Life) Hier muss man skeptisch fragen: Woher weiß er das? Ist das eine biblische Zusage? Gott kann heilen, aber wird er es auch tun, wenn…? Ist unser Glaube zu schwach oder sind wir nicht treu genug, wenn Gott schließlich nicht heilt? Meist führt dies doch im Ergebnis zu einer Umdeutung von Heilung: ein Wunder muss dann unbedingt her, und jedes sich-besser-Fühlen wird dann als (Wunder-)Heilung ausgegeben. Heilungen im NT waren von ganz anderem Charakter (dazu gleich mehr).
Ähnliches ist zu Jack Deere zu sagen, dessen Bücher Suprised by the Power of the Spirit und Suprised by the Voice of God recht einflussreich sind. Deere polemisiert teilweise scharf gegen manche Christen, die er „Bibel-Deisten“ und „Bibel-Pharisäer“ nennt; sie hätten einen „theologischen Unglauben“ – Schläge unter die brüderliche Gürtellinie. Wer nicht genau die gleichen Zeichen wie zur Apostelzeit erwartet, hält die Bibel faktisch, so Deere, für wirklichkeitsfremd. Besser man erwarte zu viel von Gott, als zu wenig. Das klingt sehr fromm und läßt die anderen in der Ecke des Unglaubens (oder geringeren Glaubens) stehen.
Deere argumentiert für seine Position jedoch meist nicht mit sauberer Exegese und Theologie, sondern mit einer wahren Masse von persönlichen Erfahrungsberichten. So meint er, dass wir auch heute Totenauferweckungen wie in Apg 20,7f konkret erwarten sollen. Und dann kommt als Bestätigung eine Geschichte, in der jemand nach kurzeitigem Herzstillstand wieder zu Bewusstsein kam. Aber wo sind denn die Geschichten, wo jemand nach mehrtätigem klinischen Gehirntod wieder zum Leben findet? Das wäre ein Kandidat für ein Apostelwunder! Wie bei Gumbel wird hier der Wunderbegriff deutlich ausgeweitet. Praktisch geschieht hier also – trotz aller Rhetorik – nicht eine Hochschätzung des Wunders, sondern durch Inflation eine Geringschätzung.
„Auch der Satan hat seine Wunder“
Natürlich kennt die Bibel nicht wenige Wunderberichte. Die allermeisten Wunder im Neuen Testament sind dabei jedoch öffentlich, für jedermann zu sehen und vor allem zu überprüfen (so nennt z.B. Paulus in 1 Kor 15,5f genau die Zeugen der Auferstehung und fordert damit indirekt dazu auf, die Berichte zu überprüfen). Sie sind offen-sichtlich. Bei Heilungswundern zum Beispiel geht es um pathologische Schäden und ihre Heilung, die sofort und unmittelbar, nämlich auf Befehl erfolgt. Gott handelt hierbei nicht durch natürliche Mittel, sondern schöpferisch, d.h. durch Neuschaffung von Körpergewebe. All diese Punkte bilden eine hohe Schwelle für heutige Wunderheiler, die von ihnen meist nicht genommen wird. Wer in der gleichen ‘Liga’ wie Jesus und die Apostel spielen will, der unterliegt sehr strengen Auswahlkriterien!
Wie häufig geschehen Wunder? Norman Geisler hat in Miracles and the Modern Mind 260 Wunderberichte in der Bibel aufgelistet – das ist nicht wenig, aber für 66 Bücher doch nicht so viel, wie man vielleicht erwarten würde. Schon in der Bibel sind die Wunder nicht gleichmäßig gestreut, d.h. Wunder geschahen offensichtlich nicht in allen Zeiten gleich viel. Von Wundern wird uns über Jahrhunderte hinweg nichts berichtet (z.B. während des Aufenthalts der Hebräer in Ägypten). Auch Abraham und Mose verbrachten offensichtlich viele Jahrzehnte ohne Wundererfahrung. Wunder häufen sich zu bestimmten Zeiten (Auszug aus Ägypten, Jesus und Apostelzeit). Erst in den apokryphen Evangelien wie dem des Thomas nehmen die Wunder stark zu. So werden dem Kind Jesu Zaubertricks angedichtet.
Der US-Theologe Benjamin B. Warfield (1851–1921) wies darauf hin, dass es aus den ersten 50 nachapostolischen Jahren praktisch keine Wunderberichte gibt; erst im dritten Jahrhundert nahmen sie deutlich zu. Und das vor allem, weil mit den Massen viel heidnisches Gedankengut in die Kirche strömte. Warfield: „All die christlichen Legenden, die ab dem dritten Jahrhundert bis zum Mittelalter entstanden, sind in Motiv und teilweise bis in die Einzelheiten eine Wiederholung der heidnischen Legenden in christlicher Gestalt.“ (Counterfeit Miracles)
Warfield steht mit seiner relativen Skepsis in der Tradition der protestantischen Reformatoren. Für sie war die Frage nach Wundern in den scharfen Debatten zwischen den Konfessionen sehr aktuell. Johannes Calvin ging in der Vorrede der Institutio von 1536 an König Franz I von Frankreich darauf ein, dass die katholische Seite von den Evangelischen Wunder zur Bestätigung verlangte. Calvin weißt dies als unaufrichtig zurück und betont: „Wir haben keine neues Evangelium entworfen, halten uns vielmehr an das eine [Evangelium], dessen Wahrheit von allen Wundern Christi und der Apostel bestätigt wird.“ Anschließend greift er ironisch die Wundervielfalt auf römischer Seite an: „Mögen diese auch noch so außerordentlich wunderbar sein, so können sie doch der Wahrheit Gottes nichts anhaben…“ Er erinnert daran, dass „auch der Satan seine Wunder hat, obwohl sie eher Tricks als wahre Wunder sind.“ Wunder mussten herhalten, um Sekten und Götzendienst zu bestätigen. Die von der Gegenseite in Anspruch genommenen Wunder bezeichnet Calvin schließlich direkt als „bloße Täuschungen des Satans, insofern sie die Menschen von der wahren Anbetung Gottes abhalten…“
Es sollte zu denken geben, dass Wunder besonders im Katholizismus und der sog. Volksfrömmigkeit eine sehr wichtige Rolle spielen (Heiligenkult, Marienverehrung, wundertätige Bilder, Reliquien, Orte, Quellen etc.) und auch bei verschiedenen Sekten oft sehr wichtig sind (man denke z.B an die bizarren Wunder in der Geschichte der Mormonen). Die Epoche der Reformation dagegen ist geradezu wunderarm! Von Luther, Melanchton, Bucer, Calvin, Cranmer sind – wenn ich das recht überblicke – so gut wie keine Wunderberichte bekannt. (Dass es später auch zu einer protestantischen Legendenbildung, gerade um die Person Luthers herum, kam, steht auf einem anderen Blatt.)
In den protestantischen Bekenntnisschriften kommen Wunder natürlich vor, aber wo? Im Rahmen der Christologie (Jungfrauengeburt, Auferstehung) und der Erlösungslehre. Da der Mensch „nicht aus eigener Vernunft noch Kraft“ an Jesus Christus glauben, „oder zu ihm kommen kann“, ist ein direktes göttliches Eingreifen nötig. Luther weiter im Kleinen Katechismus: „der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten…“ Der Begriff Wunder fällt in diesem Zusammenhang in den Bekenntnissen meines Wissens nach nirgends. An anderen Stellen hat Luther dies aber als das „große Wunder“ bezeichnet. Denn geistlich Tote erweckt Gott wundersam zum Leben.
Wir sollen „von Gott Großes erwarten“, so heißt es oft. Und das ist so allgemein gesagt gewiss wahr, denn Er ist immer noch der Allmächtige. Aber was heißt dies denn in der Praxis? Wo genau sollen wir dies Große erwarten? Ist es unsere Aufgabe, wie Jesus an Tote heranzutreten und ihnen zu sagen „ich befehle dir: Steh auf!“? Ist wirklich ein Wunder dieser Art geschehen, wenn ein Bekannter dem Tod unerwartet von der Schippe springt? Ist es nicht vielmehr unsere Aufgabe, Gottes Wort zu verkündigen, denn er hat verheißen, vor allem dies zu benutzen, um geistlich Tote zum Leben zu rufen?
Wunder – eine „seltene Ausnahme“
Eine Theologie der Wunder muss ihren Anfang nehmen beim allgemeinen Handeln Gottes. Schließlich sind die beständigen Ordnungen Gottes das Normale, das wir täglich erfahren. Wunder stehen in keinem echten Gegensatz dazu. Sie sind einfach nur das besondere Handeln Gottes zu bestimmten, konkreten Zwecken, das den Rahmen dieser üblichen Ordnungen sprengt. Alexander A. Hodge (1823–1886) betonte, dass sie eben das Besondere sind:
„Wenn Gott seine Kräfte nicht selbst beschränkt hätte und in der Regel im Rahmen von bekannten Gesetzen ausführen würde; wenn wir in einer Welt leben würden, in der Wunder nicht die seltene Ausnahme, sondern die Regel wären, und in der Gott ständig mit seinen übernatürlichen Kraft eingreifen würde… – wir würden feststellen, dass alles überlegtes und intelligentes Handeln unmöglich wäre. Wir könnten Gott nicht verstehen, denn wir könnten nicht begreifen, welchen Zweck sein Handeln hätte.“ (Evangelical Theology)
Besondere „Zeichen“ Gottes haben ihren Raum, doch er ist eben nicht so groß, wie manche Missionsrundbriefe glauben lassen. Zum Glück handelt Gott allermeist nicht durch Wunder, denn sonst wären Wissenschaft, Forschung und Technologie unmöglich. Und es sei an dieser Stelle einmal bemerkt, dass die drei vielleicht wichtigsten Errungenschaften der letzten zwei Jahrhunderte historisch gesehen ‘Wunder’ sind, die aber nicht übernatürlicher Art waren; wir verdanken sie vielmehr dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt: die Lebenserwartung hat sich zwischen 1750 und 1950 vervielfacht; ab dem 19. Jhdt. war der Bevölkerungsanstieg in Europa und Nordamerika rasant, denn dank neuer Techniken in Industrie und Landwirtschaft konnten immer mehr Menschen ernährt werden; und aufgrund von Forschung und neuen Erkenntnissen konnten immer mehr Menschen früher todbringende Krankheiten überleben – vor allem blieben immer mehr Kleinkinder am Leben (Julian L. Simon zum Rückgang der früher äußerst hohen Kindersterblichkeit: die „größte historische Leistung der Menschen“).
Natürlich begleitet uns der Tod bis heute. Aber um Leben zu fördern, zu schützen und zu verlängern, benutzt Gott allermeist eben Wissenschaft, Forschung und Technologie in Menschenhand. Wer die Erfolge dieser drei verachtet, beleidigt letztlich auch Gott. Das „Leben mit Wundern“, nämlich den inzwischen oft selbstverständlich gewordenen Wundern der Technik, geschieht tatsächlich.
Richard Swinburne unterstreicht deshalb dasselbe: „Gott hat Grund, die natürliche Ordnung nicht zu oft zu verletzen“, denn Menschen haben, so der britische Religionsphilosoph, nur unter den Bedingungen einer regelmäßigen Ordnung mit festen Regeln die Möglichkeit „die Welt weiterzuentwickeln und schwierige Probleme einer selbst gefundenen Lösung zuzuführen“. Er führt aber auch einen guten Vergleich an:
„Es wäre aber nicht unvernünftig, wenn man von Gott gegenüber den Menschen ein ähnliches Verhalten erwartete, wie es gute Eltern gegenüber ihren Kinder zeigen, wenn diese in ernste Schwierigkeiten geraten sind. Gelegentlich helfen sie ihnen aus natürlichem Antrieb, besonders aber wenn sie darum gebeten werden, aus den Schwierigkeiten heraus. Meist jedoch lassen sie ihre Kinder die üblen Folgen ihres Verhaltens spüren und überlassen es ihnen, damit fertigzuwerden, damit sie so durch Erfahrung lernen.“ (Die Existenz Gottes)
Um z.B. den Umgang mit Krankheiten zu lernen, heilt Gott nur ausnahmsweise übernatürlich, also sehr selten außerhalb der gewohnten Ordnung. J. Gresham Machen (1881–1937) führte aus:
„Wer an das Übernatürliche glaubt, betrachtet alles, was geschieht, als Werk Gottes. Er glaubt, dass Gott bei den Geschehen, die als natürlich bezeichnet werden, Mittel benutzt; dagegen benutzt er bei den als übernatürlich bezeichneten Werken keine Mittel, zeigt vielmehr direkt seine schöpferische Macht. Die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen ist daher die Unterscheidung zwischen Gottes Werk der Vorsehung und Gottes Werk der Schöpfung: ein Wunder ist ein Werk der Schöpfung, genauso wie die geheimnisvolle Schöpfung, die zur Entstehung der Welt führte.“ (Christianity and Liberalism)
Dem presbyterianischen Theologen ist im Grundsatz zuzustimmen. Doch was ist ein unmittelbares und direktes Eingreifen Gottes? Dies ist in manchen Fällen wie natürlich der Auferstehung Jesu und auch bei manchen seiner Wunder recht klar: Gott schuf neue Materie. Bei manchen Wundern wie der Teilung des Meeres beim Auszug des Israeliten aus Ägypten benutzte Gott dennoch ein Mittel, nämlich den Wind (Ex 14,21). In Ps 106,9 wird eindeutig ausgesagt, dass Gott selbst dies tat. Oder man denke an den Pfeil, der König Ahab traf (1 Kön 22,34). Dieser folgte den Naturgesetzen, Gott benutzte also dieses Mittel. Dennoch könnte man auch sagen, dass wie durch ein Wunder ausgerechnet der König getroffen wurde. In Ps 104,14 wird das Pflanzenwachstum direkt Gott zugeschrieben. Uns ist aber allen klar, dass Gott dafür die bekannten biologischen Prozesse benutzt. In Jos 3,16 wird berichtet, dass der Jordan austrocknete – heute weiß man: wahrscheinlich wurde der Fluss durch eine Schlammlawine aufgestaut. Ein letztes Beispiel: In Jak 5,17–18 wird berichtet, dass Gott auf das Gebet des Elias hin es jahrelang nicht regnen und dann wieder regnen ließ. Auch dies war natürlich Gottes direktes Handeln, also sicher ein Wunder, aber höchstwahrscheinlich im Rahmen der Naturgesetze.
Den gleichen Akzent setzt der Physiker C. Humphreys: „Ich denke, in vielen Fällen wirkt Gott im Einklang mit der Natur, um seine Wunder zu vollbringen… Ganz ab und zu hat es aber auch den Anschein, dass Naturgesetze durchbrochen werden, dass Gott also in sehr spezieller Weise handelt. Beide Arten von Ereignissen würde ich Wunder nennen“. Der in Cambridge und London lehrende Professor hat ein Buch über die Wunder der Exodus-Geschichte geschrieben (The Miracles of Exodus) und sie dabei aus Sicht eines Naturwissenschaftlers behandelt. Sein Resumee:
„In vielen Fällen bin ich der Meinung, dass es sich um natürliche Vorgänge handelt. Und ich habe sogar die Vermutung, dass auch die Israeliten sie für natürliche Vorgänge hielten, aber trotzdem daran glaubten, dass es Wunder Gottes waren. Das wirklich Wunderbare in diesen Fällen war das Timing. Das zeigt, dass Gott mit der Natur und mit Menschen arbeitet, um seine Zwecke zu erreichen.“ (Interview, www.evangelisch.de)
Alle Taten Gottes sind also in gewissem Sinne unmittelbar, und bei vielen Wundern benutzt Gott Mittel. Dies zeigt, dass die Bibel Wunder vom gewöhnlichen Wirken Gottes nicht scharf trennt. Denn in gewisser Weise geschieht alles um uns herum durch Gottes Hand. Daher ist ja auch die Schöpfung eine Art Wunder. An einigen Stellen in den Psalmen (z.B. Ps 107 und 136) wird ein sehr weiter Wunderbegriff gebraucht, das natürliche Handeln Gottes einschließend. In Ps 139,13–14 wird konkret die Schöpfung des Menschen in die „wunderbaren“ Werke eingereiht. Auch im Buch Hiob finden sich solche Passagen (Job 9,9–10 oder 37,14f über das Wetter).
Die Linie zwischen dem gewöhnlichen und dem außerordentlichen Handeln ist also nicht so scharf zu ziehen wie es der Grundsatz von Machen vermuten lässt. Wir sehen also, dass „Wunder“ durchaus unterschiedlich definiert werden kann ohne den biblischen Rahmen zu verlassen. Tatsächlich kann also auch das ausreichende Geld an der Kasse in einem weiten Sinn als ein Wunder bezeichnet werden. Bewahrung im Verkehr, unerwarteter Prüfungserfolg, finanzielle Hilfe gerade zur Zeit der Not – manchmal in solchen Fällen von Wundern zu reden ist verständlich; wir geben damit zu verstehen, dass wir darin Gottes Handeln erkennen und danken ihm. Man denke an die Fälle, wenn Menschen aus wundersamen Gründen nicht in Züge, Flugzeuge, auf Schiffe gelangten, die dann verunglückten; kein Wunder im strengen, d.h. engen Sinne, aber Gott selbst hat die Umstände so gefügt.
Jüngst portraitierte der „Spiegel“ den Holocaust-Überlebenden Noah Klieger (16/2015). Die Lebensgeschichte des Journalisten, der immer noch seinem Beruf nachgeht, ist wirklich filmreif. Drei Konzentrationslager und mehrere Todesmärsche überlebt! In Auschwitz wagte er es bei einer Selektion, Lagerarzt Mengele direkt anzusprechen und rettete so sein Leben. Wie konnte er überleben? „Weil Gott Wunder an mir tat“, so der wenig Religiöse. Kein direktes übernatürliches Eingreifen, doch solch mehrfache wundersame Bewahrung verdient wahrlich diese Deutung.
Man kann also einen weiteren Wunderbegriff gebrauchen, doch Zurückhaltung ist geboten. Der Wunderbegriff ist eben theologisch stark ‘aufgeladen’, d.h. er impliziert ein ganz besonderes Eingreifen Gottes. Grundsätzlich sollte man dem biblischen Gebrauch folgen, die ja auch nicht inflationär von Wundern spricht und in der die Gläubigen kein ständig von Wundern begleitetes Leben führten. Christlicher Glaube ist von Wundern nicht zu trennen, doch Christen müssen nicht an möglichst viele Wunder glauben. Wenn Christen daher Wunderberichte kritisch und sorgfältig prüfen, und sei es die von Glaubensgeschwistern, ist dies nur verantwortungsvoll. Der pauschale Vorwurf „Glaubst du etwa nicht an Wunder?!“ ist meist fehl am Platz.
Allgemeine und besondere Vorsehung
Neben den Akzenten in Christologie und Erlösungslehre wird in den Bekenntnisschriften der Blick geweitet für Gottes wundersames Handeln in der ganzen Schöpfung. Dies wird meist im Artikel über Gottes „Vorsehung“ behandelt. Im Westminster-Bekenntnis heißt es z.B.:
„Gott, der große Schöpfer aller Dinge, erhält, lenkt, ordnet und regiert alle Geschöpfe, Handlungen und Dinge vom Größten bis zum Kleinsten durch seine höchst weise und heilige Vorsehung, nach seinem unfehlbaren Vorherwissen und dem freien und unabänderlichen Ratschluß seines eigenen Willens zum Preis der Herrlichkeit seiner Weisheit, Macht, Gerechtigkeit, Güte und Barmherzigkeit.“ (5,1; s. auch im Zweiten Helvetischen Bekenntnis, Art. VI; im Niederländischen Bekenntnis, XIII)
Die gleichen Aussagen macht der Heidelberger Katechismus in Fr. 26–28, wobei hier noch deutlicher wird, was dies für uns bedeutet:
„27. Was verstehst du unter der Vorsehung Gottes? Die allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes, durch die er Himmel und Erde mit allen Geschöpfen wie durch seine Hand noch erhält und so regiert, dass Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre, Essen und Trinken, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut und alles andere uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt. 28. Was nützt uns die Erkenntnis der Schöpfung und Vorsehung Gottes? Gott will damit, dass wir in aller Widerwärtigkeit geduldig, in Glückseligkeit dankbar und auf die Zukunft hin voller Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater sind, dass uns nichts von seiner Liebe scheiden wird, weil alle Geschöpfe so in seiner Hand sind, dass sie sich ohne seinen Willen weder regen noch bewegen können.“
Kevin DeYoung dazu: „Die Definition, die uns der Heidelberger Katechismus für Gottes Vorsehung liefert, ist einfach überwältigend. Alle Dinge erhalten wir nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand… Wenn Gott der Schöpfer aller Dinge ist, und wenn er wirklich allmächtig ist, dann wird er sich auch über alles, was er erschaffen hat, als allmächtig erweisen. Und wenn Gott ein Vater ist, dann wird er seine Autorität über die gesamte Schöpfung auch ganz sicher für das Wohl seiner geliebten Kinder einsetzen.“ (The Good New We Almost Forgot)
Ähnlich schreibt Luther im Großen Katechismus über den 1. Artikel des Glaubensbekenntnisses (von der Schöpfung), dass Gott „mir Leib, Seele und Leben, die kleinen und großen Gliedmaßen, alle Sinne, Vernunft und Verstand usf. gegeben hat und fortwährend erhält, ebenso Essen und Trinken, Kleidung und Nahrung, Frau und Kind, Haus und Hof usf.“ Wir sollen lernen, „dass niemand von uns das Leben und alles, was hier aufgezählt worden ist und noch aufgezählt werden kann, von sich selber hat und erhalten kann, wie klein und gering es auch sein mag.“ Gott ist der Geber und der Erhalter von Allem. Alles Sein ist grundlegend gefährdet, schwebt gleichsam über dem Nichts, doch Gott ist derjenige, der alles Dasein erhält, garantiert, lenkt. Auch dies ist ein großes Wunder. Und dies gilt für alle Menschen, ob nun gläubig oder nicht.
Luther betonte wie schon Augustinus: die ganze Schöpfung ist ein Wunder (ein Wunder in weiterem Sinne). Drastische, offen-sichtliche Wunderphänomene (Wunder im engeren Sinne) sollen dafür die Augen öffnen. Gott ist immer in unseren Leben aktiv, nicht nur, wenn wir die eigentlichen Wunder sehen. Gott ist aktiv, wenn er aus Saft im Gärungsprozess Wein werden lässt, wie wenn er aus Traubensaft direkt Wein macht. C.S. Lewis: „Gott erschuf die Rebe und lehrte sie, mit ihren Wurzeln Wasser aufzusaugen und mit Hilfe der Sonnenstrahlen dieses Wasser in einen Saft umzuwandeln, der beim Vergären ganz bestimmte Eigenschaften annimmt. So wird Jahr für Jahr, von Noahs Zeiten bis heute, Wasser in Wein verwandelt. Dafür müssten den Menschen die Augen aufgehen!“ („Wunder“ in Gott auf der Anklagebank)
Die Lehre von der Vorsehung Gottes ist neu zu entdecken. Wie besonders der Heidelberger Katechismus sehr gut deutlich macht, ist sie auch von großer persönlicher Relevanz. Und gerade hier werden auch die Weichen im Hinblick auf die Wunder gestellt: Lenkt und kontrolliert Gott nicht mehr das gesamte Geschehen, ist er allgemein nicht mehr aktiv, nimmt man Abschied von der allgemeinen Vorsehung, dann ist auch die besondere Vorsehung, die übernatürlichen Wunder, nicht aufrechtzuhalten. Wir müssen daher die Vorsehung verteidigen, um die uns teuren Wunder zu schützen. Und schätzen wir als Christen die Vorsehung wieder hoch, dann erweitern wir unser sprachliches Repertoire enorm. Es muss dann nicht bei jeder Gelegenheit von Wundern geredet werden. Geht es um unseren Alltag, um „Essen und Trinken, Gesundheit und Krankheit“, um Einkaufen und Autofahren, um die Haare auf dem Kopf und das Geld in der Tasche, so ist die Rede von Gottes Vorsehung immer angemessen. Die von Wundern nicht unbedingt.