Letztes und Vorletztes

Letztes und Vorletztes

David war ein großer König Israels, erfolgreich auf dem Schlachtfeld und Gott sein Leben lang treu. Doch in der Familie lief vieles nicht rund. So war er manchmal ein Zauderer, ließ die Nachfolgefrage lange offen. Schließlich setzte sich Salomo, auch dank seiner Mutter Batseba, im Ringen um den Thron durch. Salomo gelangte aber nicht nur durch Machtpolitik zur Herrschaft. Gott wollte ihn auf dem Thron und lenkte die Ereignisse. In 2 Sam 12,24 heißt es über den gerade geborenen Salomo: „Und der Herr liebte ihn“. Und diese Beziehung war keine einseitige: „Salomo aber hatte den Herrn lieb und wandelte nach den Satzungen seines Vaters David“ (1 Kön 3,3).

In Gibeon, ein paar Kilometer nördlich von Jerusalem, erschien ihm Gott selbst im Traum. Traditionell wird der ganze Abschnitt in 1 Könige 3 oft „Salomos Gebet um Weisheit“ überschrieben. Salomo war wohl etwa Anfang 20 (vielleicht aber auch noch deutlich jünger), als er den Thron seines Vaters bestieg. Er nennt sich selbst „noch jung“ (3,7), hält sich also für zu wenig reif für das hohe Amt. Er sieht die Schwere der Regierungsaufgabe und fühlt sich dieser Verantwortung nicht gewachsen. Drei Mal bezeichnet sich Salomo in dem Abschnitt als „Knecht“ Gottes. Er drückt damit echte Demut aus, mit einem Wort: Ich brauche Hilfe von dir, Gott!

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Nicolas Poussin, Das Urteil des Salomo

Ein völlig anderes Bild zeigt sich beim Nachbarn im Westen, in Ägypten. Die ägyptischen Pharaonen wie Echnaton („Glanz des [Gottes] Aton“) einige Jahrhunderte vor Salomo sahen sich als Gottessöhne und Mittler des Heils. Sie gaben sich eindrucksvolle Titel wie „Zerschmetterer“ oder „Balken der Erde“. Echnatons Vater Amenophis III nannte sich „die glänzende Sonnenscheibe der Länder“ und rühmte sich: „Ich schuf Größe ohne Ende“. Doch die Größe hatte – welch bittere Ironie – bald ein Ende: die 18. Dynastie starb mit Echnatons Sohn Tutanchamun aus.

Bemerkenswert in der Vision ist Gottes ungewöhnliche Einladung in Vers 5: „Bitte, was ich dir geben soll!“ – Ein göttlicher Blankocheck! Doch Salomo zeigt seine frühe Reife gerade darin, dass er um Weisheit bittet. Sokrates betonte, dass der wahrhaft Wissende um sein immer noch großes Unwissen weiß, und genauso begreift auch der wirklich Weise, dass es ihm immer noch an Weisheit mangelt.

Salomo bittet Gott einzig um ein „gehorsames“ oder auch offenes und aufnahmebereites Herz (V. 9). Denn das Fundament der Weisheit ist das Hören, der Gehorsam oder in den Worten von Ps 111,10 die „Furcht des Herrn“. Darauf aufbauend meint Weisheit auch Verständnis, Einsicht und Kenntnisse. Der König bittet um Verstand für seine konkrete Regierungsarbeit („damit er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist“). Seine Politik will eine gottesfürchtige, weise und rationale sein.

Gerade Letzteres erscheint uns heute als selbstverständlich, doch in der Antike war dieses Ideal einer Herrschaft nach vernünftigen Grundsätzen etwas radikal Neues. In den Staaten des Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Griechenland und Rom, waren Astrologie und Zauberei feste Bestandteile der Politik. Vor allen wichtigen Entscheidungen wurden die Sterne gefragt, der Vogelflug gedeutet oder man las die Zukunft aus den Innereien von Tieren. Auch aus Getränken wurde die Zukunft gedeutet (s. Gen 44,5; Hes 21,26).

Salomo setzt die richtigen Prioritäten und wählt das Erstrangige. Leben und Gesundheit, Reichtum und Wohlstand, Ehre und Ansehen sind für ihn untergeordnet zu Hören und Gehorsam, Weisheit und Einsicht.

Um unsere Ambitionen und Prioritäten geht es dann auch in Jesu Bergpredigt, Mt 6,19f. In V. 30–33 heißt es dort: „Wenn Gott die Feldblumen, die heute blühen und morgen ins Feuer geworfen werden, so herrlich kleidet, wird er sich dann nicht erst recht um euch kümmern, ihr Kleingläubigen? Macht euch also keine Sorgen! Fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um diese Dinge geht es den Heiden, die Gott nicht kennen. Euer Vater im Himmel aber weiß, dass ihr das alles braucht. Es soll euch zuerst um Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit gehen, dann wird euch das Übrige alles dazugegeben.“

Hier wird das Trachten nach dem Reich Gottes eindeutig an die erste Stelle gesetzt. Das sorgenvolle Sehnen und direkte Greifen nach den materiellen Gütern wird als heidnisch verworfen – weil es unnötig ist. Denn der Abschnitt macht ja ebenfalls deutlich, dass die zweitrangigen Dinge – hier die materielle Versorgung mit Essen, Trinken und Kleidung – nicht unwichtig und nicht zu verwerfen sind. Gott gibt auch diese! Und weil Gesundheit, Wohlstand, Ansehen an sich nicht von übel sind, gibt Gott sie auch dem Salomo.

„Leben im Vorletzten, das auf das Letzte wartet“

Vor siebzig Jahren, am 9. April 1945, wurde Dietrich Bonhoeffer von den Nazis hingerichtet. In einem Abschnitt seiner während des Krieges entstandenen Ethik (die leider unvollendet bleib) hat der große deutsche Theologe diese biblische Linie weitergezogen und eine gute begriffliche Unterscheidung eingeführt. Die erstrangigen Dinge – die Rechtfertigung aus Glauben, das Reich Gottes, das ewige Leben – nennt der deutsche Theologe „das Letzte“;  „das Vorletzte“ ist unser Leben als Menschen in den irdischen Ordnungen. Diese werden einmal nicht mehr sein, weshalb sie eben nur das Vor-letzte sind. Dazu gehören die Ehe und die biologische Vermehrung, die irdische Arbeitswelt und die zivile Obrigkeit.

Der „Radikalismus“ hat in Bezug auf das Letzte seinen Platz. Nachfolge Jesu ist nämlich radikal: du sollst „ihm [Gott] allein dienen“ (Mt 4,10); unsere Aufmerksamkeit ist „einzig und allein auf Jesus Christus zu lenken“ (1 Kor 2,2); „ach, daß du kalt oder warm wärest!“ (Off 3,15). Ein falscher Radikalismus verwirft jedoch das Vorletzte ganz (wie es in der Kirchengeschichte immer wieder Strömungen gab, die Staat, Familie oder Eigentum verwarfen oder geringschätzten). Der Ausgleich ist in Bereichen des Vorletzten wichtig, aber eine „andere falsche Lösung ist der Kompromiß“, so Bonhoeffer. Damit meinte er: Diese Art von Kompromiß leugnet das Letzte, schiebt es ins Jenseits ab; allein die Dinge dieser Welt geben den Ton an; christliche Normen kommen nicht mehr in die Quere. Bonhoeffer weiter:

„Beide Lösungen sind in gleicher Weise extrem und enthalten in gleicher Weise wahres und falsches… Beides sind unerlaubte Verabsolutierungen an sich gleich richtiger und notwendiger Gedanken. Die radikale Lösung denkt vom Ende aller Dinge, von Gott dem Richter und Erlöser, her, die Kompromißlösung denkt vom Schöpfer und Erhalter her; die einen setzen das Ende absolut, die anderen das Bestehende. So gerät Schöpfung und Erlösung, Zeit und Ewigkeit in einen unauslösbaren Widerstreit, und so wird die Einheit Gottes selbst aufgelöst, der Glaube an Gott zerbricht.“

Bonhoeffer betont, dass „Letztes und Vorletztes eng miteinander verbunden sind“. Wer das Letzte wählt, dem wird auch das Vorletzte geschenkt. Wer auf die Ewigkeit ausgerichtet ist, der wird in dieser Welt verändernd und segnend wirken. Wer wie Salomo im Glauben und Gehorsam nach der Weisheit von Oben trachtet, der wird sich auch in die Tiefe unserer Probleme wagen, um dort zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (s. 1 Kön 3,16f!). Salomo strebte nach einer gerechten irdischen Herrschaft im Licht des ewigen Gottes. Genauso ist auch das christliche Leben, so Bonhoeffer, „immer auch Leben im Vorletzten, das auf das Letzte wartet“.

Bonhoeffer engagierte sich im politischen Widerstand gegen Hitler, was ihm das Leben kostete. Er stand nicht in Gefahr, das Vorletzte zu verachten. Ferdinand Schlingensiepen über Bonhoeffer im Interview mit der „Welt“: „Bonhoeffer hat mit Leidenschaft gefordert, wir sollten unser Leben auf Erden keinesfalls mit Gedanken an den Himmel verträumen. Ihm ging es um eine doppelte Bereitschaft: Wir sollen bereit sein für die Ewigkeit, aber auch offen für alle Schönheiten dieser Erde und bereit für die Aufgaben, die uns hier gestellt sind.“

„Everything Must Change“?

Geradezu prophetisch sah Bonhoeffer die Gefahr, dass der „christliche Kompromißgeist“ die Kirche infiziert. Danach hat das göttliche Gebot bei der „Gestaltung des Lebens in der Welt“ nicht mehr mitzureden. „Schon die Frage nach dem Letzten, der Versuch das Wort Gottes in seiner Autorität für das Leben in der Welt geltend zu machen, gilt nun als Radikalismus, als Lieblosigkeit gegen die gegebenen Ordnungen der Welt…“ Bonhoeffer skizziert hier die Gefahr der Anpassung und des Konformismus. „Fanatiker“, so der katholische Apologet Peter Kreeft, „ist heute die größte Beleidigung der modernen Gesellschaft – besonders im Zusammenhang mit ‘religiös’.“ (Ecumenical Jihad) Wir lieben nun den Ausgleich, die goldene Mitte und die Anpassung – aber leider vor allem dort, wo Radikalität nötig wäre. John Stott nannte sein letztes Buch nicht zufällig The Radical Disciple, der radikale Jünger. Die Gemeinschaft der Jünger, die Kirche, soll radikal auf das Letzte ausgerichtet sein.

Kompromißlosigkeit ist die entgegengesetzte Gefahr im Bereich des Vorletzten. Es gibt den weltflüchtigen christlichen Radikalismus, aber auch die „weltverbessernde“ Variante, so Bonhoeffer weitsichtig. Beide kommen „aus dem Haß gegen die Schöpfung“. Als Beispiel sei hier nur ein radikaler Pazifismus genannt, der mit der Bergpredigt direkt Politik betreiben will und dem Staat das Recht auf Gewaltanwendung abspricht. Bonhoeffer dazu in der Nachfolge:

„Es wäre in der Tat alles bare Schwärmerei, was Jesus seinen Nachfolgern [in der Bergpredigt] sagt, wenn wir diese Sätze als allgemeines ethisches Programm zu verstehen hätten, wenn der Satz, dass das Böse allein durch das Gute überwunden wird, als allgemeine Welt- und Lebensweisheit aufzufassen wäre. Es wäre in der Tat unverantwortliches Phantasieren von Gesetzen, denen die Welt niemals gehorcht. Wehrlosigkeit als Prinzip des weltlichen Lebens ist gottlose Zerstörung der von Gott gnädig erhaltenen Ordnung der Welt.“

Verachtung der gegebenen Ordnungen finden wir heute besonders in den Schriften vieler Linksevangelikaler, die die gesellschaftliche Verantwortung und soziales Engagement großschreiben. Übernahme von Verantwortung in der Welt ist geboten und wurde von Bonhoeffer auch vorgelebt. Die falsche Weltverbesserung ist hingegen von einer manchmal anmaßenden Kompromißlosigkeit gekennzeichnet. So fordern Shane Claiborne und Tony Campolo eine Jesus-Revolution, was noch sympathisch klingt. Doch berühren sie gesellschafts- und wirtschaftspolitische Themen, sollte man ihnen sehr kritisch begegnen, ja man wünscht sich, Gott möge uns bewahren vor solchen „Ordinary Radicals“ an den Schalthebeln der politischen Macht, denn schwärmerisches Gerede von einer „Spiritual Economy“ oder einer „Economy of Love“  löst unsere politischen Probleme kaum.

Auch Brian McLaren, ein Vordenker der „Emerging Church“, meint nicht unbescheiden: Everything Must Change – alles müsse sich ändern (der dt. Titel nüchterner: Höchste Zeit umzudenken). Unserer demokratischen und freiheitlichen Ordnung drückt er den Stempel „Selbstmordsystem“ auf, ruft zu einem wahrlich radikalen Systemwechsel auf. Hier wird das Vorletzte natürlich nicht direkt verworfen, im Gegenteil: es wird ja behauptet, dass es einem am Herzen liege. Doch dieser falsche Radikalismus nimmt die irdischen Ordnungen und ihre Wirkprinzipien in einer gefallenen Welt tatsächlich nicht ernst – „unverantwortliches Phantasieren von Gesetzen, denen die Welt niemals gehorcht“. (Wie man die irdischen Ordnungen ernst nehmen und kreativ über christliche Einflussnahme nachdenken kann, zeigen beispielhaft das Jubilee Centre in Großbritannien oder das Acton Institute in den USA.)

Natürlich darf das Bestehende nicht absolut gesetzt werden (s.o. Bonhoeffer), also unangetastet bleiben. Die bestehende Welt wird in ihrer faktischen Gestalt nicht einfach bestätigt. Schließlich steht sie unter dem Urteil Christi. Doch Vernichtung und Zerstörung durch Systemrevolutionen sind genauso wenig Alternativen. Hiermit wird nur das Vorletzte ins Letzte gezerrt bzw. diesem übergestülpt; die Spannung zwischen dem heilsgeschichtlichen „schon–noch nicht“ wird zugunsten des „schon“ aufgelöst, das Diesseits aufgehoben bzw. vom Jenseits verdrängt – das klassische Problem aller schwärmerisch-utopistischen Heilslehren, ob nun christlich oder säkularisiert wie der Kommunismus (engl. „over-realized eschatology“).

Bonhoeffer sprach von „Wegbereitung“ des Letzten im Vorletzten, die unsere Aufgabe sei. Dabei geht es nicht „um die Verwirklichung eines socialen Reformprogramms“, sondern um Wegbereitung für das Wort. Diese Wegbereitung geschieht meist unspektakulär, sicher nicht  revolutionär. Immer dann, wenn jemand persönlich zuerst nach Weisheit strebt und sich Ansehen und Macht schenken lässt; wenn jemand zuerst nach dem Reich Gottes trachtet und  den irdischen Sorgen keine Macht über sich gibt; wenn jemand in den Ordnungen, in Banken und Betrieben, Gerichten und Geschäften, Kanzleien und Kasernen, seiner Berufung folgt, auf Erden den Mitmenschen treu dient, weil er oder sie nämlich auf das Letzte schaut.

„Wer hält stand?“ fragt Bonhoeffer an der Jahreswende 1942/43 (in Widerstand und Ergebung). In der Antwort liefert er ein eindrückliche Skizze eines „Lebens im Vorletzten, das auf das Letzte wartet“: „Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?“