Biblische Ethik und antike Religionen
Moralische Vorschriften welcher Art auch immer gibt es in jeder Gesellschaft, und jede Religion kennt auch in gewissem Sinne eine Ethik. Heute wird gern die Ähnlichkeit der ethischen Grundsätze in den Religionen betont, ist viel von einer „globalen Ethik“ aller Religionen die Rede. Natürlich gibt es viele dieser Parallelen, doch historisch gesehen hat der französische Philosoph (und Atheist) Luc Ferry ebenfalls recht: „In moralischer Hinsicht hat das Christentum eine echte Revolution ausgelöst.“ (Apprendre à vivre)
Doch begann diese Revolution, um genau zu sein, schon viel früher, im Alten Testament. John N. Oswalt zeigte in The Bible Among the Myths, dass sich die Religion und Ethik des ATs grundlegend von der der umgebenden Völker unterschied. Die Bibel verankert nämlich, und das ist einzigartig, die moralischen Werte in der Person Gottes selbst, eines einzigen Gottes. Nichts dergleichen taten die Religionen der heidnischen Antike, die ja alle polytheistisch waren. Da es nur einen Gott gibt, dieser ein bestimmtes Wesen hat und dieser Gott die Welt geschaffen hat, so gibt es auch einen obersten Standard, nämlich den Willen Gottes.
Oswalt stellt dar, dass ‘Sünden’ gegen die Götter damals bei den Heiden aus falschem Verhalten im Bereich von Kult, Ritus und Magie bestanden: „Vergehen gegen die Götter hatte nichts mit dem Verhalten unter den Menschen zu tun“. Auf der anderen Seite hatte zwischenmenschliches Verhalten keine höhere, religiöse Bedeutung: „Vergehen unter den Menschen wurden einzig nach den überlieferten Maßstäben von Kultur und Gewohnheit beurteilt.“
Die biblische Ethik gründet dagegen auf dem Gedanken des Bundes des einen Gottes mit den Menschen, der diese in die ethische Verantwortung ruft. Die strenge Unterscheidung von kultischer und sozialer Sünde ist aufgehoben. Oswalt: „Im Mosaischen Bund ist der ganze Komplex des menschlichen Verhaltens, ob nun kultisch, sozial oder persönlich, Ausdruck von Gehorsam oder Ungehorsam Gott gegenüber.“ Auch das soziale Verhalten hat religiöse Bedeutung, ja kann sogar oft wichtiger sein als der Opferdienst. Daher sind z.B. auch in Lev 19 kultische, soziale und persönliche Vorschriften bunt vermischt. Damit wird unterstrichen: alle Gebote des Bundes bilden eine Einheit und ruhen auf dem einen Grundsatz: der Liebe zu Gott. Eine große Klammer um alle Gebote wie Dt 6,5 kennen die heidnischen Religionen eben nicht.
Natürlich haben viele in der Antike die Schwächen ihrer Religion gesehen. So kritisierten die Griechen bald ihre Religion, und griechische Philosophen entwickelten ja ganze ethische Systeme. Man darf aber eins nicht übersehen: Man wandte sich mit der Frage, wie man sich in der Welt, mit dem Mitmenschen, verhalten sollte, nicht an die Religion, sondern an die Philosophie, die Weisheitslehre. Sie sollte Orientierung für das praktische Leben geben. Das Judentum/Christentum hat hier einen ganz anderen Ansatz. Und dass wir uns bei den Fragen von Ethik, Moral, Lebensführung heute immer noch bevorzugt an die Religion wenden, zeigt, wie sehr unsere Kulturen vom Christentum geprägt sind; inzwischen verlieren aber Christen den Markt der Lebensberatung, drängen neben Büchern von Esoterikern auch die von Philosophen wie Precht, Ferry usw. auf den Markt.
Thomas Cahill über die ‘ganzheitliche’ jüdisch-christliche Ethik: „Die Juden waren das erste Volk, das eine umfassende Weltanschauung und daraus erwachsende Verpflichtungen formuliert hat. Anders als die Sumerer, Ägypter und Griechen gehen sie nicht von einer Trennung in den Bereich des [religiösen] Gesetzes und den Bereich der Weisheit [im alltäglichen Leben] aus, sondern glauben, dass alle Lebensbereiche, da sie vom Weltschöpfer erschaffen sind, zusammengehören. Materielle und geistige sowie intellektuelle und moralische Belange stehen in Bezug zueinander.“ (Abrahams Welt / The Gifts of the Jews)
Auch Ulrich Victor, Carsten Peter Thiede und Urs Stingelin schreiben in Antike Kultur und Neues Testament, dass in den Religionen der Antike das formelle Befolgen von rituellen Regeln im Zentrum stand:
„Die antike Religion ist im Wesentlichen ein Regelwerk, wie die Götter zu verehren sind. Außerdem ist sie der Weg, wie man sich ihres Wohlwollens versichert, wenn man Hilfe in den Wechselfällen des Lebens braucht… Den Göttern liegt daran, dass die Menschen sich ihnen gegenüber korrekt verhalten. Es ihnen nur ausnahmsweise wichtig, wie die Menschen sich untereinander verhalten… Ein Mensch konnte also fromm sein, aber gleichzeitig in seinem Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen vieles zu wünschen übrig lassen“.
In den antiken Religionen wurde unter Frömmigkeit nicht der Herzensglaube verstanden, vielmehr ging es um das richtige Wissen, wie die Götter äußerlich zu verehren sind. Gottgefällig ist derjenige, der richtig, d.h. entsprechend den Regeln, opfert. Gute Früchte, ethisches Verhalten, Moral in unserem Sinne – all das war weitgehend zweitrangig:
„Das Regelwerk der religiösen Riten umfasste Opfer, Weihegaben, Gebete, Reinigungsriten sowie Feste zu Ehren der Götter. Bei weitem am wichtigsten sind die Opfer… Wer dieses Regelwerk befolgt, ist eusebes (gr. eu=gut und sebas=Verehrung), d.h. er verehrt die Götter auf richtige Weise und braucht sie deshalb nicht zu fürchten. Wer das Regelwerk vernachlässigt, ist asebes, ‘gottlos, frevelhaft’. Den Göttern liegt daran, dass die Menschen sich ihnen gegenüber korrekt verhalten. Es ihnen nur ausnahmsweise wichtig, wie die Menschen sich untereinander verhalten… Ein Mensch konnte also fromm sein, aber gleichzeitig in seinem Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen vieles zu wünschen übrig lassen.“
Noch einmal: Im Judentum und Christentum dagegen gehören Gottesverehrung, Gottesdienst, Glaube von Herzen und ethisches/soziales Verhalten untrennbar zusammen. Jan Assmann, Deutschlands wohl bekanntester Ägyptologe, stellt fest:
„Der Monotheismus ist vor allem auch eine große zivilisatorische Leistung. Während sich die heidnischen Götter um die Reinheit der Priester, die Korrektheit der Riten und die Fülle der Opfer kümmern, geht es dem Gott der Bibel allein oder vor allem anderen um Gerechtigkeit. Diesem Gott dient man nicht mit fetten Schlachtopfern, sondern mit Rechttun und Wohltätigkeit… In Ägypten ‘handelt’ man ‘für Gott’, indem man die Altäre reichlich versieht… Im Monotheismus aber handelt man für Gott durch ‘nichts als recht üben und die Güte lieben und demütig wandeln vor deinem Gott’ (Mch 6,6–8)… Der Monotheismus hat den Menschen zur moralischen Verantwortung befreit.“ (Die mosaische Unterscheidung)
Die biblische Ethik ist also in dieser Hinsicht völlig einzigartig unter den Religionen, da das ganze Leben dem Willen des einen Gottes unterstellt wird. Cornelius Van Til: „Alle Unterschiede zwischen der christlichen und der nichtchristlichen Sicht der Ethik lassen sich letztlich auf die unterschiedliche Vorstellung von Gott zurückführen… Der grundlegende Unterschied… ist die Annahme oder die Ablehnung des grundlegenden und unabhängigen Willen Gottes.“ (Christian Theistic Ethics)
[…] Zuerst erschienen auf lahayne.lt […]