Mission und Transformation
„Das Evangelium von Jesus Christus ist mehr als nur ein Ticket in den Himmel. Jesus hilft uns nicht einfach, aus diesem Ort auszusteigen, sondern diesen Ort, unser Zuhause, zu einem besseren zu transformieren.“ So Rob Bell aus den USA. Andere kritisieren in ähnlicher Weise, dass „Christen und Gemeinden sich immer mehr aus der gesellschaftlichen Verantwortung gezogen, ein kulturell und gesellschaftlich nicht relevantes Christsein gelebt haben“. Johannes Reimer meint, der Missionsbefehl der Bibel sei keine Aufforderung ,,zur Proklamation des Evangeliums, sondern zur Transformation des Denkens und als Folge davon des Lebens“.
Christen können durch gelebten Glauben und auch durch politischen Einsatz zur Heilung einer Gesellschaft beitragen. Denn tatsächlich sollen Gläubige ja allen Menschen Gutes tun (Gal 6,10); unser Licht soll vor allen scheinen (Mt 5,16). Wir sind aufgefordert, mit Wort und Tat den Glauben in allen Lebensbereichen zu bezeugen und auch an konkreten sozialen Verbesserungen zu arbeiten. Dies dürfte kaum umstritten sein.
Manche in der evangelikalen Welt wie die oben Zitierten gehen jedoch darüber hinaus. Sie betonen, dass Gott die Welt erneuert, und wir als Christen sollen bewusst Teil dieses Prozesses, also Gottes Partner bei seinem Handeln in der Welt werden. Mission sollte erweitert oder sogar ersetzt werden durch Transformation, „umfassende Veränderungen des gesamten Lebensraumes“.
Mission ist gewiss die Aufgabe der Kirche. Und wie steht es mit der Transformation? In welchem Zusammenhang stehen beide?
Allgemeine und besondere Gnade
Um einer Antwort näher zu kommen, sei zuerst an eine wichtige traditionelle theologische Unterscheidung erinnert. Weil Gott der dreieine ist, sind in ihm selbst Einheit und Vielfalt verwurzelt. Daher gilt für seinen Willen oder auch seine Liebe, dass sie eins und gleichzeitig vielfältig sind. Genauso ist von der Gnade Gottes zu sagen: die Gnade ist im Grunde eine, aber sie zeigt oder verwirklicht sich auf unterschiedliche Weise.
Wenn Calvin im Folgenden von der erlösenden Gnade redet, meint er damit eine „besondere“ Gnade, die nur einigen Menschen gilt: „Die Wurzel unseres Glaubens an Jesus Christus liegt nicht in unserem eigenen Bemühen… Sie entspringt vielmehr der Gnade Gottes, einer Gnade, die unsere Natur übersteigt. So bleibt nun zu prüfen, ob diese Gnade ein Gemeingut aller Menschen ist oder nicht. Die Hl. Schrift behauptet, daß dies nicht der Fall ist: Gott nämlich gibt seinen Hl. Geist nach seinem eigenen Ermessen den Menschen, und er erleuchtet sie durch seinen Sohn… Daraus also muß man schließen, daß der Glaube aus einem weit höheren und verborgeneren Quellort und Ursprung hervorgeht: aus der Gnadenwahl Gottes, kraft der er nach seinem Wohlgefallen Menschen zum Heil erwählt.“ (Von der ewigen Erwählung, 1551).
Diese Gnade ist die erwählende, die nur einige Menschen zum Heil führt; sie ist übernatürlich, ihr kann nicht widerstanden werden. In der Institutio nennt Calvin aber auch eine andere Art der Gnade, und wohl als erster bezeichnete er diese mit dem Begriff „allgemeine Gnade“, weil Gott sie allgemein, d.h. allen (wenn auch in unterschiedlichem Maß) austeilt. Diese Gnade ist „Gemeingut“! Auch nach dem Fall sind wir noch von Tieren unterschieden, haben Verstand und andere Fähigkeiten in Teilen bewahrt, doch „alles, was wir übrigbehalten haben, ist mit gutem Grunde Gottes Huld zuzuschreiben; hätte er uns nicht verschont, so hätte der Fall den Untergang der gesamten Natur mit sich gebracht“ (Inst. II,2,17).
Das Trachten der Menschen nach Tugend zeigt, „daß die Gnade Gottes auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend [wie die spezielle, rettende Gnade], sondern innerlich hemmend… So legt Gott in seiner Vorsehung der Verderbtheit der Natur Zügel an, damit sie nicht zur vollen Wirkung hervorbreche.“ (III,3,3)
Diese Unterscheidung ist biblisch gut begründet. An zahlreichen Stellen wird klar ausgesagt, dass Gott der ganzen Schöpfung und allen Menschen seine Güte zeigt. Ps 145,9: „Der HERR ist allen gütig und erbarmt sich aller seiner Werke“ (s. auch Mt 5,44–45; Ps 65,5–13; 104; 136,25; 145,9.15–16). In Apg 14,17 heißt es: Gott hat „sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat viel Gutes getan und euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, hat euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt“. Hier ist von einer unverdienten Güte Gottes die Rede, die aber nicht zur Erlösung führt.
Wie Calvin darstellte, ist ein wichtiger Aspekt der allgemeinen Gnade das Einschränken und Begrenzen von Sünde und ihrer Folgen. Auch dem Teufel werden Grenzen gesetzt. Die Sünde steht allgemein unter der souveränen Kontrolle Gottes, und dies ist sicher eine unverdiente Gnade. Gott hält seinen Zorn zurück, er ‘übersieht’ Ungehorsam (Apg 14,16; 17,30), war lange geduldig (Röm 3,26). Das letzte Gericht wird aufgeschoben, um Menschen Möglichkeit zur Buße zu geben (s. 2 Pt 3,9.15). An dieser Stelle ist auch die staatliche Gewalt als ein gewisses Gnadenwerkzeug zu nennen. Denn sie hat die Aufgabe gegen das Böse vorzugehen, so dass auch Christen in Frieden leben und die Kirche ihre Aufgabe tun kann (s. 1 Tim 2,2; 1 Pt 2,14).
Diese Lehre hat Eingang in manche der protestantischen Bekenntnisse gefunden. In der Dordrechter Lehrregel (1619) fällt der Begriff zwar nicht, aber in III/IV,4 ist von „etwas natürlichem Licht“ und „einiger Kenntnis von Gott“ bei den Unerlösten die Rede; sie können „zwischen Recht und Unrecht“ unterscheiden, besitzen „eine gewisse Neigung zu Tugend und äußerer Zucht“. Dies ist gewiss eine Gnade Gottes, die jedoch keine „heilbringende Erkenntnis Gottes“ schafft.
Unter der zeitgenössischen reformierten Theologen sei hier nur Michael Horton genannt, der der allgemeinen Gnade in seiner Dogmatik ein Kapitel gewidmet hat und gut zusammenfasst: „Allgemeine Gnade macht menschliche Gesellschaft möglich, rettende Gnade hingegen schafft die Kirche.“ (The Christian Faith)
Der Transformer
Im 19. Jahrhundert hat der reformierte Theologe Abraham Kuyper (1837–1920) die Lehre von der allgemeinen Gnade neuentdeckt. Gut stellt er die beiden Arten der Gnade im Hinblick auf die Sünde gegenüber: „Wir müssen zwischen zwei Dimensionen dieser Manifestation der Gnade unterscheiden. 1.a. eine rettende Gnade, die am Ende Sünde abschafft und ihre Folgen vollständig rückgängig macht; und 2. eine zeitliche zurückhaltende Gnade, die die Wirkung der Sünde abmildert und aufhält. Die erste… ist ihrer Natur nach eine besondere und auf die Auserwählten Gottes begrenzt. Die zweite… erstreckt sich auf das gesamte menschliche Leben.“ („Common Grace“, in: Abraham Kuyper – A Centennial Reader)
Kuyper ging in seinem Denken, ganz in den Spuren Johannes Calvins, von der Souveränität Gottes aus und betonte die Herrschaft Christi im ganzen Leben. Er schrieb nicht nur eine dreibändige Enzyklopädie der Heiligen Theologie (1894). In seinen bis heute immer neu aufgelegten Lectures On Calvinism (nach einer Vorlesungsreihe an der Universität von Princeton in den USA 1898) weitet er den Blick über die Theologie hinaus auf das „gesamte menschliche Leben“. Darin untersucht der Niederländer den Einfluss des Calvinismus u.a. auf Politik, Wissenschaft und Kunst.
Gemeinhin wird Kuyper als einer der ersten „Transformationisten“ bezeichnet. Und tatsächlich hat sich der Theologe, Staatsmann und Journalist wahrlich nicht ins fromme Ghetto zurückgezogen. Der ordinierte Pastor war kirchlich sehr aktiv. Seit 1874 (und dann wieder ab 1908) war Kuyper Mitglied des niederländischen Parlaments und Führer der „Antirevolutionären Partei“ (gegr. 1879), der ersten christdemokratischen Partei Europas. 1901–1905 wirkte er sogar als Premierminister. Kuyper veröffentlichte zahlreiche Beiträge in der von ihm 1872 gegründeten Tageszeitung „De Standaard“. 1880 gehörte er zu den Gründern der „Freien Universität“ in Amsterdam – frei von staatlicher und kirchlicher Kontrolle. – Kaum ein anderer Theologe hat in der jüngeren Kirchengeschichte so vielfältige Spuren hinterlassen.
Kirche als Institution und Organismus
Kuyper hat die Lehre von der Gnade nun mit der von der Kirche verbunden. Er unterschied dabei zwischen der Kirche als Institution und als Organismus (so schon in seiner Antrittspredigt als junger Geistlicher in Amsterdam, nun in Rooted & Grounded). „Institution“ ist die organisierte, sichtbare Kirche mit ihren Ämtern, Ordnungen, Gottesdiensten, Sakramenten usw. Die Kirche als „Organismus“ ist weitgehend unsichtbar und durchdringt alle Lebensbereiche, denn Christen leben ihren Glauben überall im Licht des Evangeliums und der göttlichen Wahrheiten. Der einen Kirche entspricht das Bild eines Gebäudes, sie wird gebaut; die andere kann mit organischen Bilder umschrieben werden, sie wächst.
Die Kirche als Institution ist nun gleichsam die Heimat der besonderen Gnade. Ihre erste und direkte Berufung ist es, „die Heiligen [die Gläubigen]… zu sammeln und zu vervollkommnen“ (Westminster-Glaubensbekenntnis, 25.3). Vor allem hier nutzt der Heilige Geist die Bibel und das gepredigte Wort sowie die Sakramente, um Glauben zu schaffen. Die Aufgabe der Kirche ist es, dies Wort möglichst umfassend und klar zu lehren. Die Kirche als Institution soll also vor allem treu das Evangelium und die Gebote verkündigen.
Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Kuyper knüpft am biblischen Bild des Lichts an. Christus ist das „Licht der Welt“ oder „der Heiden“ bzw. Völker (Jes 42,6; 49,6; Joh 3,19; 8,12). Gott selbst ist Licht (1 Joh 1,5). Daher sollen auch die Gläubigen Licht sein und ihren Herrn widerspiegeln. Christen sind aufgerufen „als Lichter in der Welt“ (Phil 2,15) zu scheinen, „Kinder des Lichts“ (Eph 5,8; 1 Thes 5,5) zu sein.
Die Kirche versammelt alle, in deren Herzen Gott einen „hellen Schein“ gegeben hat (2 Kor 4, 6), all diejenigen, die aus der Dunkelheit ins Licht getreten sind (1 Pt 2, 9). Jesu bekannte Worte in der Bergpredigt (Mt 5,14–16): „Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Dies Bild erweiternd bemerkt Kuyper nun: „Obwohl die Lampe der christlichen Religion nur innerhalb der Wände der Institution [der Kirche] brennt, scheint sein Licht durch dessen Fenster weit hinaus, erhellt alle Bereiche und Vereinigungen, die im weiten Spektrum des menschlichen Lebens und der menschlichen Aktivitäten erscheinen. Justiz und Recht, das Heim und die Familie, Geschäftsleben, öffentliche Meinung und Literatur, Kunst und Wissenschaft und vieles andere mehr werden durch das Licht erhellt; und die Erleuchtung wird umso stärker und durchdringender sein, je heller und klarer die Lampe des Evangeliums in der Kirche selbst scheint.“ („Common Grace“)
Direktes und indirektes Wirken der Kirche
Die Stadt auf dem Hügel ist die Kirche als Institution. Sie muss sich von ihrer Umgebung unterscheiden. Kuyper fordert daher auch eine klare Trennung von Kirche und Bürgergesellschaft bzw. Staat. Damit die Lampe des Glaubens leuchten kann, braucht die Kirche volle Freiheit, um Kirche nach den eigenen Grundsätzen zu sein (ohne staatliche Einmischung). Sie muss ihren besonderen Charakter als Gemeinschaft der Erretteten bewahren und sich in diesem Sinne um Reinheit bemühen.
Ist dies gewährleistet, leuchtet der Glaube nach draußen, „weit hinaus“ in die breite Gesellschaft hinein. Dies ist der Bereich der allgemeinen Gnade, und in diesem wächst die Kirche als Organismus und zwar durch „mutiges Handeln der Kirchenmitglieder in allen Bereichen des Lebens“.
Kuyper gibt nun aber zu bedenken, dass „die Segnungen des Christentums nur dann im weiten Bereich des menschlichen Lebens wirksam sein können“, d.h. die Kirche als Organismus nur dann wachsen wird, „wenn sich die institutionelle Kirche an den Forderungen der Schrift orientiert“, also das tut, wozu sie zuerst berufen ist. Er warnt vor einer falschen Vermischung von Kirche und Welt. Wenn die Kinder des Lichts in die eigenen Reihen zu viele Kinder der Finsternis lassen, wird das Licht selbst verblassen oder womöglich ganz zu leuchten aufhören. Nur wenn die Gläubigen ihre Identität als Lichtträger bewahren, kann ihr Licht das Dunkel in der Welt erhellen. Nur wenn die Kirche anders als die weltliche Gesellschaft ist, können die Mitglieder der Kirche einen Einfluss auf diese nehmen. In der Gemeinde muss die Gesellschaft draußen bleiben, um diese positiv verändern zu können. Das ist das große Paradox!
Diese Abgrenzung ist im Bereich der besonderen Gnade, der Kirche als Institution, hervorzuheben. Außerhalb der Institution, im Bereich der Kirche als Organismus, macht die allgemeine Gnade vielfältige Formen der Zusammenarbeit zwischen Christen und Nichtchristen möglich. Gott wirkt durch seinen Geist auch in der Welt, und daher können und sollen Christen zusammen mit den Kindern der Welt kulturschaffend tätig sein.
Aus diesem folgt, dass der Einfluss der Kirche als Institution auf die Gesellschaft vor allem ein indirekter ist. Kuyper: „Die Kirche tut zwei Dinge: sie arbeitet direkt für das Wohl der Erwählten, ruft zu Umkehr, tröstet, baut auf, vereinigt und heiligt sie; aber sie arbeitet auch indirekt für das Wohl der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, führt zur zivilen Tugend.“ Indem sie ein Hort der besonderen Gnade ist, trägt sie mit zu den Segnungen der allgemeinen Gnade bei. An anderer Stelle betont er noch einmal, ja er will seinen Leser „einhämmern“, dass die Kirche als Institution nur indirekten Einfluss auf die bürgerliche Gesellschaft ausüben kann.
Transformationisten und ihre Gegner
Die liberale Theologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie auch die „Social Gospel“-Bewegung hatten das berechtigte Anliegen, mit dem Evangelium über die Kirchenmauern hinaus zu wirken. Kuyper bekämpfte den theologischen Liberalismus seiner Zeit jedoch vehement. Seine Konzeption hilft, die großen Schwächen dieser Theologie zu sehen. Sie hat nämlich gerade im Bereich der Gnade unsägliche Verwirrung gestiftet. Ihr großer Fehler war (und ist) in unserem Zusammenhang, dass sie allgemeine und besondere Gnade durcheinander mischte, den Unterschied leugnete. Wir können überall Gottes allgemeine Gnade erkennen, doch die Liberalen meinen, die besondere Gnade sei breit gestreut, weshalb ‘überall’ in der Welt schon geschehene Erlösung zu erkennen sei. Konkret wird deshalb behauptet, das Heil sei auch in anderen Religionen zu erfahren.
Gnade ist demnach nur noch rettende Gnade. Wenn jedoch die allgemeine Gnade ignoriert wird und so nur die spezielle, erlösende übrig bleibt, und wenn die Gnade auch weit außerhalb der Kirche wirkt, dann muss die Welt und konkret so viele Menschen wie möglich in die Kirche hineingeholt werden. Genau diese Gefahr sah schon Kuyper. Die Grenzen der Kirche als Institution verwischen auf diese Weise jedoch, die „Lampe der christlichen Religion“ oder des Evangeliums wird verlöschen und damit auch der prägende Einfluss, um den es doch geht.
Die Weite der Gnade Gottes sehen heute auch die Vertreter der „Emerging Church“ und andere, die sich groß „Transformation“ auf die Fahne geschrieben haben. Gott wirkt auch weit außerhalb der Kirche, und in diesen Transformationsprozessen wird das Reich Gottes erkannt. Mission wird definiert als Teilnahme am Bau seines Reiches, und damit ist das Gestalten von sozialen Wandlungsprozessen wichtiger Bestandteil der Mission der Kirche.
Die Anhänger der Transformationstheologie grenzen sich meist von der liberalen Theologie ab. Doch es ist bei ihnen ein ähnlicher Fehler festzustellen: die allgemeine Gnade mit ihren Eigenarten wird übersehen. Was Gott ‘draußen’ tut, die Segnungen der allgemeinen Gnade, wird unzulässigerweise als Bau des Reiches Gottes bezeichnet. Dagegen ist zu betonen, dass sich das Reich Christi dort ausbreitet, wo sich Menschen bewusst dem König unterstellen. Vor allem in der Kirche als Institution ist das Reich Christi sichtbar.
Auch in Evangelism and Social Responsibility (The Grand Rapids Report, 1982) der Weltweiten Allianz und der Lausanner Bewegung wird sehr gut unterschieden zwischen der Herrschaft Christi über die ganze Welt de jure und seiner Herrschaft als König seines Volkes, der Kirche, de facto. „Wir sollten den Begriff ‘Reich Gottes’ der anerkannten Herrschaft Christi [in der Kirche] vorbehalten“. Seine weitere Herrschaft (im Bereich der allgemeinen Gnade) sei besser als seine „Souveränität“ zu bezeichnen. Anschließend wird dort, ganz ähnlich Kuyper, die Strahlwirkung der Kirche beschrieben: in vielen Lebensbereichen wirken christliche Werte verändernd. Gott handelt aber auch oft ganz ohne die Christen, und hier fällt der Begriff allgemeine Gnade. Ob nun durch seine Kinder (die Kirche als Organismus) oder direkt – dieses umfassende Handeln Gottes ist nicht das, was Jesus als das „Reich Gottes“ bezeichnete.
Vieles an Forderungen, wie sie z.B. der eingangs zitierte Reimer vorbringt, ist durchaus berechtigt. Doch wegen der Nichtbeachtung der Unterschiede von Kirche als Institution und Organismus und von allgemeiner und besonderer Gnade wird leider viel Verwirrung gestiftet. Ich halte es für sinnvoll, Mission und Transformation weiterhin zu unterscheiden: Transformation hat mit den Segnungen im Bereich der allgemeinen Gnade zu tun und ist in Teilen eine Frucht der Kirche als Organismus. Diese Prozesse sind aber mitunter sehr langfristig, schwer steuerbar und kaum vorherzusehen. Dazu gleich mehr. Mission hat demgegenüber mehr mit dem Auftrag der Kirche als Institution zu tun; hier geht es um die Verkündigung der besonderen Gnade der Erlösung. Mission und Transformation gehören zusammen, denn Mission bewirkt, s. Kuyper, indirekt Transformation von Gesellschaften.
Übrigens heißt es auch in „Transformation: The Church in Response to Human Need“, nach der Konsultation in Wheaton im Jahr 1983 herausgegeben, dass die Hauptaufgabe der Gemeinde, also der Kirche als Institution, eine dreifache ist: „Lob und Anbetung Gottes, die Verkündigung des Evangeliums der Gnade Gottes in Wort und Tat sowie die Zurüstung, Lehre und Jüngerschaft derer, die Jesus Christus in ihr Leben aufgenommen haben“ (33).
Die Anti-Transformationisten (oder Anti-Dominionisten) haben ebenfalls ein berechtigtes Anliegen. Sie wollen die rettende Gnade hochhalten. Die Kirche soll nicht von ihrem Hauptauftrag, das Evangelium zu verkünden, abgelenkt werden. Es ist jedoch auch falsch, die Gnade zu sehr einzuengen, sie nur im Bereich der Kirche zu sehen. Gott handelt nicht nur dort gnädig, wo die Gnade der Sündenvergebung oder die besonderes Zuwendung Gottes erfahren wird.
Leider verwerfen Dominionismus-Gegner wie Martin Erdmann die allgemeine Gnade in Bausch und Bogen. Sie sei „Antriebsfeder“ für das Machtstreben der Neoevangelikalen, und Hauptübeltäter ist, glaubt man ihnen, tatsächlich Abraham Kuyper als böser Ideenstifter. In „Die Neo-Kuyperianischen Sphären“ (Gemeindegründung Nr. 98, 2/09) setzt sich Erdmann interessanterweise nirgends mit Kuyper selbst auseinander, zitiert ihn nirgendwo. Am Ende heißt es, die Anwendung seiner Lehren würde zu einem „umfassenden Despotismus im Namen Christi“ führen. Offensichtlich hat der Autor keine Ahnung von der tatsächlichen Theologie des großen Niederländers. (Zu Erdmanns Buch Der Griff zur Macht s. auch Thomas Schirrmachers Kritik „Der angedichtete Griff zur Macht“.)
Vor dem Hintergrund dieser beiden Extreme zeigt sich der große Nutzen von Kuypers Ansatz. Die Kirche als Institution soll sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren, und dazu gehört auch Mission. Daneben ist aber auch der Aspekt der Transformation, des sozialen Wandels und Einflusses, nicht zu ignorieren. Dieser ist jedoch nicht mit dem Bau des Reiches, der besonderen Gnade, zu vermengen, eher der Kirche als Organismus zuzuordnen.
Transformationen in der Geschichte
Es stimmt also in gewisser Weise: Mission ist eine „transformierende Wirklichkeit“. Natürlich verändert der christliche Glaube Menschen und ganze Gesellschaften. Das Christentum wirkte und wirkt transformierend, doch in der Regel nur in recht langfristiger Sicht und meist in indirekter Weise – indem die Christen klar an ihrer besonderen Lehre festhielten und diese praktizierten. Kuypers Hauptthese wird durch die tatsächliche historische Entwicklung bestätigt.
Transformationsprozesse werden meist nur im großen historischen Kontext deutlich sichtbar. Die größte Transformation liegt dabei schon lange hinter uns: weg vom zyklischen Denken. Thomas Cahill schreibt in The Gift of the Jews (1998, dt. Abrahams Welt), dass die „religiöse Urerfahrung“ der Menschen das Nachsinnen über den Himmel war: Im Himmel wurden „die ewig währenden Vorbilder und Muster für das irdische Leben“ erkannt. Die himmlischen Elemente wurden als Götter angesehen, die über das menschliche Leben entscheiden. Unser irdisches Dasein ist nur ein flüchtiger Abglanz der göttlichen Sphären dort oben. Und dort wiederholt sich alles – die Wirklichkeit ist ein Kreis, Rad oder ewiger Zyklus. Mit Abraham und dem Glauben der Juden im AT geschah hier ein radikaler und äußerst folgenreicher Schnitt, ohne den es moderne Wissenschaft und damit auch Forschung und Wirtschaft nicht gäbe.
Cahill schrieb auch ein Buch über Jesus und seine Wirkung, ein Buch über „cultural impact“: Desire of the Everlasting Hills: The World Before and After Jesus. Der Titel ist eine Anspielung an Gen 19,26. Dieses Sehnen nach den „ewigen Hügeln“ ist ein Wunsch auf ein Ende „des unendlichen Zyklus der menschlichen Grausamkeit, der Unmenschlichkeit von Menschen an Menschen“. Jesus gab und gibt diese Hoffnung auf echte Erlösung, eine Hoffnung, die im zyklischen Denken gar keinen Sinn macht.
Auch die Vorstellung von unbedingt zu schützendem Menschenleben vor oder nach der Geburt war ein wahrlich umwälzender Gedanke. Der Begriff der Menschenwürde war in der Antike fremd, denn es fehlte der Glaube ab den einen Gott. Robert Spaemann: „Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten [also des einen Gottes] ist, darum, und nur darum, kommt ihm das zu, was wir ‘menschliche Würde’ nennen.“ (Grenzen) In den polytheistischen Kulturen waren Abtreibungen daher an der Tagesordnung. Dank der Jesus-Bewegung wurden Kinder zu Menschen – siehe O.M. Bakke, When Children Became People: The Birth of Childhood in Early Christianity. Über Jahrhunderte haben römische Herrscher (angefangen bei Caesar) versucht, mit verschiedenen staatlichen Gesetzen die Menschen zu mehr Nachwuchs zu bewegen und fast schon zu zwingen. Es hat alles kaum etwas genutzt, die Fruchtbarkeit blieb zu niedrig. Das Christentum mit seiner hohen Sicht der Frau, der Ehe und Treue, der Familie, der Kinder und der Erziehung führte jenseits allen äußeren Zwangs zu mehr Kindern und Bevölkerungswachstum.
Neben dem Schutz von Leben war die Hilfe im Leid und die Krankenpflege ein wichtiger Aspekt der gelebten Barmherzigkeit. Die heidnischen antiken Religionen hatte dagegen keine Sozialethik im eigentlichen Sinne entwickelt, weil ihnen die Liebe zu Gottheiten und damit auch Nächstenliebe fremd war. Ganz anders im Christentum.
All diese und noch weitere Prozesse sollten intensiv studiert werden. Dabei sind Rodney Starks Bücher wie The Rise of Christianity und The Victory of Reason hilfreich. Hier wird deutlich, dass die ganzheitliche Veränderung des Lebensraumes schon lange Realität ist, sie jedoch äußerst komplex und langfristig verläuft. Auch der vielbeschworene William Wilberforce, Paradebespiel eines ‘Transformers’, konnte mit der Abschaffung des Sklavenhandels 1807 nur deshalb Erfolg haben, weil sich in England schon über Jahrhunderte demokratische und pluralistische Strukturen herausgebildet hatten.
Schließlich sei allen an Transformationsprozessen Interessierten Larry Siedentops Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism empfohlen. In seinem jüngsten Werk zeigte der große Gelehrte und Ideengeschichtler aus Oxford, wie sich über einen Zeitraum von mehr als eintausend Jahren, von der Zeit der ersten Christen bis zum Spätmittelalter, unsere Vorstellung des freien Individuums entwickelte. Er hört dabei interessanterweise mit der Renaissance als letzter Station in seinem umfangreichen Panorama auf. Sie ist also nur der Schlusspunkt einer langen Entwicklung; er will ihr keineswegs – wie üblich – die Ehre zugestehen, das moderne Individuum erfunden zu haben. Siedentop legt sehr anschaulich dar, dass auf der einen Seite Ideen und religiöse Überzeugungen Folgen haben und Kulturen prägen, dass aber auf der anderen Seite die einzelnen Akteure zumeist nicht die Ergebnisse ihres Handelns bewusst planen und auch nicht vorhersehen können – eine sehr wichtige Rolle spielten und spielen unbeabsichtigte Folgen (was im Übrigen mit Hayeks Thesen übereinstimmt). Diese Entwicklung ist also der Kirche als Organismus zuzuordnen; hier ist Planung praktisch nicht möglich. Einzig die Kirche als Institution kann und muss in gewissem Rahmen gesteuert werden.
Sollen Christen die Welt verändern? Ja natürlich. Sollen wir Gesellschaften mit christlichen Werten prägen? Gewiss. In den vergangenen zwei Jahrtausenden haben Christen vielfältige Spuren hinterlassen, hat Gott Geschichte so geführt, dass Werte, Normen und Sitten von ganzen Kulturen verändert wurden. Auch das ist allgemeine Gnade. Ihre Früchte genießen wir im Westen immer noch, auch wenn der Baum schon langsam morsch wird. Wollen wir wieder verstärkt transformierend wirken, dann ist jedoch die erste Aufgabe „die Lampe des Evangeliums in der Kirche selbst“ heller und klarer scheinen zu lassen.
super, Dir vielen, vielen Dank für diese tolle und klare Ausarbeitung
noch einen kurzen Kommentar dazu, was mir beim Nachdenken wichtig wurde:
Ist eigentlich nicht die größte Herausforderung für uns Christen zu erkennen was Gott in Jesus getan hat und was er weiter an uns als seinen Kindern tut und auf der anderen Seite zu erkennen, was uns als zu tun aufgetragen ist und beides voneinander zu unterscheiden?
Guter Gedanke. Ich vermute mal, dass bei der Evangelium21-Konferenz im April in HH diese Dinge vertieft werden; wäre gerne dabei, s. hier: http://www.evangelium21.net/downloads/pdf/E21-Konferenz-2015.pdf