Kritik und Selbstkritik
(Bild o.: David und Bathseba, Lukas Cranach d.J.)
Eine Erfindung der Griechen?
Kritik hat unter vielen Christen ein geradezu katastrophal schlechtes Ansehen. Wer einen „kritischen Geist“ hat, gilt als destruktiv, arrogant und besserwisserisch. Welcher Pastor will schon kritische Gemeindemitglieder? In der evangelikalen Literatur sucht man (fast) vergebens nach einem Lob der Kritik. Dafür findet man öfter Seitenhiebe.
So wundert es auch nicht, dass auf säkularer Seite oft polarisiert wird: Auf der einen Seite die Philosophie und das kritische Denken, auf der anderen Seite der Glaube des Christentums und die Religion. Überall werden die Griechen gelobt für ihre „Entdeckung der Vernunft“, so vor Jahren der Titel einer Ausgabe des „Spiegel“. In dem Nachrichtenmagazin wird weiter ausgeführt:
„Im Orient wogte überall der süße Duft der Religion – Opium fürs Volk, in extatischen Kulten ausgelebt, das den Menschen inneren Halt gab und zu einer Gemeinschaft verschweißte… Ganz anders bei den Griechen. Sie strebten nicht nach Glauben, sondern nach Wissen… Die Griechen schoben die Nebelwolken des Sakralen weg. Sie hakten nach, hinterfragten, staunten über alles – und wagten sich so immer weiter aufs Meer der Erkenntnis hinaus…“ (48/2006)
Vor etwa 2500 Jahren ersannen die Griechen – als erste – die Philosophie, begannen erstmals frei und kritisch zu denken, so der Tenor (so auch Jostein Gaader in seinem Bestseller Sofies Welt). Tatsächlich erkannte schon der Vorsokratiker Xenophanes (um 500 v.Chr.): Menschen schaffen Götter nach ihrem Bilde. Er kam dem biblischen Monotheismus recht nahe. Aber haben wirklich die Griechen die Kritik des Mythos und der Götter erfunden? Sind sie die Väter des kritischen Denkens?
„Vogelscheuchen im Gurkenfeld“
Die Religionskritik, um mit ihr zu beginnen, ist jedoch eine Erfindung der Bibel. Ausführliche religionskritische Abschnitte finden sich z.B. in Ps 115,4–8, Ps 135,15–18, Jes 44,9–20, Jer 10,1–16. Überall heißt es dort, dass die Götzen von Menschen gemacht und Nichtse sind – ohne jegliche Kraft. Jesaja beschreibt ausführlich, wie Handwerker arbeiten und Dinge herstellen; wie Holz zum Bauen und Brennen gebraucht wird; und wie der gleiche Baum dann auch noch zu einem Götzen geschnitzt und angebetet wird:
„Die eine Hälfte verbrennt er im Feuer, auf ihr brät er Fleisch und isst den Braten und sättigt sich und wärmt sich auch und spricht: Ah! Ich bin warm geworden, ich spüre das Feuer. Aber die andere Hälfte macht er zum Gott, dass es sein Götze sei, vor dem er kniet und niederfällt und betet, und spricht: Errette mich, denn du bist mein Gott!“ (44,16–17)
Die Götter bringen nichts, sie bewirken nichts. Laut Jeremia sind sie bloß „Vogelscheuchen im Gurkenfeld“ (10,5 – auch die Bibel kennt beißenden Spott!). Daher ist es völlig absurd und dumm, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Es fällt aber auf, dass im AT nicht die heidnischen Völker und im NT nicht die Kulte der Griechen und Römer im Mittelpunkt der Kritik stehen. Und da hätte es durchaus viel zu verurteilen gegeben. Ihre Religionen scheinen gleichsam nur ab und an durch, wenn von der Gräueltaten der kanaanäischen Völker die Rede ist oder von Menschenopfern. Geht es im AT um die Religionskritik, ist, wie gesagt, der Fokus so gut wie immer auf das eigene Volk, also Israel, gerichtet. Als die Griechen die Kritik erfanden und alle barbaroi, Nichtgriechen, verachteten, waren die Juden schon einen großen Schritt weiter: bei der Selbstkritik.
Thomas Schirrmacher: „Die Bibel ist voller kritischer Berichte über das Volk Gottes. Zwar verkündigt das AT vehement den Monotheismus, offenbart aber ebenso schonungslos, wie schwierig er unter den Juden durchzusetzen war. Ehebruch und Mord von König David schwächen nicht die Psalmen, sondern liefern den Anlass für den bedeutendsten Bußpsalm des AT und der Kirchengeschichte (Ps 51 zu 2 Sam 6–7). Nicht nur David, auch Mose und Paulus waren früher Mörder…“ (Koran und Bibel) – alles wurde in der Bibel selbst präzise überliefert. „Die Fehler des Petrus, der Jesu Leiden für sinnlos hielt und kurz vor der Kreuzigung garantierte, Jesus nie zu verleugnen (Mt 26,31–35) und der vom Apostel Paulus scharf kritisiert werden musste, weil er nicht mit den Heidenchristen essen wollte (Gal 2,11–14), erfahren wir nicht aus gegnerischen Schriften, sondern aus dem NT“, so der Bonner Theologe weiter.
Das NT berichtet einerseits über das soziale Programm der Urgemeinde (Apg 6), andererseits lässt es nicht unerwähnt, dass die reichen Gemeindeglieder oft Arme hungern ließen (1 Kor 11,21–22) oder sie im Gottesdienst benachteiligten (Jak 2) oder den Lohn nicht pünktlich auszahlten (Jak 5,4). „Ganze Bücher des AT widmen sich dem schonungslosen Offenlegen der Zustände unter den Israeliten (z.B. der Prophet Micha), ganze Bücher des NT legen die schlimme Situation in christlichen Gemeinden bloß (z.B. 1 Kor).“ (Schirrmacher) Noch einmal: all das erfahren wir nicht aus gegnerischen Schriften, sondern aus der Bibel selbst.
Schirrmacher kommt zum Schluss: Keine heilige Schrift berichtet über die Anhänger der eigenen Religion so negativ wie die Bibel. Es wird klar ausgesagt, dass auch gläubige Juden und Christen Sünder bleiben und zu den schlimmsten Taten fähig sind. Paulus schreibt Christen: „Darum, wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle“ (1 Kor 10,12). Und er ermahnt sie angesichts des Gerichts über die Juden, dass sie sich nicht für etwas Besseres halten sollen: „Sei nicht stolz, sondern fürchte dich!“ (Röm 11,20) Auch das Volk Israel wurde immer wieder daran erinnert, dass es nicht erwählt wurde, weil es besser als andere Völker sei (s. Dt 7,7–8).
„Kritisches Denken fehlt in den Moscheen“
Die Bibel ist also ein großer kritischer Kommentar der eigenen Geschichte des Gottesvolkes. Der schonungslose und ehrliche Blick auf sich selbst führte dazu, dass in der jüdisch-christlichen Welt Selbstkritik als Tugend gilt, als ein Zeichen von Stärke, nicht als bloßes Eingeständnis der Schwäche. Folglich werden all die Schandflecken der „christlichen“ Geschichte von den Kreuzzügen über den Sklavenhandel bis hin zum Rassismus von den eigenen Historikern aufgearbeitet bzw. von Christen bekämpft.
Keine Religion steht so eindeutig zu ihren Fehlern und Missbräuchen wie das Christentum. Im Islam z.B. ist Kritik an der eigenen Geschichte undenkbar, eine Blasphemie. Eine wirklich kritische Wissenschaft oder auch z.B. kritisch diskutierende Parlamente haben sich dort nicht entwickelt. Auch im schintoistischen Japan hat man bis heute nicht die Verbrechen im II Weltkrieg anerkannt und sich bei den Chinesen entschuldigt. Die westlichen Länder sind nicht mehr christlich im eigentlichen Sinn, doch die nun gleichsam säkularisierte Erbsünde prägt immer noch das Verhalten und die Kultur: im Westen suchen wir die Ursachen für so gut wie alle Probleme der Welt immer zuerst bei uns selbst.
Zum Islam schrieb vor einigen Wochen der Muslim Ahmad Mansour einen Beitrag für den „Spiegel“ (4/2015). Unter der Überschrift „Jetzt mal unter uns“ führte der arabische Israeli, der seit 2004 in Berlin wohnt, aus: „Mehr als in anderen monotheistischen Religionen sind Diskussion, Kritik und der Streit um Exegese im Islam noch – oder besser: wieder – tabuisiert. Kritisches Denken fehlt in den Moscheen. Überall. Auch in Europa. Verlässt man die oberflächliche Analyse und gräbt etwas tiefer, zeigt sich, dass Taten wie die in Paris erst möglich wurden, weil wir Muslime Generation von Kindern entmündigt haben. Sie durften, dürfen nicht denken, sie dürfen nicht hinterfragen – Fragen werden als Anmaßung, als Frechheit geahndet. Wir haben den Heranwachsenden ein religiöses Weltbild präsentiert, das ausschließlich Schwarz und Weiß kennt. Farben und Schattierungen scheinen bedrohlich.“
Selbstkritisches Denken ist dagegen tief im Zentrum der biblischen Religion verwurzelt: in ihrer Botschaft von Sünde und Heil. In den ersten Kapiteln der Bibel wird berichtet, wie die ersten Menschen sich von Gott abwendeten – und begannen, die Schuld bei anderen zu suchen (Gen 3,12–13). Seitdem finden Menschen die Schuld für alles Mögliche bei anderen, im privaten Bereich genauso wie in der Politik. Christsein bedeutet dagegen, dass man die Schuld zunächst bei sich selbst sucht. Noch einmal Schirrmacher: „Christwerden bedeutet nämlich, zunächst sich selbst als Sünder zu sehen.“ Glaube beginnt mit der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit, Schwachheit, ja Bosheit. Daher verwirft Jesus die Worte des Pharisäers: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen…“ und preist das Gebet des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,11–14). Daher schreibt Paulus: „Denn ich bin der Geringste unter den Aposteln. Denn ich bin es nicht wert, Apostel genannt zu werden, denn ich habe die Gemeinde Gottes verfolgt. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,9–10). Und deshalb fordert der Apostel Christen zu kritischen Selbstanalyse auf: „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht; prüft euch selbst!“ (2 Kor 13,5)
Die Kunst des Unterscheidens
Unser Wort Kritik leitet sich vom gr. kritike (techne) – „die Kunst der Beurteilung“ ab, dies wiederum vom Verb krinein: (unter)scheiden, trennen; auch urteilen, verurteilen, beschließen, kritisieren. Es wird im NT im positiven wie negativen Sinne gebraucht; negativ z.B. in Mt 7,1; positiv in Joh 7,24; in der Bedeutung „beurteilen“ z.B. Lk 7,43; 1 Kor 10,15; 11,13; Apg 4,19. In Hbr 14,2 ist Gottes Wort kritikos („fähig zu richten über…“) – „kritisch“, d.h. es beurteilt uns. Zu beachten sind auch die Stellen zu gr. diakrinein – unterschieden, beurteilen: 1 Kor 6,5 („richten“, im Sinne von Streit schlichten), 14,29 („beurteilen“). Gott als Richter, „Kritiker“ (gr. Verb krinein) wird z.B. genannt in Joh 5,22; 2 Thes 2,12; 2 Tim 4,1; Jak 5,9;1 Pt 2,23; 4,5; Hbr 10,30; 13,4.
Die Weisheit Salomos zeigte sich vor allem auch in seinem Vermögen zu unterscheiden, richtig zu beurteilen, Probleme zu lösen. 1 Kön 3,9: „So wollest du deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, damit er dein Volk richten könne und verstehe, was gut und böse ist“. Auch Jesus sprach implizit von der Fähigkeit des Unterscheidens. Mt 10,16: „Siehe, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen…“ Mt 24,4: „Seht zu, dass euch nicht jemand verführe“. Zuerst müssen die Gefahr und die Verführung erkannt werden, und dafür muss man dazu in der Lage sein, gut und böse, richtig und falsch zu unterscheiden.
Allgemein ruft das NT recht oft zum Prüfen auf: „Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist“ (Eph 5,10; s. auch Röm 12,2; Fil 1,10; 1 Thes 5,21). Wie will man diesen Geboten folgen, wenn man die Kritik als Unterscheidungsfähigkeit verachtet?
Kritik und Bibelkritik
Trotz biblischer Grundlage, die hier eben nur grob skizziert wurde, hat die Kritik ihr negatives Image unter Christen natürlich vor allem wegen der Bibelkritik erhalten. In Deutschland wurde Johann Salomo Semler (1725-1791) zu ihrem Begründer. Er meinte zwischen „Heiliger Schrift“ und „Wort Gottes“ genau unterscheiden zu können, „weil wir den Unterschied kennen… Zu der heiligen Schrift als historischer und relativer Begriff, wie ihn die Juden gebildet haben, gehört Ruth, Esther, Esra, das Hohelied etc., aber zum Worte Gottes, das alle Menschen in allen Zeiten weise macht zur Seligkeit, zum göttlichen Unterricht für die Menschen gehörten diese heilig genannten Bücher nicht alle.“ (Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, 1776)
Und Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) schrieb nicht weniger selbstbewusst über das AT: „Es ist gewiss kein Buch, keine Geschichte auf der Welt, die so voller Widersprüche wäre, und darin der Name Gottes so vielfältig und schändlich missbraucht würde: indem alle die Personen, die hier als Männer Gottes aufgeführt werden, einem ehr- und tugendliebenden Gemüte mit ihrem Betragen lauter Anstoß, Ärgernis und Abscheu verursachen…. Sie [die Geschichte, das AT] besteht aus einem Gewebe von lauter Torheiten, Schandtaten, Betrügereien und Grausamkeiten…“ (Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 1767/68)
Noch einflussreicher wurde schließlich Immanuel Kants (1724–1804) Sicht von Religion und Christentum. Im Streit der Facultäten (1794) stellt der Königsberger Philosoph dar, dass es Aufgabe der Philosophen ist, den Ursprung und Wahrheitsgehalt der christlichen Lehren „mit kalter Vernunft öffentlich zu prüfen und zu würdigen, ungeschreckt durch die Heiligkeit des Gegenstandes…“ Philosophen haben die „Freiheit“, den „Bibelglauben… jederzeit der Kritik der Vernunft zu unterwerfen“. Natürlich enthält die Bibel für Kant Fehler, „denn die heiligen Schriftsteller können als Menschen auch geirrt haben“. Die Vernunft ist nach Kant berechtigt eine „Schriftstelle so auszulegen, wie sie es ihren Grundsätzen gemäß findet…“ Die Vernunft ist alleingültiger Maßstab in allen Dingen. Religion muss daher „a priori aus der Vernunft entwickelt werden“ („Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten“). Die Vernunft (und nicht die Bibel selbst!) legt fest: „Alles kommt in der Religion aufs Thun an“.
In der kleinen Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren? bringt es der Philosoph auf den Punkt: „Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompass, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren… kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt werden muss.“
Die Vernunft ist „der letzte Probierstein der Wahrheit“. So wundert es nicht, dass Kant die Trinität, Jungfrauengeburt, Jesu Sündlosigkeit, seine Wunder, sein stellvertretendes Leiden, seine Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkunft verwarf. Kant sah immer noch einen Platz für den „Kirchenglauben“ vor, und Gott lehnte er auch nicht ab – im Gegenteil. Aber er ‘predigte’ eine „Religion des guten Lebenswandels“ und eine Moral des autonomen Menschen – mit dem Christentum hatte diese aufklärerische Religion nichts mehr gemein.
Spätestens seit Kant ist die Kritik unter theologisch konservativen Christen diskreditiert. Das Problem ist aber, dass Kant den Frommen ja eine Hintertür offen ließ. In der Kirche dürfe man auch weiterhin ‘unvernünftig’ glauben. Kant wollte den Christen gar nicht all ihre Dogmen nehmen. Diese hätten jedoch nur nichts mit vernünftiger Wahrheit zu tun. Dies führte letztlich dazu, dass im Bereich der Wissenschaften, an den Hochschulen, sich die Vernunft austoben darf, dort darf sie herrschen; daneben steht der ‘naive’ Gemeindeglauben, die persönliche Frömmigkeit usw., wo Vernunft und Kritik nichts verloren haben.
(Kritisch zur Aufklärung Daniel von Wachters Beiträge „Der Mythos der Aufklärung“ hier und hier.)
„Theologische Aufklärung“
Die Wichtigkeit der Aufklärung für die Theologie betont vor allem Friedrich Wilhelm Graf, der bis zum vergangenen Jahr evangelische Theologie in München unterrichtete. In Götter global schreibt der bekannte Theologe: „Soll religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung kompatibel sein, muss er sich selbst begrenzen können und zivilisieren… Dazu bedarf es zunächst der Erinnerung an das Projekt Aufklärung… Unbeschadet der großen Variationsbreite des Begriffs bedeutet Aufklärung immer das jedem einzelnen Menschen zustehende fundamentale Recht auf Kritik der Religion. Ohne Religionskritik und vernunftgeleitete Kritik kirchlicher Dogmen und Zeremonien ist Aufklärung nicht denkbar.“
Graf teilt seinen Lesern leider mit keinem Wort mit, dass, wie wir sahen, die Religionskritik schon in der Bibel selbst wurzelt; dass es also nicht unbedingt der Aufklärung ab dem 17. Jahrhundert bedurfte, um sich zu begrenzen. Kritik von Dogmen und Zeremonien ist genauso wenig eine Erfindung der Aufklärung.
In seiner Abschiedsvorlesung „Theologische Aufklärung“ an der LMU stellte Graf seine Sicht der Kritik deutlich dar. Auch wenn über die genaue Eigenart der Aufklärung diskutiert wird – einig, so Graf, „ist man sich darüber, dass sich religiöser Glaube nun [von der Aufklärung an] vor dem Richterstuhl der Vernunft zu rechtfertigen habe, dass nichts als gültig oder verbindlich mehr anerkannt werden soll, was sich nicht als rational stringent erweisen lässt. Deshalb vollzieht sich theologische Aufklärung als kritische Analyse religiösen Bewusstseins, speziell kirchlicher Religion.“ Das Ergebnis dieses Ansatzes war „freie Lehrart“, „freie Theologie“, „liberale Theologie“, „moderne Theologie“ und „kritische Theologie“.
Graf selbst gesteht ein, dass es eine epochalen Bruch in der Sicht der Theologie gab: „Theologische Aufklärung“ bedeutet ein „grundlegend neues Selbstverständnis von Begriff und Aufgabe der Theologie“. Und konkret: „Theologie [ist] nun keine Wissenschaft von Gott mehr, die aus Gott selbst stammende ewige Wahrheiten oder eine supranatural vorgegebene Offenbarung auszulegen hätte. Sie ist weiterhin keine dogmatische Reproduktion irgendeiner vorgegeben Kirchenlehre… Das entscheidende Instrument dazu heißt Kritik, und diese Kritik vollzieht sich vor allem als Historisierung.“
Dieses Denken hat zu dem Mantra „Kein zurück hinter die Aufklärung!“ geführt. Warum wird so eine These nicht ab und an einmal kritisch hinterfragt? Muss man aus biblischer Perspektive nicht festgehalten: die Vernunft hat nirgendwo zu herrschen, auch sie selbst ist der Kritik zu unterwerfen; aber nicht bloß im kantschen Sinne, sondern der Kritik des Wortes Gottes. Die Kritik hat eine dienende Funktion, in Wissenschaft, aber auch in der Gemeinde. Wir müssen die Kritik der kantschen Gefangenschaft entreißen, denn wir brauchen sie dringend. Vier Bereiche seien hier abschließend nur kurz genannt.
„Kritisches Mitdenken einüben“
Kritik der Machthabenden. Schon die ersten Christen waren eine kritische Minderheit im Römischen Reich. Sie lehnten den Kaiserkult ab, waren nicht immer der Obrigkeit gehorsam. Oliver O’Donovan fordert, dass die Kirche bis heute eine „gefährliche Stimme“ in Staat und Gesellschaft zu sein hat, eine kritische Stimme gegenüber Mächtigen.
Kritik der Kultur. Eine der wohl wichtigsten Aufgaben der Kirchen heute ist eine tiefgehende Analyse und Kritik der uns umgebenden Kultur und Weltanschauungen. Welchen Einfluss haben sie auf uns? Wo können wir lernen, wo gilt es Gefahren zu erkennen?
Kritik der eigenen Lehre. Christen legen Gottes unfehlbares Wort aus. Aber diese Interpretationen sind immer fehlerhaft, unvollkommen. Kirchen selbst wie die hochgeachteten aus „Jerusalem, Alexandria, Antiochien“ und eben auch die aus „Rom“ begehen Fehler, „auch in Glaubensfragen“, wie es in den anglikanischen „39 Artikeln“ (19) heißt. Es gilt vor allem zu beachten, dass wir die Bibel immer durch die Brille einer kirchlichen Tradition lesen; unsere Bibelinterpretation ist auch immer mehr oder weniger stark durch unsere theologische und kirchliche Tradition gefärbt. Das heißt nicht, dass alles gleich wahr oder relativ ist. Dies bedeutet, dass wir für Veränderungen der eigenen Theologie, für Kritik anderer offen bleiben müssen.
Es sei an dieser Stelle betont, dass diese Kritik der Lehre nicht nur für Kirchen und Theologen wichtig ist. Selbstkritik ist auch für die persönliche Jüngerschaft, das Wachstum im Glauben, wichtig. Häufig haben auch Christen eine falsche Vorstellung vom Lernen, die Karl Popper einmal „Kübeltheorie“ nannte: immer mehr oben in den Kopf reintrichtern. Dieser Kopf (und das Herz) ist jedoch auch in geistlicher Hinsicht keineswegs leer! Wer Christ wird, hat schon eine komplette Theologie, nämlich eine bestimmte Auffassung über Gott, den Menschen, das Heil, den Sinn des Lebens, Moral usw. Das Problem ist nur, dass viele dieser persönlichen theologischen Lehren falsch, verzerrt usw. sind. Daher gilt es, diese Irrtümer aufzudecken und das bisherige Wissen zu korrigieren.
Kritik christlicher Bücher. Leider gehen auch Christen in Predigt und Texten mitunter schlampig mit Fakten und Daten um: anstatt Informationen sorgfältig zu prüfen, wird – so scheint es manchmal – alles, was man irgendwo gehört und gelesen hat, als Tatsache bzw. Wahrheit verkauft. Das gilt für wissenschaftliche und politische Nachrichten, aber leider auch für die Theologie selbst. Und auch in christlichen Büchern finden wir viele Behauptungen, Argumente und Meinungen. Wer hat recht, wem soll man glauben? Viel zu oft lassen sich Christen hier von bekannten Namen oder dem Bestseller-Status blenden.
Der evangelikale Wiener Historiker und Theologe Franz Graf-Stuhlhofer veröffentlichte vor ein paar Jahren ein Büchlein mit dem Titel Christliche Bücher kritisch lesen (1992 erschien schon seine kritische Analyse der Irrtümer der christlichen Endzeitpropheten: Das Ende naht!). Das Ziel dieses Arbeitsbuches: der mündige Leser. Stuhlhofer: „Der Leser soll beim Bücherlesen ein kritisches Mitdenken einüben. Er wird dann eher imstande sein, schwache Bücher als solche zu erkennen, und wird seine Zeit eher für die Lektüre von ‘starken Büchern’ investieren.“ Doch oft neigen gerade auch christliche Schreiber dazu, aus verschiedensten Gründen Argumente und Fakten einseitig darzustellen. Auf der anderen Seite sind die Leser, solange der Autor ihr Weltbild vertritt, äußerst nachsichtig wenn es um Ungenauigkeiten im Text geht: „Hauptsache, die wesentlichen Aussagen stimmen!“ Doch spiegelt sich darin die christliche Hochachtung der Wahrheit wieder??