Herrschaft der Liebe? („Offene Gesellschaft“ II)
[Bild o.: Popper im Gespräch mit Altkanzler Schmidt, 1992]
Rationalismus und Intellektualismus
Neben dem deutschen Vorwort [s. Teil I] sei noch auf das wichtige vorletzte Kapitel der Offenen Gesellschaft hingewiesen: „Die orakelnde Philosophie und der Aufstand gegen die Vernunft“ (Kapitel 14 im 2. Band). Popper bekennt sich dort zum Rationalismus (die von ihm ausgehende philosophische Strömung wird Kritischer Rationalismus genannt), betont aber gleich: „Die Ausdrücke ‘Vernunft’ und ‘Rationalismus’ sind vage“. Unter Rationalismus versteht er die „Einstellung der Vernünftigkeit“; eine Einstellung, „die möglichst viele Probleme durch einen Appell an die Vernunft, das heißt an klares Denken und an die Erfahrung zu lösen versucht, statt Gefühle und Leidenschaften aufzurufen.“ Es ist eine Einstellung, „die bereit ist, auf kritische Argumente zu hören und von der Erfahrung zu lernen. Es ist im Grunde eine Einstellung, die zugibt, daß ‘ich mich irren kann, daß du recht haben kannst und daß wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden’.“
Den falschen Rationalismus (und damit das, was wir gemeinhin darunter verstehen) bezeichnet Popper treffend als „Intellektualismus“. Er grenzt sich damit von der populären Ansicht ab, „nach der die Vernunft eine Art ‘Vermögen’ ist, das die Menschen in sehr ungleichem Ausmaße besitzen und entwickeln. Es ist wahr, daß nicht alle Menschen dieselben intellektuellen Gaben haben, und es ist auch wahr, daß die intellektuelle Begabung eines Menschen zu seiner Vernünftigkeit beitragen kann; aber das braucht nicht unbedingt der Fall zu sein. Intelligente Menschen können sehr unvernünftig sein; sie können sich an ihre Vorurteile klammern und den Standpunkt einnehmen, dass die Gedanken anderer Menschen nicht der Rede wert sind.“ (Ein gutes biblisches Beispiel ist hier natürlich König Salomo, der über einzigartige intellektuelle Fähigkeit verfügte – Weisheit, die Gott ihm schenkte – und doch später im Leben nicht wenige dumme Entscheidungen traf.)
Popper verwirft also den falschen Rationalismus, der zum Stolz auf die eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse führt. Er unterstreicht, dass „Vernünftigkeit (im Gegensatz zur Klugheit oder zum Besitz von intellektuellen Gaben) ein soziales Phänomen ist“, vertritt daher eine „soziale“ oder „interpersonelle Theorie der Vernunft“. Denn das Argument und „die Kunst, auf Kritik zu hören, sind die Grundlage der Vernünftigkeit“. Vernünftigkeit kann nur im sozialen Austausch wachsen und gedeihen. Der wahre Rationalist glaubt nach Popper an die „rationale Einheit der Menschheit“ und nicht an seine persönliche Vortrefflichkeit. Es ist die Einstellung, „daß wir jeden Menschen, mit dem wir uns verständigen, als eine potentielle Quelle von Argumenten und von vernünftiger Information betrachten müssen“.
Die Wurzeln des falschen Rationalismus reichen bis Platon zurück, der meinte: „Aber die Vernunft… kommt nur den Göttern und sehr wenigen Menschen zu“. Popper nennt dies rundheraus „autoritären Intellektualismus“, „Pseudorationalismus“ – er ist „das glatte Gegenteil“ des wahren „Rationalismus des Sokrates“, der „im Gewahrsein unser Beschränkungen“ besteht, „in der intellektuellen Bescheidenheit jener Menschen, die wissen, wie oft sie sich irren und wie sehr sie sogar in Bezug auf dieses Wissen von anderen abhängen.“ Die falschen Rationalisten glauben, dass sie „prächtige neue Welten“ planen können. Marx und die Kommunisten waren überzeugt, dass sie die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft und Wirtschaft, ja der gesamten Materie, erkannt haben und daher in der Lage sind, soziale Prozesse zu steuern und zu planen. Popper widerspricht dieser „Anmaßung von Wissen“ (wie Hayek es nannte): wir können nur Institutionen entwickeln, die „die Freiheit des Denkens sichern“.
Popper grenzt sich also von einem „umfassenden“ oder „unkritischen Rationalismus“ ab. Er ist auch deshalb ein kritischer (und das heißt eben auch zu kritisierender) Rationalismus, weil „alles, was in seinem [des Menschen] Leben wirklich wichtig ist, über die Vernunft hinaus[geht]“. Selbst Wissenschaftler binden sich durch eine emotionale Haltung an ihre rationale Einstellung. Und es ist die Intuition, „die den großen Wissenschaftler ausmacht, und nicht sein vernünftiges Denken.“ Popper begründet die eigene Ansicht letztlich mit dem „Glauben an die Vernunft der Anderen“; die Einstellung der Vernünftigkeit beruht auf einer „moralischen Entscheidung“.
„Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle“
Nach dieser Klärung der Begriffe kommt Popper wieder zu seinem Thema der politischen Philosophie. Die Frage „Wer soll herrschen?“ hat er ja, auf Personen gemünzt, als relativ unwichtig verworfen. Hier wirft er sie nun wieder in einem anderen Kontext auf: Wer soll herrschen – die Vernünftigkeit oder die Liebe?
Die oben geschilderte Einstellung der Vernünftigkeit beinhaltet nicht, dass alle Menschen tatsächlich gleich sind, denn schließlich unterscheiden sich Menschen in ihren Fähigkeiten teilweise sehr. Der rationale Austausch, die Offenheit für Kritik usw. benötigt jedoch eine Grundlage: die Gleichheit vor dem Gesetz. Diese ist, so Popper, „keine Tatsache, sondern eine politische Forderung, die auf einer moralischen Entscheidung beruht.“
Das Recht soll herrschen, und dieses Recht muss für alle gleich sein. Die Ablehnung der politischen Gleichberechtigung nennt Popper „verbrecherisch“. „Denn eine solche Einstellung liefert eine Rechtfertigung für die Idee, daß Menschen verschiedener Kategorie verschiedene Rechte besitzen“. Dann werden Gruppen von Menschen nicht mehr als mögliche Quelle von Argumenten gesehen, sondern ganz schnell von der Meinungsäußerung und Mitbestimmung ausgeschlossen.
Wenn nun aber nicht die Vernünftigkeit herrscht, nicht der geläuterte Rationalismus, sondern der Irrationalismus und die Leidenschaften, dann, so Popper, kann es der Irrationalismus kaum verhindern, „in eine Haltung verstrickt zu werden, die der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen zuwiderläuft. Dies hängt eng damit zusammen, daß er den Gefühlen und Leidenschaften eine so große Rolle zuschreibt; denn wir können nicht jedem Menschen gegenüber dieselben Gefühle empfinden. Gefühlsmäßig sind die Menschen eingeteilt in Individuen, die uns nahestehen, und Individuen, die uns fernestehen… Auch der beste Christ… kann nicht gleiche Liebe für alle Menschen empfinden. Wir können nicht ‘in abstracto’ lieben; wir können nur jene Menschen lieben, die wir kennen. Daher kann auch der Appell an unsere besten Gefühle, der Appell an Liebe und an das Mitleid, nur zu einer Aufteilung der Menschheit in verschiedenen Kategorien führen.“ Die „natürliche“ Reaktion ist dann die Aufteilung in Freund und Feind, in diejenigen, die zu unserer „emotionalen Gemeinschaft“ gehören und diejenigen, die außerhalb dieser stehen.
Popper führt schließlich noch klarer aus: „Einen Menschen lieben bedeutet, daß man ihn glücklich machen will… Aber von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste. Ein solche Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen unsere Ordnung ‘höherer’ Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten erscheinen“. Doch „der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle.“
Natürlich hat Popper nichts gegen die Liebe als solche. Es ist nur die Frage, welche Rolle sie an welchem Ort spielen kann und soll. Berechtigte Sorge um das Glück anderer, so Popper, ist ein Privileg, „das auf den engsten Kreis der Freunde beschränkt bleibt“. Hier wären natürlich auch Ehe und Familie sowie die christliche Gemeinde zu ergänzen. Im Staat dagegen geht es darum, Gewalt und Ungerechtigkeit zu verhindern. Er soll den Frieden garantieren und sichern – mehr nicht. Er hat in diesem Sinne in erster Linie ein negatives Ziel. Die positiven Ziele sind demgegenüber vor allem dort zu verfolgen, wo man sie – ohne Zwang – erreichen kann, eben in Familie, Freundeskreis, Kirche usw. Noch einmal Popper: „Es ist unsere Pflicht, denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen; aber es kann nicht unsere Pflicht sein, andere glücklich zu machen, denn dies hängt nicht von uns ab und bedeutet außerdem nur zu oft einen Einbruch in die private Sphäre jener Menschen, gegen die wir so freundliche Absichten hegen.“ Auf diesem Hintergrund ist auch Poppers Interpretation des biblischen Gebots der Feindesliebe zu verstehen: „Helft euren Feinden; steht denen bei, die sich in Not befinden, auch wenn sie euch hassen; aber liebt nur eure Freunde.“
Das ‘Problem’ der Liebe ist also, dass sie parteiisch ist. In der Ehe ist dies am offensichtlichsten: man liebt eben nur den einen Ehepartner in dieser besonderen Weise. Nur im kleinen Rahmen, z.B. im Umgang mit den eigenen Kindern, ist die ‘parteiische’ Liebe mit der Gerechtigkeit wirklich in Einklang zu bringen: auf ein paar Personen ist elterliche Liebe noch halbwegs gleich und gerecht ausdehnbar. Wer gleichsam im großen Maßstab ‘alle’ liebt und die Liebe wie mit einer Gießkanne über sie ausgießt, der liebt ja tatsächlich niemanden mehr. Deshalb gibt Popper zu bedenken: „Wer an eine direkte Herrschaft der Liebe glaubt, der solle bedenken, daß die Liebe als solche die Unparteilichkeit sicher nicht fördert.“ Wenn die Vernünftigkeit als maßgebliche Einstellung der Herrschenden ausfällt und wenn „die mehr konstruktiven Gefühle und Leidenschaften“ wichtige Problem nicht lösen können, „was bleibt da dem Irrationalisten anderes übrig, als an andere und weniger konstruktive Gefühle und Leidenschaften zu appellieren – an die Furcht, den Haß, den Neid und schließlich an die Gewalt?“ Beispiele in der Geschichte finden sich hier genug: staatlich gesäter Haß auf Juden, Kulaken usw. Popper folgert daher, „daß die Lehre, daß nicht die Vernunft [also die Vernünftigkeit], sondern die Liebe herrschen solle, denen Tür und Tor öffnet, die durch Haß regieren.“
(Es ist einzugestehen, dass z.B. Philanthropen Bill und Melinda Gates im wahrlich großen Maßstab lieben: über ihre Stiftungen tun sie mit Milliarden Dollar sehr viel Gutes, vor allem im Bereich der Seuchen- und Krankheitsbekämpfung. Natürlich ist dies eine ‘ferne’ Liebe, da vielen Millionen Menschen geholfen wird, über deren persönliche Schicksale den Geldgebern meist kaum etwas bekannt ist. Doch die Parteilichkeit der Liebe bleibt ja auch hier, und in diesem privaten oder genauer: zivilgesellschaftlichen Rahmen ist dies völlig angemessen. Die Stifter legen ihre eng umgrenzten Ziele fest und entscheiden sich damit gegen andere Ziele. Sie sagen gleichsam: dieser Gruppe von Menschen tun wir nun in besonderem Maße Gutes, und dieser nicht – genauso wie man sich auf der ganz persönlichen Ebene entscheidet: diese Person – und nicht alle möglichen – liebe ich. Die Kanzlerin dagegen kann nicht einfach sagen: ich nehme einige Milliarden und löse nun das Malaria-Problem, und das HIV-Problem und diverse andere nicht. Wir empfinden ja auch, dass der Staat unparteiisch handeln – und helfen sollte. Das führt dann oft zum Gießkannenprinzip: allen ein bisschen. So will man unparteiisch und liebevoll-parteiisch zugleich sein. Sinnvoller ist es, privaten Initiativen, Stiftungen, Hilfswerken großen Raum einzuräumen, damit diese sich ihre konkreten Ziele setzen, die sie auch verfolgen können, da sie mit eigenen Geldern bzw. Spenden umgehen und daher auf eine sinnvolle Verwendung viel stärker achten als staatliche Stellen.)
Damit ergeben sich manche Parallelen zur christlichen Zwei-Reiche-Lehre. Danach wird das „geistliche“ vom „weltlichen Regiment“ Gottes unterschieden. So herrscht in der Kirche das Wort, in der Obrigkeit dagegen das „Schwert“, das für die staatliche Zwangsgewalt steht. Der biblische Begriff „Schwert“ macht allein schon deutlich, dass die Liebe im eigentlichen Sinn im Staat gleichsam nicht zu Hause ist. Vor dem Schwert der Justitia, vor der Gewalt des Staates sind alle gleich. Die Obrigkeit liebt mich nicht, und dies soll sie auch nicht. Sie soll eben Recht verschaffen und mich schützen – und natürlich nicht parteiisch sein. Wir empfangen durch die Obrigkeit natürlich Gutes (sie arbeitet uns zu Gute, s. s.Röm 13,4), aber dies Gut besteht nicht so sehr in materiellen Leistungen, sondern im Schutz des Rechts wie auch der und Polizei und des Militärs.
Luther, der die Zwei-Reiche-Lehre in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523) erläuterte, bezeichnet die Nächstenliebe als die große Klammer auch um die Handlungen der Obrigkeit. Der Christ bräuchte um seiner selbst willen die strafende Obrigkeit eigentlich nicht, aber um den Nächsten zu dienen – also aus selbstloser Liebe heraus – beteiligt er sich am Handeln des Staates. Doch diese Liebe ist natürlich ein Liebe in weiterem Sinne und von derjenigen, über die Popper sprach, zu unterscheiden. Dies ist offensichtlich, wenn Luther meint, in einem gerechten Krieg sei es „christlich und ein Werk der Liebe, die Feinde getrost zu würgen, zu rauben und zu brennen“. Er fordert von den Fürsten, also den Herrschenden, zwar auch Gottvertrauen und „Liebe und christlichen Dienst“, aber im Umgang mit den „Gewaltigen“, allen Mächtigen, in erster Linie „freie Vernunft und unbefangenen Verstand“ (die Vernünftigkeit Poppers); gegenüber Gesetzesbrechern sollen sie mit „Ernst und Strenge“ vorgehen.
Die Versuchung des Sozialismus und die Mühsal des Liberalismus
Popper sah sich, wie schon gesagt, in der Tradition des klassischen Liberalismus britischer Prägung, der die Freiheit als Wert heraushebt. Freiheit geht jedoch einher mit einem gewissen Maß an Unsicherheit. Denn völlige Sicherheit ist nur mit einer massiven Einschränkung der Freiheit zu erreichen, dies gilt für Polizeimaßnahmen im Hinblick auf die innere Sicherheit und vor allem auch für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Anhänger und Propheten der geschlossenen Gesellschaft sehnen sich nach der Sicherheit des Stammes, der Horde, der Sippe, des Kollektivs, nach der „angeblichen Unschuld und Schönheit der geschlossenen Gesellschaft“ – eine Art Sehnsucht nach einem paradiesischen, harmonischen Urzustand.
Das große Versprechen des Sozialismus ist nun: wir können zurück; Sicherheit ist möglich. Dafür muss das Individuum radikal entmachtet werden, und das heißt vor allem auch Entmachtung des Besitzes und Kapitals – Gemeinwirtschaft. Der Marxismus lehrt darüber hinaus: der Kommunismus wird gewiss kommen, der Kapitalismus zusammenbrechen; und wir sind dazu in der Lage, diese paradiesische Gesellschaft zu planen und zu gestalten. Dafür muss nur der die Arbeiterklasse vertretenden Partei die Führung überlassen werden.
Popper war hingegen überzeugt, dass es kein Zurück in den harmonischen Urzustand mehr gibt. Wenn in komplexen Großgesellschaften Individuen nach ihren Wünschen, Werten und Plänen handeln, dann wird das Ergebnis nicht ein idyllisches Kollektiv sein – zu unterschiedlich sind freie Menschen. Zwischen Bürgern mit unterschiedlichen Vorstellungen und Ideen muss es zu Spannungen, Diskussionen und auch Konflikten kommen. Man muss nur dafür sorgen, dass diese Auseinandersetzungen friedlich, ohne Gewalt, ausgetragen werden. Damit skizziert Popper ein nüchternes Bild. Träume von Weltbeglückung müssen die Herrschenden aufgeben. Für sie wir für die Bürger gilt: „Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten…“, so ganz am Ende des 1. Bandes.
Natürlich braucht der Mensch zum Leben Sicherheit. In einem hohen Maße bietet sie die Familie (s. z.B. Frank Schirrmachers Minimum) wie auch die christliche Gemeinde. In dieser wird das Leben bestimmt von der Gewissheit, dass der Gläubige Eigentum seines Herrn ist und von diesem bewahrt wird – bis zu ewigen Seligkeit. Der Staat hat auch für Sicherheit zu sorgen: innere und äußere sowie die Rechtssicherheit.
Der klassische Liberalismus anerkennt diese Ordnungen mit ihren unterschiedlichen Funktionen. Der Sozialismus hingegen will mehr: die nur begrenzte Sicherheit in den jeweiligen Ordnungen ist ganz und gar unzureichend; er bietet ein umfassendes ‘Sicherheitspaket’. Wie beim Marxismus offensichtlich ist (und auch bei den frühen utopischen Sozialisten wie Saint-Simon schon zu sehen war), wird damit ein christliches Heilsversprechen gleichsam säkularisiert: die Sicherheit in Gott, schon jetzt von Jesus zugesichert („… und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“, Joh 10,28) und endgültig im Jenseits, wird ins Diesseits gezerrt. Damit gerät die Balance der Schöpfungsordnungen durcheinander und geradezu automatisch bläht sich der Staat als DER Sicherheitsgarant gewaltig auf. Popper dagegen forderte einen „Mini-Staat“.
Das zweite Versprechen des Sozialismus neben Sicherheit: eine Großgesellschaft im Geist der Liebe, eine Welt der Brüderlichkeit ist möglich. Und wieder entgegnen die Liberalen nüchtern: Nein, Brüderlichkeit, selbstloses Teilen, Altruismus, Solidarität und Nächstenliebe sind auf der Ebene der ‘kleinen’ Welt beheimatet, d.h. hier werden sie zuerst und ihrem ganz Wesen nach verwirklicht. Denn hier, auf der Ebene der persönlichen Beziehungen, können wir uns konkret um das Wohlergehen anderer Menschen kümmern. Hier kennen wir wirklich den Mitmenschen – wenn natürlich auch begrenzt und unvollkommen. Im Maßstab der Großgesellschaft geht es darum, drastisch gesagt, dass man sich nicht gegenseitig die Schädel einschlägt und friedlich miteinander auskommt.
Poppers Freund Friedrich August von Hayek erkannte das Kernproblem allen sozialistischen Denkens genau. Er nahm dazu auch in seinem letzten Buch (Die verhängnisvolle Anmaßung / The Fatal Deceit) Stellung: die Regeln und Verhaltensweisen der kleinen Welt werden der großen übergestülpt. Oder am Obigen anknüpfend: die Liebe soll überall herrschen. Um gleich ein biblisches Beispiel zu gebrauchen: Der ‘Sozialismus’ (oft „Ur-Kommunismus“ genannt) der Urgemeinde in Apostelgeschichte 4 – radikales, selbstloses Teilen, Gütergemeinschaft, Brüderlichkeit – funktionierte auf dieser Ebene des Kennens von Angesicht zu Angesicht durchaus; dort herrschte die Liebe in einem umfassenden Sinn. Auch ein Liberaler wie Hayek hatte hier sicher keinerlei Einwände. Hier wussten die Menschen um die Bedürfnisse der anderen und die eigenen Möglichkeiten; hier herrschte ein Geist der Liebe und der Freiheit, denn die einzelnen Gemeindeglieder trafen persönliche und freie Entscheidungen über ihr Teilen.
Der fatale Fehler besteht nun, wie gesagt, darin, diese Prinzipien auf die Großgesellschaft zu übertragen. Da der Einzelne nun nicht mehr in Freiheit die Entscheidung des Teilens treffen kann, wird hier mit Zwang gearbeitet. Gütergemeinschaft, persönlich und freiwillig gewählt, ist ein legitimer Weg; doch von oben für alle mit Zwang vorgeschrieben ist sie nur zu verwerfen, da Menschen, Individuen, so ihrer Rechte, ihres Eigentums usw. beraubt werden. Schon Frédéric Bastiat begriff in Auseinandersetzung mit den frühen Sozialisten, dass sich Brüderlichkeit nicht per Gesetz verordnen lässt; die Nächstenliebe, mit dem Zwang des Gesetzes durchgesetzt, hört auf, wirkliche Nächstenliebe zu sein.
Der Sozialismus ist deshalb so attraktiv, weil er in Aussicht stellt, die Brüderlichkeit auf einer weiteren und höheren Ebene tatsächlich durchzusetzen – in ganzen Nationen, ja in der ganzen Welt. Es ist durchaus angebracht, den Sozialismus als eine Art System der kollektivierten oder verstaatlichen Nächstenliebe zu bezeichnen. Doch diese Nächstenliebe ist überhaupt keine Nächstenliebe, sondern führt letztlich zu einem menschenverachtenden System der Zwangsbeglückung.
Liberalismus wie Sozialismus sind nicht zufällig auf dem Hintergrund des Christentums entstanden. Der Liberalismus wurzelt in christlichen Vorstellungen wie jüngst der große Larry Siedentop aus Oxford mit seinem Abriss von der Antike bis zu Renaissance in Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism zeigte. Viele Liberale wie Popper und Hayek waren und sind keine Christen (beide bezeichneten sich als Agnostiker), doch meist anerkannten sie die wichtige Rolle von Religionen und konkret der Kirchen. Konsequent zu Ende gedacht braucht der Liberale Gott (s. Jay W. Richards „Why libertarians need God“). Absolute Wahrheit, Menschenwürde, Freiheit und Verantwortung – solche Grundwerte sind in einem atheistischen Rahmen nur schwer zu begründen.
Der Sozialismus wird gerne in der Nähe des Christentums gesehen. Nächstenliebe, Sorge um das Wohl der Armen, „soziale Gerechtigkeit“ – sozialistische Politik setzt sich dafür ein, und das ist doch wohl auch christlich. Allein der Name spricht ja schon Bände: Wir kümmern uns um das Soziale, die Gemeinschaft; die Liberalen dagegen wahren nur die egoistischen Interessen des ‘nackten’ Individuums. Das Gute und die Moral sind auf unserer Seite, so geben seit zweihundert Jahren die Sozialisten zu verstehen. Doch dies ist nichts anderes als ein Mythos, eine Mär.
Kernvorstellungen des Liberalismus sind sehr langsam, über eintausend Jahre, aus dem christlichen Nährboden herausgewachsen (das ist Siedentops Botschaft); der Sozialismus hingegen kam als plötzlicher Dieb daher. Er schmückt sich mit manchen Federn des Christentums, aber er ist letztlich eine Heilslehre. Er hat Elemente des christlichen Glaubens genommen und sie in Bereiche verpflanzt, wo sie nicht hingehören. Der Staat soll nicht zu meinem Heil wirken (oder mir möglichst viel Gutes tun) – das ist Job von Kirche und Familie. Und in jedem Betrieb gilt: stimmen die Ergebnisse, soll der Chef seine Mitarbeiter ruhig mit Wohltaten überschütten. Doch das Heil, das Glück, das umfassend Gute hat im Staat nichts verloren. Wird dies nicht beachtet, landet man bei einer staatlichen Monsterbürokratie, die die Freiheit mehr und mehr erstickt.
Selbst in der deutschen, d.h. der gemäßigten und meist nicht ideologisch daher kommenden Variante, sind die Ergebnisse heute haarsträubend: die Bürokraten der Arbeitsministerin wollen den Spint für Büroangestellte zur Vorschrift machen, das Tageslicht auf Toiletten und in Teeküchen muss her, und auch der Heimarbeitsplatz am PC muss blendfrei gestaltet werden. In Baden-Württemberg werden Häusle-Neubauer wohl dazu verdonnert werden, einen überdachten Fahrradstellplatz am Haus einzurichten – und das Haus zu begrünen. Die Zwangsbegrünung ist Frucht der allgemeinen Zwangsbeglückung, die aber dummerweise immer attraktiver erscheinen wird als der wirklichkeitsnahe und nüchterne Liberalismus. Politiker, die einem versprechen, was sie uns alles Gutes (an)tun werden, sind populärer als diejenigen, die zur Eigenverantwortung in Freiheit aufrufen. Das wird immer die Mühsal des Liberalismus bleiben.
(Fortsetzung folgt)