Stolperdraht

Stolperdraht

Gestern ging eine der bisher größten Militärübungen in Litauen zu Ende: „Iron Sword“ – das eiserne Schwert. An dem NATO-Manöver nahmen etwa zweieinhalbtausend Soldaten mit dreihundert Fahrzeugen aus neun Nationen – darunter Estland, Tschechien, Ungarn, Kanada, die USA – teil. Die Streitkräfte Litauens organisierten die zweiwöchige Übung auf zwei Truppenübungsplätzen (einer ist nach dem ersten Armeechef des unabhängigen Litauens ab 1920 benannt: Silvestras Žukauskas, Mitglied übrigens der reformierten Kirche).

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Erstmals beteiligte sich auch die Bundeswehr mit Landstreitkräften an einer Übung im Osten der Allianz. Die ersten Deutschen kamen schon am 5. Oktober nach Pabradė, um alle technischen Vorbereitungen zu treffen. Am Manöver nahmen dann 150 deutsche Soldaten teil: eine Aufklärungseinheit, die auch Drohnen im Gepäck hatte; und Panzerpioniere mit Fennek-Spähwagen (siehe Foto oben), Bergepanzern, Fuchs-Transportpanzern. Insgesamt brachte die Bundeswehr 70 Fahrzeuge mit. „Deutsche Panzer in Litauen“ titelte das „Neue Deutschland“ – erstmals wieder seit dem II Weltkrieg, wie es mit warnendem Zeigefinger hieß. Und wieder ‘gegen’ die Russen?

Das Manöver ist Teil der sogenannten Reassurance-Maßnahmen, die das NATO-Bündnis im September bei seiner Tagung in Wales beschlossen hat. Bereits im Frühjahr, kurz nach Beginn der Ukraine-Krise, waren zahlreiche Unterstützungsmaßnahmen für die Mitgliedsländer im Osten angekündigt worden. Schließlich hatten diese angesichts des russischen Vorgehens auf der Krim und in der Ost-Ukraine auf mehr Unterstützung des Bündnisses gepocht.

Verstärkt wurde z.B. die Luftüberwachung des Baltikums. Vier Kampfjets sind  zusätzlich in Estland stationiert, und von der Basis in Zokniai bei Šiauliai steigen nun Maschinen aus zwei Nationen auf. Zur Zeit sind hier noch bis Dezember für das Air Policing Einheiten aus Kanada und Portugal verantwortlich.

Offiziere dieser beiden Luftstreitkräfte nahmen auch an der 10-Jahres-Feier der Luftraumüberwachung durch die NATO teil. Im September war der Saal der Bezirksbibliothek in Šiauliai voll. Denn es wurde auch ein Buch vorgestellt und anschließend verteilt, das in zahlreichen Artikeln auf die zehn Jahre mit den Einheiten aus den NATO-Ländern zurückblickt.

Der Anfang 2004 war sehr schwer. Die Zokniai-Basis ist zwar riesig groß – ein Erbe der Sowjetunion, war aber in einem sehr bescheidenen Zustand. Das Vorabkommando der Belgier wollte daher Ende März 2004 die eigenen F-16 Jets gar nicht landen lassen. Ein belgischer Offizier kaufte Farbe für die fehlende ordentliche Markierung der Start- und Landebahn in einem Baumarkt. Am nächsten Tag mussten die Linien drauf sein, ansonsten keine Jets – so das strenge, aber unvermeidliche Ultimatum. Und zu allem Unglück regnete es auch noch. Nun zeigte sich aber das Improvisationstalent der Litauer: Man nahm ein Heizungsgerät für Flugzeugturbinen und trocknete damit abschnittsweise die Bahn, trug die Farbe auf und trocknete diese – und am 29. März konnten die belgischen Maschinen landen und die Luftüberwachung beginnen. Nichts ist unmöglich. (Bild ganz o. die Bahn von Zokniai heute.)

Inzwischen haben vierzehn Nationen am Air Policing teilgenommen. Fünf Mal waren die Deutschen bisher dabei, meist mit Phantom F-4 Jets – über vierzig Jahre alt, ziemlich laut, aber bei Piloten wegen hervorragender Flugeigenschaften sehr beliebt. Auch Polen und Amerikaner waren schon öfter da, neu kommen nun noch Ungarn und Italiener hinzu. Die bisher einzige Pilotin kam übrigens aus der Türkei. 150 Millionen Euro an NATO-Mitteln wurden in Zokniai investiert: 3,5 Millionen zahlen die baltischen Staaten selbst für den Unterhalt im Jahr.

Die Zusammenarbeit zwischen den litauischen Einheiten und den NATO-Truppen klappt in Šiauliai und genauso bei den Manövern sehr gut. Und auch in der Gesellschaft gibt es praktisch keine kritischen Stimmen. An das Gedröhne über einzelnen Stadtvierteln hat man sich gewöhnt. Und die NATO-Soldaten engagieren sich traditionell intensiv in sozialen Projekten.

Was soll aber das Ganze, so fragen Skeptiker, wenn doch das Baltikum mit konventionellen militärischen Mitteln gar nicht zu verteidigen ist? Hat Putin nicht Recht, wenn er sich brüstet, in ein paar Tagen bis zur Ostsee vorrücken zu können? Etwa 20.000 Soldaten in den drei Ländern insgesamt, um ein Gebiet von der Größe Bayerns zu schützen – wie soll das gehen?

Das Baltikum ist tatsächlich strategisch schlecht gelegen. Aber noch schlechter lag West-Berlin. Ohne große Probleme hätte die NVA allein die freie Stadt besetzen können. Konkrete Einsatzpläne dafür lagen vor, wie man heute weiß. Bewusst hatten jedoch die Alliierten ihre Truppen mit schweren Waffen in der Stadt stationiert: allein 6000 US-Soldaten. In Berlin wurde gleichsam ein straffer Stolperdraht gespannt: Wenn sich der Ostblock über West-Berlin hermachen wollte, sollte dies nicht im Spaziergang geschehen. Zur glaubhaften Abschreckung übten die Alliierten auf einem Areal in Mauernähe sogar den Häuserkampf.

1940 musste Litauen die Rote Armee einfach ins Land einziehen lassen. Bis heute ein Trauma. Damals hatte man keine Verbündeten, heute ist Litauen fest in ein Verteidigungsbündnis eingebunden. Man kann auf die Hilfe der westlichen Freunde setzen, muss aber auch die Hausaufgaben machen. Und dazu gehört ebenfalls das Üben des Häuserkampfs.

Vor genau vier Wochen wachte man in Šiauliai morgens um halb Acht durch Maschinengewehrfeuer auf. An dem Wochenende übte ein Battalion der litauischen Freiwilligenverbände, also eine aktive Reserve zusätzlich zur Berufsarmee (etwa 4500 insg.), Kampfsituationen in der Stadt selbst. Bisher stand so etwas nicht auf dem Übungsplan – die Ost-Ukraine lässt grüßen. Natürlich wurden nur Platzpatronen verschossen und künstlicher Rauch erzeugt.

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Manöver mitten in der Stadt: am 18./19. Oktober in Šiauliai

An dem Samstag wurde auf dem Gelände von mehreren Schulen den Bürgern Gelegenheit gegeben, die Einheiten zu treffen und ihre Ausrüstung kennenzulernen (s.u. Fotos). Die litauischen Streitkräfte verstehen sich als Bürgerarmee und legen nun viel Wert auf Kommunikation. Für die Berufsarmee und die Freiwilligen muss schließlich auch Werbung gemacht werden. Und man signalisiert den Mitbürgern, dass man zu ihrem konkreten Schutz da ist.

So auch der NATO-Oberbefehlshaber für Nord- und Osteuropa, der deutsche Hans-Lothar Domröse gegenüber der „Welt“ zu den jüngsten Manövern: „Wir sind da, wenn ihr in Gefahr seid, das wollen wir demonstrieren“. Der Viersternegeneral: „Es ist aber für uns wichtig, die Balance zu halten, dass sich die Bevölkerung hier geschützt fühlen darf, aber Präsident Putin nicht behaupten kann, dass er bedroht werde.” Auf die Einhaltung des NATO-Russlandvertrages werde daher streng geachtet: Truppen des Bündnisses dürfen danach nicht fest in den östlichen Mitgliedsländern stationiert werden, wechselnde Kräfte größer als in Brigadestärke (5000 bis 6000 Soldaten) nicht gleichzeitig dort sein.

Keine Truppenstationierungen in Osteuropa, aber mehr Übungen und Manöver auf rotierender Basis. So lautet die Kompromissformel zur stärkeren Präsenz der NATO in Osteuropa. Beschlossen wurde in Wales als Reaktion auf die Ukraine-Krise auch eine „Speerspitze“ genannte schnelle Eingreiftruppe. Die Einheit von mindestens 5000 Mann wird wohl erst 2016 voll einsatzfähig sein. Bis dahin wird im kommenden Jahr eine Übergangseinheit auf Basis des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster diese Funktion in Teilen ausüben. Hoffen wir, dass Putin die rote Linie der NATO-Ostgrenze nicht überschreitet. Denn dann hieße es tatsächlich auch für Bundeswehrsoldaten: Sterben fürs Baltikum.

Vor zwei Monaten bei „Maybrit Illner“ im ZDF war die Ukraine Thema. Richard David Precht kritisiert damals die rhetorische Mobilmachung der NATO, nannte den damaligen NATO-Chef Rasmussen eine Knalltüte, sprach von gefährlicher rhetorischer Brandstiftung (auch auf den Bundespräsidenten gemünzt), die oft Anfang von umfassender Brandstiftung sei. EU-Parlamentspräsident Schulz wandte sich in der Sendung ebenfalls deutlich gegen verbale Aufrüstung. Inzwischen sind wir schlauer geworden. Selbst der ‘weiche’ Stoltenberg, Rasmussens Nachfolger im Amt, nimmt kein Blatt mehr vor den Mund. „Spiegel Online“ heute: „In der “Bild”-Zeitung warf Stoltenberg Putin vor, das Aufflammen des Konflikts in der Ukraine befördert zu haben. “Wir haben in den letzten Tagen beobachtet, dass Russland erneut Waffen, Ausrüstung, Artillerie, Panzer und Raketen über die Grenze in die Ukraine gebracht hat”, sagte er. “Präsident Putin hat klar die Vereinbarungen zur Waffenruhe gebrochen und erneut die Integrität der Ukraine verletzt.” Putin gefährde mit den Flügen russischer Kampfjets auch den zivilen Luftverkehr an den Außengrenzen der Nato.“

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Benjamin an einer Panzerfaust schwedischer Produktion

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Freiwillige im Schulhof des Šalkauskis-Gymnasium, das Isabelle besucht

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Die Funktionsweise eines Gewehrs wird erklärt

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Ludvic schaut durch ein Zielfernrohr

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20–30kg auf dem Rücken: Rima mit Handgepäck der Freiwilligenverbände