Wir sind alle Pazifisten!
„War es ein gerechter Krieg, als die Alliierten Deutschland von der Herrschaft der Nazis befreiten?“ Die „Spiegel“-Redakteure René Pfister und Christiane Hoffmann kommen im Interview unter dem Titel „Beten mit den Taliban“ gleich eingangs zur Sache. Das Gespräch mit Margot Käßmann, Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017, in der aktuellen Nummer des Nachrichtenmagazins (33/2014) dreht sich – kaum überraschend – ganz um Krieg und Frieden, Waffen und Gewalt, Pazifismus und das Militär.
Die Ex-Bischöfin drückt sich um eine klare Antwort herum: „Es war sicherlich ein Krieg mit einer guten Intention und am Ende die Befreiung vom Naziterror. Aber mir fällt es schwer, Kriege zu rechtfertigen. Es gibt nur einen gerechten Frieden. Wenn es zu einem Krieg kommt, ist das immer ein Versagen, weil es nicht schon viel früher Versuche gegeben hat, Waffengewalt zu verhindern.“ Gute Absicht, gutes Ergebnis, aber trotzdem nicht gut. Die Journalisten fragen zurück: „Sie meinen, man hätte Adolf Hitler nur gut zureden müssen, dann wäre er schon friedlich geblieben und hätten keinen Krieg angezettelt.“
Käßmann: „So naiv bin ich nun auch nicht. Aber es gab frühe Warnungen, und auch die Alliierten sind nicht ohne jede Schuld geblieben, wenn Städte voller Flüchtlinge bombardiert und Frauen vergewaltigt wurden.“ Sie fragt die Journalisten, ob diese ihr „auch nur einen Krieg in den letzten 60 Jahren“ nennen könnten, „den man mit vernünftigen Gründen rechtfertigen“ könne. Die Spiegel-Reporter nennen als mögliche Beispiele den Massenmord von Hutus und Tutsis von 1994 sowie das Massaker 1995 in Srebrenica. Käßmann entgegnet: „Es ist interessant, dass Sie immer vom Ende her denken, wenn es keine gewaltfreie Lösung mehr zu geben scheint. Heute existieren viele Friedensforschungsinstitute, die Strategien entwickelt haben, um Konflikte zu vermeiden oder zu schlichten. Man muss es eben nur wollen. Aber am Willen hapert es.“
Gewiss sind Kriege in bestimmter Hinsicht immer ein Ausdruck von Versagen – häufig des moralischen Versagens eines Aggressors. Und natürlich muss es darum gehen, Waffengänge möglichst zu vermeiden und Konflikte friedlich zu lösen. Der I Weltkrieg, dessen erste Schlachten vor genau einhundert Jahren zu toben begannen, ist hier ein gutes Beispiel für einen Krieg, der nicht nötig war.
Doch Lösungen ohne Gewalt, ohne Militär und ohne Kriege gibt es eben nicht immer. Schlichtungsstrategien können auch ins Leere laufen. In Srebrenica und Ruanda, in Europa unter den Nazis oder auch in Korea 1950, von den Kommunisten überfallen, gab es keine gewaltfreie Lösung mehr. Und heute wird die Ukraine ihr Staatsgebiet im Osten nicht ganz ohne Gewalt wiederbekommen. Auch Hitler hätte viel früher mit Waffengewalt gestoppt werden können und müssen. Als er 1936 die Wehrmacht im demilitarisierten Rheinland einmarschieren ließ und damit Völkerrecht brach, pokerte er hoch. Nichts geschah. Eine militärische Drohung oder Reaktion hätte ihm frühzeitig die gelbe Karte gezeigt und womöglich vor weiteren Schritten hin zum Weltkrieg abgehalten. Und hätte Frankreich 1939 (als Hitler Polen überfiel) Nazi-Deutschland nicht nur den Krieg erklärt, sondern auch tatsächlich angegriffen – der II Weltkrieg wäre wohl in Europa wieder so schnell vorbei gewesen, wie er begonnen hatte.
Pfister und Hoffmann wenden anschließend ein, dass „Massenmörder wie Hitler oder Pol Pot“ sich dem friedlichen Dialog verweigern. „Das mag so sein. Aber mich faszinieren Menschen, die es wagen, nicht mit Waffengewalt zurückzuschlagen“. Käßmann zitiert die Bibel: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Darauf der „Spiegel“: „Auf einem Kirchentag mögen sich Konflikte mit Sinnsprüchen aus der Bibel lösen lassen, in der realen Welt leider nicht.“ Die Theologin wehrt sich jedoch gegen den Vorwurf der Naivität und meint: „Meine Helden sind Menschen wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela, die so naiv waren, auf Gewaltfreiheit und Versöhnung zu setzen. Vor denen habe ich mehr Respekt als vor Leuten, die sagen, am Schluss hilft doch nur ein Schießeisen.“
Käßmann, die große Kommunikatorin, beherrscht die Gabe, am Gesprächspartner vorbeizureden, indem sie Äpfel mit Birnen vertauscht. King, Mandela und mit Einschränkung auch Gandhi wirkten in der innenpolitischen Auseinandersetzung; sie verhinderten zum Glück blutige Macht- und Systemwechsel, was tatsächlich nicht selbstverständlich ist. Hier, im politischen Kampf in einem Staat, ist Gewalt nun wirklich möglichst zu vermeiden und die Gewaltlosigkeit zu bevorzugen. Mit der Landesverteidigung gegen Angreifer oder der Abwehr von Bedrohung von außen hat dies wenig zu tun.
Sie kann aber auch Dinge, die zusammen gehören, auseinander reißen. Käßmanns Worte zum Plädoyer von Bundespräsident Gauck für mehr internationales Engagement Deutschlands: „Der Bundespräsident redet vom Krieg als letztem Mittel; ich rede über den Weg zum Frieden.“ So kennen wir dies heute: die einen (wie Käßmann) sind für den gerechten Frieden, die anderen (wie Gauck) für den gerechten Krieg. Als ob das eine vom anderen zu trennen wäre! Gauck sieht sein Ja zu sehr begrenztem Militäreinsatz als einen Weg, den Frieden in Gerechtigkeit herzustellen. Alle modernen Vertreter eines gerechten Krieges sehen den Frieden als Ideal an.
Um wieder Klarheit in das Gespräch zu bringen, fragen die Redakteure: „Ist für die evangelische Kirche eine militärische Intervention überhaupt zu rechtfertigen?“ Die Lutheranerin: „Ich bin Pazifistin, aber keine Radikalpazifistin. Für mich ist Gewaltfreiheit immer die vorrangige Option. Ich kann mir vorstellen, und so steht es auch in einer Denkschrift der EKD aus dem Jahr 2007, dass unter strengen Kriterien ‘eine Art Polizeieinsatz’ möglich ist.“ In dem Dokument sind sieben Kriterien genannt, „die erfüllt sein müssen, damit ein Einsatz gerechtfertigt ist. So muss zum Beispiel unter allen Umständen dafür gesorgt werden, dass Zivilisten geschont werden. Außerdem muss es ein UNO-Mandat geben.“
Pazifistin, aber keine Radikalpazifistin – eine wirklich interessante Volte. Die Bedeutung von Pazifismus ist eigentlich klar: Ablehnung jeden Krieges und jeglicher militärischer Gewaltanwendung. Ein-bisschen-Pazifismus ist kein richtiger Pazifismus, weil er Einsatz von Militär unter gewissen Umständen, und seien sie noch so eng, erlaubt. Nun habe ich die EKD-Schrift nicht studiert, aber so wie es Käßmann darstellt, wird dort ein Eiertanz vollführt, um ja nicht Begriffe wie Krieg, ja nicht einmal Landesverteidigung im positiven Licht erscheinen zu lassen. „Eine Art von Polizeieinsatz“ – den gab es wohl auch in Afghanistan, wo man sich in der deutschen Regierung elend lange um das Wort Krieg herumdrückte.
Gewaltfreiheit ist die vorrangige Option – natürlich! Gauck sähe das genauso. Gewaltfreie Wege haben Vorrang, aber sie sind nicht immer die einzigen Wege; militärischer Einsatz, Krieg, kann auch eine Option sein, doch der Nichtgebrauch von Waffen steht im Rang höher und ist so lange wie möglich zu bevorzugen. Kaum jemand in Europas Regierungen sieht dies nun anders. Daher in diesem Sinne: Wir sind alle Pazifisten!
Die Denkschrift der EKD nennt sieben Kriterien, die für einen gerechtfertigten militärischen Einsatz gegeben sein müssen. Bedingungen müssen erfüllt werden, damit Waffen gebraucht werden dürfen – nichts anderes sagt die Doktrin vom gerechten Krieg (ius ad bello). Was soll also an dem Begriff so schlecht sein? Ist es womöglich nur dies, dass das Wort Krieg noch darin vorkommt? Müssten Käßmann und Gesinnungsgenossen nicht zugeben, dass in diesem Sinne gilt: Wir glauben alle an gerechte Kriege!
Aber nein, so einfach geht es ja nicht. Die Kriterien werden so eng formuliert, dass Käßman eben glauben kann, nicht ein Krieg der letzten Jahrzehnte sei gerechtfertigt. Und tatsächlich: Will man die Zivilbevölkerung „unter allen Umständen“ ganz schonen, kann kein Krieg mehr geführt werden. Zu Recht bemerkt der „Spiegel“: „Damit hätte der Krieg der Alliierten gegen Hitler und der Einsatz der Nato im Kosovo nicht stattfinden dürfen“. Es gab im II Weltkrieg natürlich von Seiten der Alliierten Angriffe auf Zivilisten, die unnötig und mitunter sogar verwerflich waren. Aber was ist z.B. mit den vielen tausend Franzosen, die 1944 in der Normandie starben? Die USA befürchteten, dass die eigene Bevölkerung eine weitere verlustreiche Front (neben der gegen Japan in Asien) nicht zustimmen würde. Man war sehr bemüht, die Toten in den eigenen Reihen gering zu halten und bombardierte deshalb die von den deutschen besetzten Städte vor dem Vorrücken von Bodentruppen intensiv – eine Trümmerwüste mit vielen toten Einheimischen war das Ergebnis. Ein Fehler? Gar ein Verbrechen?
Doch das ist eben das Dilemma von demokratischen Staaten, die Krieg führen: Man darf die eigenen Soldaten nicht verheizen, muss sie vielmehr schonen und greift daher mitunter zu massiven Schlägen mit technologisch hochentwickelten und zerstörungsstarken Waffen. Dies kann es schwer machen, die Zahl der toten Zivilisten auf ein wirkliches Minimum zu beschränken. Hinzu kommt die gegnerischer Seite: Sind dort tyrannische Systeme am Ruder, die auf die eigenen Menschen – ob nun Soldaten oder Zivilisten – so gut wie keine Rücksicht nehmen, sind viele, sehr viele unschuldige Opfer garantiert (der Korea-Krieg war ein grausiges Beispiel; war er deshalb falsch und ungerecht? Auch der jüngste Gaza-Krieg ist hier ja zu nennen).
Die Journalisten binden den Sack zu: „Wäre es nicht ehrlicher von Ihnen zu sagen: Ich bin ganz gegen Kriegseinsätze, ohne diese rhetorischen Verrenkungen?“ Gefragt wird also, ob sie sich nicht doch klar zum Pazifismus bekenne. „Meine Position ist, dass wir alles tun müssen, um Krieg als Institution abzuschaffen“, so Käßmann. Und weiter: „Ich fände es gut, wenn wir als Konsequenz aus den Schrecken des 20. Jahrhunderts sagen: Wir beteiligen uns nicht an Kriegseinsätzen.“
Den Krieg „als Institution“ abschaffen? Politische Institutionen wie Parlamente, Staatsämter, Gerichte oder auch die Todesstrafe lassen sich abschaffen; der Krieg und Auseinandersetzungen mit Waffengewalt lassen sich nicht abschaffen. Selbst wenn, wie nun in Mitteleuropa, viele Jahrzehnte Frieden herrscht und Krieg in der EU wohl auch auf absehbare Zeit nicht mehr ausbricht, ist dieser damit ja nicht abgeschafft. Es gibt ihn einfach nicht, Gott sei Dank. Kriege lassen sich nicht wegdekretieren, weil sich der Mensch nicht zum friedliebenden Wesen befehlen lässt.
Käßmann will keinen Radikalpazifismus, gibt sich hier aber eben doch wieder radikal: keine Beteiligung an Kriegseinsätzen (die sieben Kriterien hin oder her); vielleicht könnte die eine oder andere Polizeiaktion begründet sein, aber bitte ganz ohne mich bzw. uns. Dem radikalen Pazifismus, historisch ja gewachsen und verwurzelt in den Friedenskirchen wie den Mennoniten, kann man nur mit Respekt begegnen: eine klare Position, für die viele ihrer Anhänger viel gelitten haben. Der käßmannsche Pazifismus ist dagegen ein feiger Pazifismus des Macht-eure-Polizeiaktionen-bitte-schön-allein.
Noch einmal haken die „Spiegel“-Mitarbeiter nach: „Also sind Sie dafür, dass die Kirche jegliche Form von Gewalt ablehnt?“ „Das ist meine Vision, ja.“ Auch hier wird es, trotz klar erscheinender Antwort, konfus. Tatsächlich soll die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen von Gewaltlosigkeit und Nicht-Vergeltung gekennzeichnet sein. In der Kirche haben Gewalt und Zwang nichts zu suchen. Doch man muss genau unterschieden, wo und in welchem Kontext die Gewalt und Zwang gerechtfertigt sind, und wo nicht. Die staatliche Gewalt ist von Gott eingesetzt; sie ist „Gottes Dienerin“ (Röm 13,1). Die Obrigkeit ist durch ihre Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit über die Bösen „Rächerin“ (so 13,4 wörtlich). John Stott: „Die Bestrafung des Bösen ist Gottes Vorrecht, und im gegenwärtigen Zeitalter übt er diese Aufgabe durch die Gerichte aus.“ (Romans) Es ist schon vielsagend, dass die lutherische Theologin die lutherische Zwei-Reiche-Lehre, die diese Zusammenhänge ja gut zusammenfasst, penetrant ignoriert und mit ihren Bibelzitaten die reiche wild durcheinander wirft.
Noch einmal der „Spiegel“: „Warum sagen Sie nicht gleich: Schafft die Bundeswehr ab!“ Käßmann: „Ich fände es gut, wenn die Bundesrepublik auf eine Armee verzichten könnte wie etwa Costa Rica. Natürlich weiß ich, dass das eine Utopie ist, allein wegen der Einbindung Deutschlands in die NATO. Aber es wäre schon ein erster Schritt, wenn wir ganz darauf verzichteten, Waffen in alle Welt zu exportieren.“ Warum, so die Rückfrage, soll man gegen Exporte in befreundete Nato-Staaten sein, „die versprochen haben, uns in der Stunde der Gefahr beizustehen?“ Käßmann meint, „dass ein Land wie Deutschland sich nicht dadurch hervortun muss, ‘schöne’ und technisch ausgefeilte Waffen in die ganze Welt zu liefern… Es steht Deutschland gut an zu sagen: Wir exportieren Frieden und nicht Rüstung.“ Außerdem hält sie die Pläne von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, bewaffnete Drohnen anzuschaffen, für eine „ganz verheerende Entwicklung“: „Es ist ja schon schlimm genug, wenn Kampfpiloten ihre Ziele auf einem kleinen Computerbildschirm verfolgen. Aber wenn dann auch noch Drohnenpiloten über das Schicksal von Menschen entscheiden, die Tausende Kilometer entfernt sind, dann ist das noch eine Steigerung des Schrecklichen.“ Sie könne nicht verstehen, wie die Bundesregierung ernsthaft über die Beschaffung einer so „zynischen Waffe“ nachdenken könne.
Zuvor hat Käßmann sich schon gegen den Vorwurf des Populismus gewehrt, aber hier begibt sie sich ja nun wahrlich auf das Niveau des Stammtisches der Gut-Bürger. Sachkenntnis – Fehlanzeige. Der Radikalpazifist darf begründet jede Waffenherstellung und -ausfuhr ablehnen. Doch wenn es überhaupt internationale Polizeiaktionen und Landesverteidigung geben darf, dann müssen auch die dazu notwendigen Geräte („Waffen“ ereilt ja wohl auch bald das Schicksal von Krieg…) produziert werden. Und vielleicht abgesehen von den USA kann kein Staat alles selbst herstellen. Warum sollen Waffenexporte an sich moralisch fragwürdig oder gar verwerflich sein? Deutschland zeigt hier schon heute mit seinen recht strengen Ausfuhrkriterien eine vorbildliche Haltung.
Krieg geht Käßmann gegen den Strich. Daher hat sie keine Ahnung von Militärgeschichte. Seit dem Mittelalter werden immer neue Distanzwaffen entwickelt, so dass der Kampf Mann gegen Mann kaum noch stattfindet. Schon der Langbogen oder die Armbrust galten den Rittern als feige Waffen, da der Feind von Ferne, ohne Augenkontakt, ausgeschaltet werden konnte. Diese Entwicklung ist weit vorangeschritten. Granaten fliegen über Zig Kilometer, Marschflugkörper schleichen sich an, und selbst ein Panzerschütze sieht meist nicht, was seine Kanone in der Ferne anrichtet. Der Computerbildschirm dominiert schon längst die moderne Waffentechnik; Drohnen sind da nur ein weiterer Schritt nach vorne.
Was Käßmann nicht sehen will und kann: neuste Waffentechnologie ist vor allem für die demokratischen Staaten notwendig. Denn sie müssen mit dem Leben ihrer Bürger in Uniform schonend umgehen. Genau deshalb erwägt die Regierung ja den Einsatz von Drohnen – auch zum Schutz der Soldaten. Es ist ganz verheerend, diesen Aspekt einfach vom Tisch zu wischen. Demokratische Staaten brauchen Hochtechnologie; Diktatoren, Unrechtsregimen und Irren vom IS reichen Kalaschnikow, Granatwerfer und Pick-ups. Deshalb geben demokratische Staaten zusammen auch viel mehr Geld für das Militär aus.
Die Heilige Margot lebt in ihrer eigenen heilen Welt – so spöttisch muss man es wohl schon ausdrücken. Denn sie hat ein Problem mit der Wirklichkeit, konkret mit dem Bösen. Gestern wies Jan Fleischhauer auf seinem „Spiegel“-Blog unter „Strategien des Pazifismus: Margot Käßmann und das Böse“ darauf hin (vor einem Jahr hatte der Journalist Käßmann interviewt, s. hier). Der Journalist hält wenig von dem „Costa-Rica-Pazifismus“ und meint im Hinblick auf die Stimmung in ganz Deutschland: „69 Jahre fortgesetzter Frieden können nicht nur satt und glücklich machen, sie können einen auch furchtbar provinziell werden lassen. Was unverständlich und fremd erscheint, wird ignoriert oder, wenn das nicht mehr geht, so lange hin und her gedreht, bis es wieder ins Erklärungsmuster passt.“
Wie schon im vergangenen Jahr weist Fleischhauer darauf hin, dass sich die Kirche von ihren Wurzeln entfernt hat: „Sogar der Kirche ist das Verständnis für das Teuflische abhanden gekommen.“ Dann bringt er es auf den Punkt: „Das eigentlich Erstaunliche ist, dass nicht einmal eine deutschlandweit bekannte Theologin noch eine Vorstellung vom Bösen zu haben scheint. Bei einer Vertreterin der Kirche sollte man eigentlich ein Verständnis für die Natur des Teuflischen erwarten können – das Denken in metaphysischen Kategorien war zwei Jahrtausende lang das Privileg dieser Institution. Aber das Einzige, was davon übrig geblieben ist, ist die Verteufelung von allem, was schießt.“
Die Deutschen standen vor der Herausforderung, das abgrundtief Böse der Nazis zu verdauen und zu überwinden. Doch die Kategorie des abgrundtief Bösen darf eben nicht den Bach hinunter gehen, denn es gehört leider zur Wirklichkeit nach dem Fall. Der Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens ist eine seiner großen Stärken. Wir haben eine Erklärung für die großen Errungenschaften des Menschen wie für seine schlimmen Untaten, denn Christen wissen um das Paradoxe des Menschen: er ist Ebenbild und tief gefallen zugleich. Fleischhauer endet seinen Kommentar mit einem Bezug auf die Amerikaner, auf die die Deutschen schon mal gerne herabsehen, die aber in mancher Hinsicht dichter an der Wirklichkeit sind als wir: „Wir spotten gerne über die Amerikaner, die angeblich keine Ahnung von der Welt haben. Aber Weltläufigkeit erschöpft sich nicht in häufigen Urlaubsreisen ins Ausland. Die Hälfte der US-Bürger mag nicht einmal einen Reisepass besitzen, dafür verstehen sie etwas von der vielfältigen Natur des Menschen.“