„Will Gott, dass alle gerettet werden?“
Eine alte Frage und ein neues Buch von John Piper
Für wen starb Jesus? – Es gibt wohl kaum eine Debatte unter theologisch konservativen Christen, die so intensiv und mitunter auch emotional geführt wird, wie die um diese Frage. Und obwohl oder gerade weil es ein heißes Eisen ist, müssen diese Diskussionen besonders im theologischen Unterricht gründlich behandelt werden. Neben der Frage, warum Christus sterben musste und wer wen durch das Kreuz versöhnte, ist die Frage nach der Reichweite und Art des Heilswillens eine der wichtigsten in der Erlösungslehre.
Im Grunde gibt es zwei Hauptantworten: Christus starb nur für die Erwählten, was traditionell „begrenzte Sühne [oder Sühneopfer]“ (engl. limited atonement) genannt wird. Diese Position wird von den meisten Calvinisten eingenommen (in der TULIP-Formel, die die Lehren des Calvinismus umreißt, das L). Sie sprechen heute meist lieber von definite atonement, eindeutige, konkrete oder auch persönliche Sühne, da das „begrenzt“ meist falsch verstanden wird. Die andere Seite glaubt, dass Christus effektiv für alle Menschen starb, daher „unbegrenzte Sühne“ (unlimited atonement); durch den Glauben wird diese Erlösung dann für den einzelnen tatsächlich wirksam. Meist wird dies als die arminianistische Position bezeichnet, traditionell z.B. vertreten von den Methodisten und den Pfingstlern.
Der Begriff limited atonement tauchte erst vor ungefähr zweihundert Jahren auf, die griffige TULIP-Formel stammt sogar erst aus dem 20 Jhdt. (nach den Anfangsbuchstaben der fünf Hauptaussagen im Englischen: Total depravity, Unconditional election, Limited atonement, Irresistable grace, Perserverance of the saints). Viele Calvinisten – Reformierte, Presbyterianer, reformierte Baptisten und Anglikaner – sind oft mehr oder weniger unzufrieden mit der Kurzformel, warnen vor Missbrauch, fordern zur richtigen Erläuterung der Punkte auf; oder sie schlagen wie der Baptist Timothy George in Amazing Grace Alternativen vor – statt Tulpe (engl. tulip) Rosen: ROSES – Radical depravity, Overcoming grace, Sovereign election, Eternal life, Singular redemption. (S. dazu auch hier.)
Auch wenn die TULIP-Formel jüngeren Datums ist, versucht sie doch nur die Lehrregel der reformierten Synode von Dort (1618/19) zusammenzufassen. Damals wurde erstmals die begrenzte Sühne präzise bekräftigt; die Lehre der Remonstranten, der Anhänger von Jakobus Arminius (1560–1609), Namensgeber der Arminianisten, wurde verworfen. Die Synode zitierte aus ihren Thesen, und hier wird etwas von der Brisanz der Lehre der unbegrenzten Sühne deutlich:
„Christus hat durch seine Genugtuung für niemanden gewiß die Seligkeit selbst und den Glauben, durch den diese Genugtuung Christi… wirksam zugeeignet wird, verdient, sondern bloß dem Vater die Macht… erworben, aufs neue mit den Menschen zu handeln und ihnen neue Bedingungen nach seinem Belieben vorzuschreiben, deren Vollbringung vom freien Willen des Menschen abhinge, und es deshalb hätte geschehen können, daß entweder keiner oder alle sie erfüllten.“
Mit einfachen Worten: durch den Tod Jesu beginnt ein neues Spiel; die Karten wurden neu gemischt – und das war’s. Wir müssen glauben, und der Glaube ist Werk unseres freien Willens; das Heil hängt also letztlich von uns ab. Doch all das ist nur eine halbe Errettung; der Akzent rutscht wieder zum Menschen und seinem Tun herüber. Und noch etwas zeigt sich hier: Die arminianistische Position will die Liebe Gottes groß machen. Doch was ist das für ein Gott, der die Rettung von niemandem wirklich bewirkt?
Die große Mehrheit der heutigen evangelikalen Christen wird dennoch ohne viel Zögern auf die Eingangsfrage antworten: „Natürlich für die ganze Welt!“ – für tatsächlich jeden Menschen. Ganz so einfach sind die Dinge jedoch nicht. Die Frage ist nämlich mit anderen, sehr ernsten verbunden: Was hat Christus durch seinen Tod vollbracht? Was hat sein Tod bewirkt? Hat der Tod lediglich die Errettung jedes Menschen ermöglicht, weil er für alle starb, ohne jemanden konkret zu retten? Oder hat sein Tod tatsächlich die Errettung derer bewirkt, für die er gestorben ist? Welchen Plan verfolgte Gott mit der Sendung seines Sohnes: alle Menschen retten oder die Erwählten retten?
Zu den bekanntesten Vertretern des begrenzten Sühneopfers gehört heute James I. Packer (geb. 1926), der schreibt: „Gott ermöglichte nicht nur die Rettung derer, für die Christus starb; er sorgte auch dafür, dass sie zum Glauben kommen und in den Besitz ihres Heils gelangen. Das Kreuz rettet. Während die Arminianer nur sagen: Ohne Golgatha wäre meine Rettung nicht möglich gewesen, sagt der Calvinist: Christus erwarb meine Rettung für mich. Ersterer macht das Kreuz zum sine qua non des Heils, letzterer sieht es als die tatsächliche Ursache des Heils…“ („Introductory Essay to John Owen’s Death of Death in the Death of Christ“).
Kern der calvinistischen Auffassung ist die Überzeugung, dass es undenkbar wäre, dass Christus juristisch die Schuld eines Menschen auf sich genommen hat, für den diese Sühne jedoch nie wirksam wird. Man wehrt sich also dagegen, die Wirksamkeit des Opfers Jesu aufzuteilen: in eine rein theoretische Sühne, die zwar angeboten werden kann, für die Verlorenen aber nie Wirklichkeit wird, und eine praktisch wirksame Sühne für die Wiedergeborenen. Hat Christus wirklich die Schuld bezahlt? Wenn man dies bejaht, gibt es nur zwei Antworten auf die Frage, für wen: für alle, d.h. allen ist tatsächlich vergeben und alle werden gerettet (Irrlehre des Universalismus); oder die Schuld der Erwählten ist bezahlt und nur sie werden errettet.
Packer (und ähnliches wäre von James M. Boice, R.C. Sproul und vielen anderen wie Wayne Grudem, William Edgar, Henri Blocher, John Frame, Albert Mohler, Mark Dever zu sagen – nicht zu vergessen C.H. Spurgeon!) variiert hier nur Argumente, die John Owen (1616–1683) in seinem The Death of Death in the Death of Christ vorlegt hat. Der Puritaner und wohl wichtigste Theologe Englands aller Zeiten hat die begrenzte Sühne so umfassend und biblisch begründet, dass dem bis heute kaum etwas zuzufügen ist. Owen hat die Alternativen eingangs glasklar geschildert: Christus starb für a) alle Sünden aller Menschen; b) für einige Sünde aller Menschen; oder c) für alle Sünden einiger Menschen. Die dritte Position ist die des Calvinismus; nach der zweiten ist niemand gerettet; wenn die erste Position richtig ist, dann starb er auch für die Sünde des Unglaubens der zeit ihres Lebens Nichtgläubigen – werden dann auch die Nichtgläubigen errettet? In diesem Stil einer scharfen und bis heute kaum noch erreichten Logik legt Owen seine Position umfassend dar. Zum Glauben schrieb Owen:
„Christus starb nicht, damit die Menschen gerettet werden, wenn sie nur glauben; sondern er starb für alle Auserwählten, damit sie glauben. Nirgendwo in der Schrift wird gesagt, dass Christus für uns starb, wenn wir glauben. Das würde unseren Glauben zur Ursache von etwas machen, das andernfalls nicht wahr wäre – unser Akt des Glaubens würde bewirken, daß sein Tod stellvertretend für uns ist. Aber Christus starb für uns, auf dass wir glauben mögen.“
Das Image des Calvinismus ist unter Christen jedoch ein weitgehend negatives (und die logische Klarheit hilft da auch kaum – im Gegenteil), weil seine Kernpunkte negativ wahrgenommen werden: Errettung wird begrenzt, in der Prädestination werden manche Menschen zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt usw. Greg Forster hat den Spieß in The Joy of Calvinism konsequent umgedreht und alle TULIP-Punkte positiv gewendet und sie von der Liebe Gottes her gesehen. Ein ganz hervorragender Ansatz! Forster schildert das Ausgangsproblem (vor allem des Arminianismus): Viele behaupten, dass Christus für alle starb, aber es werden nicht alle gerettet. Wie passt das zusammen?
„Alle Versuche zur Lösung dieses Problems beginnen mit der Entpersonalisierung von Gottes rettender Liebe. Und eine andere Möglichkeit gibt es nicht… Wenn Gott will, dass alle Individuen persönlich gerettet werden [was die Arminianer behaupten], dann müssten auch alle Individuen gerettet werden; doch wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Der einzige Ausweg ist zu behaupten, dass Gottes rettende Liebe sich nicht auf einzelne Individuen richtet. Wenn wir also sagen, dass Gott nicht bestimmte Individuen persönlich vom Heil ausschließt, dann müssen wir gleichzeitig behaupten, dass er bestimmte Individuen nicht persönlich rettet.“
Forster sieht genau hier die Trennlinie zwischen dem Calvinismus und allen anderen theologischen Systemen: entweder richtet sich Gottes rettende Liebe auf die Menschheit in ihrer Masse, und dann macht sie Errettung nur möglich; oder diese Liebe richtet sich auf konkrete Personen und schafft und garantiert dann diese Errettung.
Auch John Piper hat in seinem Buch Five Points über die TULIP-Punkte (hier als pdf) sehr richtig auf wichtige positive Aspekte hingewiesen. Der Baptist, bis zum vergangenen Jahr Hauptpastor der Bethlehem Baptist Church in Minneapolis (USA), zeigt, dass der Neue Bund ganz anders als der mosaische ist, nämlich ein Bund der völligen und radikalen Neuschaffung, eben nicht ein bloßes Angebot oder ein ‘halbe’ Leistung:
„Hier in Jeremia 32 [39–41] wird es noch deutlicher als in Jeremia 31 [31–34], dass nämlich Gott die souveräne Initiative ergreift, um dafür zu sorgen, dass der [Neue] Bund auch wirklich gelingt [d.h. verwirklicht wird]. Gott wird es nicht der Macht des gefallenen menschlichen Willens überlassen, ob ein Mensch die Mitgliedschaft in dem Neuen Bund erlangen oder aufrechterhalten kann. Er wird ein neues Herz schenken, ein Herz, das den Herrn fürchtet. Es wird ausdrücklich das Tun Gottes sein, nicht das unsere. Und er wird in diesem Bund handeln, ‘so dass sie sich nicht mehr von mir abwende’ (Jer 32,40). Daher kommentiert John Owen: ‘Das ist daher einer der Hauptunterschiede dieser beiden Bünde, dass der Herr im Alten Bund die Bedingung allein forderte [nämlich Gehorsam]; nun, im Neuen, wird er diese auch in allen Bundesteilnehmern bewirken, die diesem Bund angehören.’… Wenn der Neue Bund erfolgreicher als der Alte Bund sein soll, so muss Gott das Herz aus Stein herausnehmen und seinem Volk ein Herz, das ihn liebt, geben. Mit anderen Worten, er muss in wunderbarer Weise Initiative ergreifen, um den Glauben und die Liebe seines Volkes zu sichern… Im Neuen Bund verspricht Gott, dass er diese Initiative ergreifen und ein neues Herz schaffen wird, so dass die Menschen Glieder des neuen Bundes durch seine Initiative und nicht ihre eigene werden. ‘Ich werde die Ehrfurcht vor mir in ihr Herz legen…’ (Jer 32,40). Es ist Gott selbst, der die Furcht vor ihm in uns zuerst einpflanzt. Und Gott hält uns davon ab, sich abzuwenden. Er tut dies durch das Blut seines Bundes, das, wie Jesus sagte, sein eigenes Blut war (Lk 22,20).“
Vertreter der unbegrenzten Sühne bleiben aber meist skeptisch und fragen: Kann es sein, dass Gott die Rettung irgendeines Menschen nicht will? Will Gott, dass jemand verloren geht!? Sie sehen in der Regel nicht, dass die Bibel zwischen einem souveränen und einem moralischen Willen Gottes unterscheidet. Natürlich hat Gott nicht zwei ganz unterschiedliche Willen in sich. Dies ist eine Art theologische Konstruktion, um der vielfältigen Offenbarung gerecht zu werden.
An diesem Punkt setzt Pipers 60-Seiten-Buch Does God Desire All to be Saved? (Will Gott, dass alle gerettet werden?, erschienen im vergangenen Jahr) an. Er zitiert Texte wie 1 Tim 2,4; 2 Pt 3,9; Hes 18,23; Mt 23,37, die bekräftigen, dass Gott die Rettung aller wünscht. Gott will auf der einen Seite die Rettung aller, erwählt aber auf der anderen Seite nur einige. Piper zeigt anschließend anhand nicht weniger Beispiele die zwei Aspekte oder Arten des Willens Gottes. Am deutlichsten ist dies in der Passion Christi: der Verrat des Judas (und das Handeln des Herodes, Pilatus usw.) war Sünde, widersprach dem moralischen Willen Gottes; er war jedoch auch Teil des Plans Gottes, geschah entsprechend seines souveränen Willens. Auch im Ersten Brief des Petrus (1 Pt 2,15; 4,2 bzw. 3,17; 4,19) stehen die zwei Arten des Willens Gottes dicht beieinander.
Diese Unterscheidung ist nicht Sondergut der Reformierten. Der katholische Philosoph Robert Spaemann über die „Lehre von den zwei Willen Gottes bei Thomas von Aquin“ in Das unsterbliche Gerücht: „Der absolute [o. souveräne] Wille Gottes zeigt sich in dem, was geschieht. Er ist uns in seinem Grund verborgen und kann uns deshalb nicht zur Richtschnur des Handelns dienen.“ Diesem ist auch die Erwählung zuzuordnen, die ja auch nicht unser Handeln bestimmt. Egal, ob ein Mensch erwählt ist, oder nicht – die Aufforderung zur Umkehr gilt jedem. „Richtschnur unseres Handelns ist das, wovon Gott will, dass wir es wollen. Und das können wir wissen. Es ist das sittliche Gebotene…“, also der moralische Wille Gottes.
Im vierten Kapitel geht Piper wieder auf 1 Tim 2,4 („er will, dass alle gerettet werden“) ein und fragt, warum etwas nicht geschieht, was Gott will: das tatsächliche ewige Heil aller (denn die große Mehrheit lehnt die Lehre ab, dass letztlich alle gerettet werden – obwohl auch diese Front zunehmend bröckelt, s. Youngs Die Hütte oder C. Baxter Krugers Revisiting the Shack). Piper sieht hier nur zwei Möglichkeiten: eine höhere Macht im Universum, die Gott hindert, was aber von Calvinisten wie auch Arminianisten verworfen wird. Beide Parteien stimmen darin überein, dass Gott sich um eines höheren Wertes oder Zweckes willen dazu entschlossen hat, die Erlösung tatsächlich aller nicht zu garantieren.
Arminianisten sehen diesen Faktor, der den Willen Gottes ‘begrenzt’, im freien Willen des Menschen. Freier Wille ist eine Gabe Gottes, die nicht widerrufbar ist, so die Arminianer. Das Problem ist jedoch, dass dieser als „ultimate (or decisive) human self-determination“, so Piper, als letztliche oder entscheidende Selbstbestimmung oder auch absolute Freiheit definiert wird. Eine breite theologische Tradition von Augustinus bis hin zu Luther und Calvin betont jedoch, dass allein Gott absolut frei ist und der Mensch nur eine begrenzte und irdische Freiheit hat. Im Hinblick auf das Heil ist der Mensch tot und bestimmt sein ewiges Schicksal nicht selbst. Gott erwählt zum Heil, bestimmt aber, dass diese Erwählten „ganz freiwillig kommen“ (Westminster-Bekenntnis, 10,1). Gott bestimmt ohne uns, dass wir frei, d.h. ungezwungen zu ihm kommen.
Die Arminianer folgen im wesentlichen Erasmus, der schon in Vom freien Willen (1524) meinte, der menschliche Wille können sich frei der Gnade hinwenden oder sich von ihr abwenden. Es liegt also letztlich am Menschen selbst, ob er der Gnade widerstehen will oder nicht. Roger E. Olson: „In der Erlösung ist Gott der wichtigere Partner, der menschliche freie Wille (im Sinne von Nichtwiderstehen) der kleinere Partner“ (Arminian Theology).
Piper zeigt nun aber, dass der absolut freie Wille in Texte wie 1 Tim 2,4 hineingelesen werden muss. Andere Passagen in den Pastoralbriefen wie 2 Tim 2,24–26 (dort heißt es, dass Gott Umkehr schenkt) zeigen Gottes Heilssouveränität. Er hält fest, dass Gott in einer Hinsicht den Tod des Bösen nicht will (Hes 18,32), in anderer Hinsicht aber doch (Dt 28,63; 1 Sam 2,25). Auf den Vorwurf der Schizophrenie in Gott ging schon Calvin ein, auf den sich auch Piper hier bezieht. Viele wenden ein, so der Reformator, nach dieser Lehre beschließe Gott „ja in seinem verborgenen Rat [dem souveränen Willen], was er in seinem Gesetz [dem moralischen Willen] verboten habe!“ Calvin sieht hier keinen echten Widerspruch, sondern unterschiedliche Perspektiven. Er führt u.a. das Beispiel Hiobs an, der von Räubern ausgeplündert wird, was natürlich Sünde war, aber dennoch Gott „gefiel“; er nennt ebenfalls die Söhne Elis (1 Sam 2,22–25), Jesaja 45,7 und Amos 3,6. Wie Piper schreibt auch Calvin: „Und wahrlich, wäre Christus nicht mit dem Willen Gottes gekreuzigt worden – woher sollte dann unsere Erlösung kommen? Aber deshalb streitet Gottes Wille nicht mit sich selbst, verändert sich auch nicht, stellt sich auch nicht, als ob er nicht wolle, was er doch will; nein, obwohl er an sich einer und derselbe ist, erscheint er uns doch vielfältig, weil wir in unserer Kurzsichtigkeit nicht begreifen können, wie er auf verschiedene Weise in der gleichen Sache einerseits will, dass etwas geschieht, und es doch andererseits nicht will.“ Über die Verworfenen, und hier begegnet uns ein wichtiges Paradox: „Indem sie gegen Gottes Willen handeln, vollzieht sich an ihnen eben Gottes Wille!.. Denn es geschieht eben auf wundersame und unaussprechliche Weise nicht ohne seinen Willen, was doch gegen seinen Willen geschieht!“ (Inst. I,18,3)
Die Auffassung der Calvinisten beruht auf dem biblischen Zeugnis, dass Christus für seine Gemeinde, die Schafe, „für uns“, für die, die ihm der Vater gab, starb, und für niemanden sonst. Schwierige Stellen, die die Gegenposition zu stärken scheinen, wie Joh 6,51, 1 Tim 2,6, 1 Joh 2,2 (außerdem 1 Tim 2,5–6; 4,10; 2 Kor 5,19; Joh 1,29; 3,16; Hbr 2,9) interpretieren Calvinisten in der Regel vereinfacht so: „Welt“ und „alle“ meint nicht jeden Menschen ohne Ausnahme, sondern einzelne Individuen aus aller Welt und allen Menschengruppen. Zum Beispiel 1 Joh 2,2 deutet D.A. Carson so: „potentiell für alle ohne Unterschied, nicht: effektiv für alle ohne Ausnahme“.
Piper geht in der kleinen Schrift einen etwas anderen Weg. Eingangs schreibt er, dass man im Hinblick auf die gerade genannten Verse gar nicht nachweisen muss, dass sie nicht alle Menschen meinen. Er lässt diese Frage offen. Wenn es die erläuterten zwei Aspekte des Willens Gottes gibt, dann kann man durchaus zugestehen, dass Gott in einem Sinne will, dass alle gerettet werden. Der Calvinist sieht keinen Widerspruch zu der Auffassung, dass Christus nur für die Erwählten starb und Gott in einem anderen Sinne nur ihre Rettung wollte. Die Arminianer dagegen meinen: Wenn Gott die Rettung aller will, dann, bitte schön, in jeder Hinsicht. Die souveräne Erwählung einiger können sie dann jedoch nicht erklären und leugnen sie praktisch. Piper fasst gegen Ende zusammen:
„Ich bekräftige daher mit Joh 3,16 und 1 Tim 2,4, dass Gott die Welt mit echter und ehrlicher Barmherzigkeit liebt und die Erlösung aller Menschen wünscht. Aber ich bekräftige genauso, dass Gott vor Anbeginn der Welt diejenigen erwählt hat, die er von den Sünden erlösen will. Da nicht alle Menschen gerettet werden, müssen wir wählen, ob wir mit den Arminianisten glauben wollen, dass Gottes Wille alle zu retten, durch seine Selbstverpflichtung, die letztliche menschliche Selbstbestimmung zu achten, begrenzt wird; oder ob wir mit den Reformierten glauben, dass Gottes Wille alle zu retten durch seine Selbstverpflichtung, sich im vollen Umfang seiner Vollkommenheiten in der Erhöhung seiner souveränen Gnade zu verherrlichen. Diese Entscheidung darf nicht aufgrund von philosophischen Annahmen darüber, was unserer Ansicht nach menschliche Verantwortung erfordert, gefällt werden. Sie muss auf der Grundlage der Lehre der Schrift getroffen werden. Ich kann in der Bibel keine höchste Kraft der Selbstbestimmung [ultimate power of self-detemination] finden.“ (Piper widerholt damit letztlich nur Luthers Argument gegen Erasmus in Vom unfreien Willen, 1525).
Vertreter des unbegrenzten Sühneopfers haben meist das Anliegen, dass das Evangelium allen verkündigt wird. Ihr Vorwurf an die Calvinisten: eure Lehre behindert Evangelisation, denn sie impliziert, dass man nicht allen sagen darf, dass Jesus für sie gestorben ist. Viele Calvinisten haben dagegen betont, dass das Evangelium allen gepredigt werden muss, da wir ja nicht wissen, wer die Erwählten sind.
Packer nahm ausführlich zu den Fragen Stellung und betonte: „Das NT ruft nie jemanden dazu auf Buße zu tun, weil Christus tatsächlich für genau ihn gestorben ist. Die Grundlage der Einladung des NT an Sünder an Jesus Christus zu glauben ist einfach der, dass sie Ihn brauchen und dass Er sich ihnen anbietet, dass allen, die ihn aufnehmen alle Segnungen seines Todes versprochen sind. Universal und alle einschließend ist die Einladung zum Glauben und das Versprechen der Erlösung allen, die glauben.“ Und weiter: „Das Evangelium lautet nicht ‘glaube, dass Christus für jedermanns Sünden und daher auch für deine gestorben ist’, genauso wenig wie ‘glaube, dass Christus nur für die Sünden von einigen bestimmten Menschen gestorben ist, daher also vielleicht auch für dich’. Das Evangelium lautet ‘glaube an den Herrn Jesus Christus, der für Sünden gestorben ist und sich nun selbst als dein Retter anbietet’. Diese Botschaft haben wir in die Welt zu tragen. Es ist nicht unsere Aufgabe zu Glauben an ein bestimmtes Maß der Sühne aufzufordern. Unsere Aufgabe ist auf den lebendigen Christus zu weisen und zu Vertrauen in ihn einzuladen.“ (Evangelism and the Sovereignty of God)
In diesem Sinne beendet auch Piper sein Buch: „Christus lädt jeden ein zu kommen, und jeder, der kommt, ist gerettet. Jeder, der Christus empfängt, ist von Grundlegung der Welt an erwählt und ein Empfänger des ewigen Erbes.“ Auch der Calvinist Piper schließt mit Off 22,17: „Wer Durst hat, der komme…“
Schießlich sei hier noch der britische Theologe Lee Gatiss genannt, der in For Us and For Our Salvation betont: die Predigten in der Apostelgeschichte unterscheiden sich, doch ein gemeinsames Kennzeichen ist dies: „Christus ist auferstanden und Herr und Richter; also tut Buße!“ Das ist mit dem Calvinismus völlig vereinbar. Und er weist auf die Predigten von Owen hin, der schon ähnlich wie dann Spurgeon mit Christus die Sünder aufrief: „Schaut auf mich, und ihr werdet gerettet… Verleugnet mich nicht weiter, denn es geht um die Ewigkeit, legt alles Bösartige und den Hass auf mich ab, und ihr werdet gerettet“. – Für alle diese Aufforderung ist es ganz unerheblich, ob der Angesprochene erwählt ist oder nicht.
Dass die Lehre vom begrenzten Sühne mit Mission und Evangelisation zusammenpassen, zeigen die Beispiele von George Whitefield und Jonathan Edwards im 18., William Carey (Vater der modernen Missionsbewegung!), Charles H. Spurgeon im 19. und Francis A. Schaeffer (der sich auch zuallererst als Evangelist sah) im 20. Jhdt. Nur die sog. Hyper-Calvinisten (im 18. und 19. besonders in England unter den Baptisten; Gegner von Spurgeon) lehnten das freie Gnadenangebot und die Verkündigung allen ab.
Vor einigen Jahren sprach Andreas Malessa beim Missionale-Kongress zum Thema „Predigen in der Postmoderne“. Gegen Ende meinte der bekannte Journalist und Pastor: „Wir kriegen weder logisch noch theo-logisch die Paradoxie der Universalität und der Exklusivität Christi harmonisiert. Christus hat alle mit Gott versöhnt und deshalb ist in keinem anderen das Heil – wie wollen Sie das zusammen denken?“ Dies sei kein grundsätzliches Problem, denn wir müssen „doch ohnehin lauter Paradoxien verkaufen“, die man kaum „vernünftig harmonsieren“ kann.
Hier schließt sich der Kreis. Wenn Universalität nur in einer Hinsicht begriffen wird, muss man zu dem Schluß kommen, dass tatsächlich alle schon mit Gott versöhnt sind. Ein Calvinist kann diese Paradoxien durchaus zusammendenken, denn er sieht sowohl den universalen Heilswillen, als auch die Tatsache, dass eben nicht alle mit Gott versöhnt sind. Der Calvinist hat klare Antworten, Malessa flüchtet sich ins Mysterium – und liefert völlig unzureichende Antworten. Denn es stellt sich die simple Frage, die auch Malessa berührt, ob der nichtgläubige Muslim, Buddhist oder Konfuzianer schon das Heil hat oder nicht und zu was er aufgefordert werden kann und muss. Die Frage des ewigen Schicksals steht im Raum. Was kommt bei Malessa nun aber am Ende als Botschaft in unserer pluralistischen, multireligiösen Welt heraus? Ein Mischung aus gelebtem Glauben/guten Werken (Mt 25), Gnade und der Liebe (1 Kor 13). Die postmodern gefärbte arminianistische Position kommt konfus daher (manche Abschnitte erschließen sich mir auch nach fünfmaligem Lesen nicht). Sind es wirklich die Calvinisten, die Evangelisation erschweren?
S. auch Justin Taylor, „A Primer on Limited (or Definite) Atonement“); John Piper, „For Whom Did Jesus Taste Death?“; in deutscher Sprache ist zum Thema J.M. Boices, P.G. Rykens Die Lehren der Gnade zu empfehlen, in Wayne Grudems Biblische Dogmatik Kap. 27 D.