Der „Heidelberger“ und die Demokratie
Die Arbeit an der Neuausgabe des Heidelberger Katechismus in litauischer Sprache ist so gut wie beendet. Das vierköpfige Redaktionsteam (Generalsuperintendent Tomas Šernas, die Pastoren Raimondas Stankevičius aus Vilnius und Rimas Mikalauskas aus Biržai sowie Holger) hat in diesen Tagen dem Text den letzten Schliff gegeben. Anfang Juni wird die Bekenntnisschrift gedruckt. Das Layout ähnelt dem der deutschen Ausgabe im Neukirchener Verlag. An diesem Sonntag ist außerdem Wahltag in Europa, in Litauen ein ganz besonderer, da auch über das zukünftige Staatsoberhaupt abgestimmt wird. Passend dazu ein Beitrag, der eine Brücke schlägt vom reformatorischen Glauben zur Demokratie.
Die Beziehung zwischen dem Christentum und der modernen Demokratie ist komplex und keineswegs ‘glatt’. Es führt keine direkte und gerade Linie von der Bibel zu unseren heutigen Staatsverfassungen. Mit Thomas Zimmermanns ist festzuhalten, dass es „keine allgemeingültige aus der Bibel abzuleitende Verpflichtung des Staates zur Errichtung der demokratischen und republikanischen Staatsform“ gibt (Grundriß der politischen Ethik). Doch es ist genauso wenig Zufall, dass die modernen Demokratien in der christlich geprägten Kultur entstanden. Graham Maddox: „Die Demokratie wurzelt vor allem – jedoch nicht ausschließlich – in Ländern, die kulturell vom Christentum geprägt sind und… von dort Leitvorstellungen für die Ordnung des Zusammenlebens übernommen und weiterentwickelt haben.“ (Religion and the Rise of Democracy) Eine dieser Leitvorstellungen ist ein gewisses Bild vom Menschen. Zuvor seien aber zwei andere Voraussetzungen genannt, die den Boden für die moderne Demokratie bereiteten.
Hier ist zuerst ist die Entgöttlichung – oder genauer: Entsakralisierung – der staatlichen Herrschaft zu nennen. Wir blicken heute wie selbstverständlich auf sterbliche Menschen an der Spitze des Staates, auf Menschen, die letztlich so sind, wie alle anderen. Doch die traditionelle Vorstellung in der Antike war eine ganz andere: die Herrscher sind Götter oder Halbgötter oder zumindest mit dem Potential der Vergöttlichung oder Mittler zwischen Göttern und Menschen. Juden wie Christen sahen dies völlig anders: Menschen sind keine Götter; keiner ist divus (lat. göttlich), sebastos (gr. verehrt) oder soter (gr. Retter) – Titel, mit denen die römischen Imperatoren bald geschmückt wurden. Über jedem Herrscher und Volk steht der Allmächtige und Souveräne. Der liberale Theologe Adolf von Harnack vor etwa einhundert Jahren:
„Praktisch von noch größerer Wichtigkeit als der Kampf gegen die Götterwelt war der Kampf gegen die Menschenvergötterung. Dieser Kampf, der seine Spitze in der radiklen Verwerfung des Kaiserkultes hatte, bedeutete zugleich den entschlossenen Protest gegen die Vermischung von Religion und Patriotismus, also gegen jenes Staatskult, in welchem der Staat (seine Repräsentation im Kaiser) selbst Gegenstand des Kultes war. Ein Hauptzweck und ein Haupterfolg der christlichen Religion ist es gewesen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen der Anbetung Gottes und der Ehrfurcht gegen den Staat und seine Leiter. Das Christentum hat die politische Religion entwurzelt.“ (Die Mission und Ausbreitung der Christentums in den ersten drei Jahrhunderten)
Rom galt es die „ewige Stadt“. Der Staat wurde als ewig betrachtet. Juden wie Christen widersprachen: Rom ist nicht ewig. Eines Tages wird der Staat, wird jede irdische Herrschaft nicht mehr sein. Jede zivile Obrigkeit ist säkular, denn sie existiert nur in diesem saeculum, in diesem irdischen Zeitalter. Irdische Herrschaft ist also wirklich irdisch, nicht mit dem Göttlichen zu vermengen. Das Christentum hat die Staatsführung in gewisser Weise säkularisiert. Nur die Kirche, der unsichtbare Leib Christi, hat ewige Dimensionen. Unsere moderne Staatsauffassung als eines irdischen Gemeinwesens ist daher letztlich durch und durch biblisch.
Dies hat langfristig auch dazu geführt, dass der Bereich, über den die staatliche Herrschaft Macht hat, deutlich eingeschränkt wurde. In der Antike waren die Herrscher regelmäßig an kultischen Handlungen führend beteiligt. Die Christen sahen neben der politischen Herrschaft die geistliche, so dass dem Fürsten keine Verfügung über den Bereich der Religion zugestanden wurde. Die Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, schon angelegt im AT, führte zur Gewaltenteilung zwischen Kirche und Kaiser. Nur auf diesem Boden der eingeschränkten und aufgeteilten Macht konnte die Demokratie wachsen.
Eine zweite Voraussetzung ist die Ebenbildlichkeit des Menschen und daraus folgend die Menschenwürde. Jeder Mensch besitzt eine Würde, die ihm keine Institution nehmen kann; jeder Mensch besitzt Rechte als Mensch und ist in dieser Hinsicht gleich. Jeder Mensch – egal, welcher Rasse, Nation oder Schicht er angehört – ist Gott ähnlich, nämlich als Person geschaffen (s. Gen 1,21). Menschwürde und Menschenrechte sind daher im Wesen des Menschen als personales Geschöpf Gottes begründet.
Es wird oft so getan, als wäre jedem klar, dass der Mensch Würde hat und dass es Menschenrechte gibt und welche es konkret sind. Dabei wird jedoch in der Regel völlig übersehen, dass die Existenz solcher überstaatlicher, alle Menschen verpflichtenden Normen erst einmal begründet werden muss. Jede Begründung der Grund- und Menschenrechte muß sich letztlich auf einen Glauben oder eine Weltanschauung berufen. Die längste Tradition hat der Bezug auf Gott und den Schöpfungsbericht in den ersten beiden Kapiteln der Bibel. Denn wenn es keine Rückbindung dieser Rechte an eine höhere, über den Menschen stehende Instanz gibt, sind die Menschenrechte eben nur das Ergebnis einer Abstimmung und gelten nur solange, solange ihnen zugestimmt wird.
Die moralische Gleichheit ist also eine ‘Erfindung’ des ATs. Die damalige Neuartigkeit dieses Konzepts wird deutlich, wenn man einen Blick in die antiken Kulturen wirft. So lautete der Krönungshymnus des assyrischen Königs Assurbarnipal aus dem 7. Jahrhundert v. Chr.: „Möge Eintracht und Frieden in Assur aufgerichtet werden! Der Gott Assur ist König, wahrhaftig, Assur ist König! Und Assubarnipal ist das Ebenbild des Gottes Assur!“ Der König ist Ebenbild Gottes – und nur er! Im Schöpfungsbericht der Bibel wird diese Gottgleichheit dagegen gleichsam radikal demokratisiert: jeder Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen. Ganz anders als das antike Recht des Mittleren Ostens, das der Nobilität alle und den einfachen Menschen so gut wie keine Rechte zugestand, folgen die Mose-Bücher Mose durchgängig dem Prinzip, dass alle Menschen, sogar Sklaven, als Menschen gelten.
Eine dritte wichtige Bedingung für das Gedeihen der Demokratie ist wieder eine negative: Sünde. C. S. Lewis bemerkte zu Beginn seines Essays „Equality“ (Gleichheit, 1943) treffend: „Ich bin Demokrat, weil ich an den Sündenfall glaube. Die meisten Leute sind es wohl aus dem umgekehrten Grund. Ihre Begeisterung für die Demokratie geht zu einem großen Teil auf die Ideen von Leuten wie Rousseau zurück, die an die Demokratie glaubten, weil sie die Menschen für so weise und gut hielten, dass jeder es verdiene, an der Regierung beteiligt zu werden. Das gefährliche an solchen Argumenten ist, dass sie nicht stimmen. Und wenn immer diese ihre Schwäche deutlich wird, schlagen jene daraus Kapital, denen eine Diktatur lieber wäre“. Lewis war als Christ überzeugt: „Die Menschheit ist so tief gefallen, dass man keinem Menschen die uneingeschränkte Macht über seine Mitmenschen anvertrauen kann.“
Christen haben immer die Sündhaftigkeit des Menschen gelehrt. Aus dem pelagianischen Streit im 5. Jahrhundert ist diese Lehre noch weiter präzisiert und in gewissem Sinne verschärft hervorgegangen. In der Reformationsepoche waren es dann die Protestanten, die betonten, dass alle Menschen „von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung sind und keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott“ haben (Augsburger Bekenntnis, Art. II). Anders als die katholische Theologie lehrten die Reformatoren, dass die Sünde keineswegs nur oder überwiegend bestimmten Bereichen des Menschen zuzuordnen ist (wie z.B. dem sinnlichen Begehren). Auch der Verstand ist mindestens genauso tief gefallen, wie z.B. Calvin hervorhob (Inst. II, 1, 9; 2, 25).
Die hier skizzierte Lehre über die Sündhaftigkeit des Menschen wird traditionell als die über die „vollständige Verdorbenheit“ (engl. total depravity) bezeichnet und manchmal als besonderes Kennzeichen der Reformierten angesehen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich auch Luther z.B. im Kleinen Katechismus über den Ernst der Sünde ähnlich streng äußerte. Und auch sein Konflikt mit Erasmus über den freien Willen drehte sich letztlich um die Frage, zu was der sündige Mensch noch fähig ist; ob der Mensch schwer erkrankt oder tot in Sünden ist. Meist wird heute bevorzugt von „radikaler Verdorbenheit“ gesprochen, was tatsächlich ein besserer Begriff ist. Denn wir sind in allen Teilen, bis in unseren Wesenskern, bis in die Wurzeln (lat. radix) verdorben. „Vollkommen“ kann so missverstanden werden, als ob alle Menschen so schlecht wie nur möglich oder alle gleich schlecht seien, was sicher nicht der Fall ist.
Es ist nun besonders der Heidelberger Katechismus, der diese recht nüchterne Anthropologie in vielen reformierten Ländern verankerte. Schon in Frage 2 wird von der Größe des menschlichen „Elends“ gesprochen. Dies meint sicher auch mehr als nur ein moralisches Versagen, nämlich ein persönliches Scheitern der Existenz. Dass aber dies Elend in seinem Kern mit der Sünde des Menschen zu tun hat, macht Frage 3 deutlich: das Elend wird aus dem Gesetz erkannt, das uns die Übertretungen von Gottes moralischen Geboten vor Augen stellt. In Frage 5 wird noch eins drauf gesetzt: Ich als Mensch „bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen“, so die bekannte Formulierung. In der Antwort von Fr. 7 ist dann von der Vergiftung unserer Natur die Rede, so dass „wir alle von Anfang an Sünder sind“. Frage 8: „Sind wir aber so böse und verkehrt, dass wir ganz und gar unfähig sind zu irgendeinem Guten und geneigt zu allem Bösen?“ Die Antwort: „Ja, es sei denn, dass wir durch den Geist Gottes wiedergeboren werden.“
Autor Ursinus hat hier in sehr prägnanten und wirkungsmächtigen Worten eine Lehre formuliert, die auch in anderen reformierten Bekenntnisschriften zu finden ist. Im Zweiten Helveticum (1566) schreibt Bullinger in Kap. 8 von einer „angeborenen Verderbtheit“. Durch diese geerbte Sünde „sind wir versunken in verkehrter Begierde, abgewandt vom Guten, aber geneigt zu allem Bösen, erfüllt mit Schlechtigkeit, Misstrauen, Verachtung und Hass gegen Gott…“ Auch das Niederländische Bekenntnis (1561) aus der Feder von Guy de Brès spricht in Kap. 15 von einer „Verderbnis der ganzen Natur“, einer „giftigen Wurzel“, die „alle Art von Sünde im Menschen hervorbringt“. Sie wird „nicht durch die Taufe ganz gehoben oder mit der Wurzel ausgerissen“.
Diese kompromisslosen Sätze sind natürlich schon früh auf Widerstand gestoßen. Im Zuge der Aufklärung wurden sie endgültig untragbar. Katechismus-Kenner Thorsten Latzel, Leiter der Ev. Akademie Frankfurt, zitiert in einem Vortrag ein Spottgedicht von Aufklärungsanhängern aus dem reformierten Lippe Mitte des 19. Jahrhunderts:
„Wir wollen ihn nicht haben, den Heidelberger Kohl!
An ihm mag der sich laben, dem Schimmel schmecket wohl. […]
Was einst war gute Speise in altvergang’ner Zeit,
Auf langer Erdenreise verschimmelt ist es heut.
Vom angebor’nen Bösen der Geist zu uns nicht spricht.
Zum Haß geschaff’ne Wesen, gottlob!, das sind wir nicht!“
Dieser Spott vieler Vertreter der Aufklärung, die sich zu Aposteln des gesellschaftlichen und politischen Fortschritts berufen sahen, ist geradezu absurd. Denn es war ausgerechnet dieses ‘pessimistische’ Menschbild, wie es sich vor allem im Heidelberger ausdrückte, das den Marsch in Richtung parlamentarischer Demokratie vorangetrieben hat. Es waren ja ausgerechnet die calvinistische geprägten Staaten wie die Schweiz, die Niederlande, Schottland und die angelsächsischen Länder, die mit der Kontrolle der Regierenden konsequent Ernst machten. (Von dem frühen Selbstbewusstsein republikanischer Bürgermacht zeugte auch die Architektur: s.o. das Amsterdam des 17. Jahrhunderts)
Das biblische Menschenbild bedeutet nämlich für den Bereich der Politik, dass es letztlich nicht entscheidend wichtig ist, ob ein Monarch oder ‘das Volk’ oder eine Gruppe regiert. Der grundlegende Gedanke ist, dass Macht in den Händen von Herrschenden begrenzt und kontrolliert werden muss. Menschen müssen vor dem Machtmissbrauch durch andere geschützt werden. Denn selbst intellektuelle Eliten (und seien es die Philosophen-Herrscher Platons) sind fehlbar und anfällig für Sünde – und je mehr Macht der Mensch hat, desto korrumpierbarer wird er.
Gott hat natürlich in der Geschichte viele Monarchen in den Dienst genommen und selbst so manchen Despoten – wie wir heute sagen würden – für seine Zwecke benutzt (man denke an die persischen Könige im AT). Dennoch kommt Calvin zu dem Schluss, dass Einzelnen keinesfalls zu viel Macht gegeben werden sollte, „weil es sehr selten vorkommt, dass die Könige sich so viel Maß auferlegen, dass ihr Wille niemals von Recht und Gerechtigkeit abweicht, und weil sie ferner auch sehr selten mit solchem Scharfsinn und solcher Vorsicht begabt sind, dass jeder einzelne König soviel sieht, wie es zureichend ist. So bringt es also die Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen mit sich, dass es sicherer und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, so dass sie also einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen, und wenn sich einer mehr als billig erhebt, mehrere Aufseher und Meister da sind, um sein Willkür im Zaume zu halten.“ (Inst. IV, 20, 8) Calvin sprach sich daher – wie schon viele vor ihm, man denke an Aristoteles – für eine „gemischte“ Staatsverfassung mit Elementen aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie aus und nannte dies „republikanisch“.
Das Echo dieser protestantischen Überzeugungen reicht bis zur Unabhängigkeitserklärung der USA (1776). Dort ist interessanterweise nirgendwo von Demokratie oder Volksherrschaft oder auch Volkssouveränität die Rede. In der Präambel wird davon ausgegangen, dass alle Menschen als von Gott geschaffen „von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden“. Dazu gehören „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“. Zum Schutz dieser Rechte wirken die Regierungen. Ihre Macht und Gewalt leiten sie von der „Einwilligung der Regierten“ her. Kein Wort von einer Umsetzung des Volkswillens o.ä. Der Akzent ist vielmehr ein negativer: Wenn eine Regierung sich nicht mehr an dieser Aufgabe orientiert (dem Schutz der Rechte der Bürger), dann haben diese das Recht, die Regierung „zu verändern oder abzuschaffen“. Regierungen sollten dabei nicht wegen „leichter“ Vergehen beseitigt werden. Gibt es aber eine „lange Reihe von Misshandlungen“ oder gar das Streben nach „unumschränkter Herrschaft“, „so ist es ihr [der Bürger] Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen“.
Diese Traditionslinie reicht bis zu Karl Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde im 20. Jahrhundert. Der aus Österreich stammende Philosoph, nun britischer Staatsbürger, hatte es als seinen „Beitrag zu den Kriegsanstrengungen“ geschrieben – „gegen Nazismus und Kommunismus“. Sein erstmals 1945 erschienenes Werk ist vom Ethos der Demokratie durchdrungen – aber dennoch negativ: mit den demokratischen Instrumenten das Schlimmste verhindern.
Popper betont: „Die Theorie der Demokratie beruht nicht auf dem Prinzip der Herrschaft der Majorität; die verschiedenen Methoden einer demokratischen Kontrolle… sind nicht mehr als wohlversuchte und… ziemlich wirksame institutionelle Sicherungen gegen eine Tyrannei“. Demokratie definiert er also nicht als Volksherrschaft“ oder Herrschaft der Mehrheit. Popper weiter: „Die Theorie, die ich im Sinne habe, geht nicht von der Annahme aus, dass die Herrschaft der Mehrheit im Grunde vortrefflich oder rechtschaffen ist, sondern von der Überzeugung, dass die Tyrannei verwerflich ist. Genauer gesagt: die Theorie stützt sich auf den Entschluss, die Tyrannei zu vermeiden oder sich ihr zu widersetzen.“ Tyrannisch sind „solche Regierungen, die die Beherrschten nur durch eine gewaltsame Revolution loswerden können – und das heißt in den meisten Fällen, überhaupt nicht“. Demokratien – dazu „gehören Regierungen, deren wir uns ohne Blutvergießen, zum Beispiel auf dem Wege über allgemeine Wahlen, entledigen können.“
Demokratie ist für ihn die Staatsform, die es ermöglicht, Regierungen und Herrscher loszuwerden, und zwar ohne Blutvergießen. Auf diese Art kann der Schaden einer schlechten Regierung begrenzt werden. Die andere Regierungsform, die dies nicht ermöglicht und die nur blutige Revolutionen als Mittel zum Herrschaftswechsel kennt, nennt er Diktatur oder Tyrannei. Die bewährteste Art, eine Regierung loszuwerden, ist dabei die allgemeine Wahl und die Entscheidung der Mehrheit gegen einen Herrscher. Die Hauptfrage ist daher für Popper nicht, wer herrscht, und auch nicht, was der Volkswille sei, sondern vielmehr: „Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“
Popper (1902–1994) war Agnostiker, aber diese nüchterne Frage ruht gleichsam auf einer christlichen Lehre vom Menschen: Als Ebenbilder Gottes sind Menschen zu großartigen Leistungen fähig, aber bleiben wir wachsam, rechnen wir auch bei den ‘Besten’ mit Fehlern, Versagen und Machtmissbrauch. Denn die Neigung zu Hass und Selbstsucht steckt tief in uns drin.
Poppers Freund und Kollege F.A. von Hayek, auch ein Agnostiker, hat dann zu Recht immer wieder unterstrichen, dass mit der Etablierung von parlamentarischen Demokratien der Kampf gegen die Tyrannei keineswegs zu den Akten gelegt werden kann, im Gegenteil. Denn die Demokratie, so Hayek, bleibt auch selbst immer gefährdet, sich tyrannisch zu gebärden. Wie schon Tocqueville im Jahrhundert zuvor prophezeite, droht nun die Tyrannei der Mehrheit. Hayek forderte daher, die Demokratie noch strenger zu kontrollieren, als andere Staatsformen.
Von dem nüchternen Geist à la Popper und Hayek ist heute kaum etwas zu sehen. Wir hören nun immer nur, wieviel Gutes der Staat uns tun kann (und soll); Klima, Erziehung, Ernährung usw. usf. – um alles kümmert sich ein wohlwollender Staat. Nun ist zu beobachten, was passiert, wenn sich eine Kultur von den christlichen Wurzeln entfernt: eine zu optimistische Sicht des Menschen. Denn diese bringt die demokratischen Allmachtsvorstellungen hervor. Schon Emil Brunner nannte dies „Demokratismus“.
Der Heidelberger Katechismus enthält keinen Abschnitt über die zivile Obrigkeit (einzig Fr. 104–105 gehen eher indirekt darauf ein). Ausführlicher unter den protestantischen Bekenntnisses gehen das Zweite Helevticum (Kap. 30), das Niederländische (36) und das Westminster-Bekenntnis (23) auf den Staat ein (s. auch Augsburger Bekenntnis, 16). Dennoch ist gerade der Heidelberger mit seinen prägnanten Worten zum Menschen zu hören. Er ist nicht nur in „altvergang’ner Zeit“ eine wertvolle Orientierungshilfe gewesen. Er bürstet mit seiner Nüchternheit gegen den Strich, aber es ist genau das, was unsere heutigen Demokratien und Gesellschaften brauchen.