Christi Gehorsam und unser Heil
„Christus lebte das Leben, das wir hätten leben sollen, und er starb den Tod, den wir hätten sterben müssen.“ Tim Keller
In welcher Beziehung stand Jesus zu seinem Vater? Hier fallen einem sofort die Stichworte Liebe (Joh 10,17; 15,9) und Einheit (Joh 10,30) ein. Vater, Sohn und Geist sind eins, in liebevollen Beziehungen verbunden. W. P. Young spricht in Die Hütte von einem „vollkommenen Kreis der Liebe“, in dem sich die Personen der Trinität befinden.
Doch dies ist eben nicht alles. Jesus tat immer den Willen des Vaters, erfüllte seine Gebote (Joh 4,34; 6,38; 15,10). Niemand konnte ihm daher eine Sünde nachweisen (Joh 8,46). Auch ihm galt die Forderung nach Gehorsam, denn er war auf Erden „unter das Gesetz getan“ (Gal 4,4). Er kam nicht, um das Gesetz abzuschaffen, bekräftigte vielmehr dessen Forderungen und rief die Jünger dazu auf, dem Gesetz Gehorsam zu sein (Mt 5,17; 7,12; 19,17; 22,40). Er verurteilte die Pharisäer, weil sie die konkreten Bestimmungen des Gesetzes missachteten (Lk 11,42). Christus lernte Gehorsam (Hbr 5,8), was aber sicher nicht heißt, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt ungehorsam gewesen wäre. Er war während des ganzen Lebens seinem Vater gehorsam, von Beginn an „bis zum Tod“ (Fil 2,8). Dieser Gehorsam war nicht erzwungen, sondern geschah ganz aus freien Stücken. D. Bonhoeffer:
„Jesus Christus steht vor Gott als der Gehorsame und als der Freie. Als der Gehorsame tut er den Willen des Vaters in blinder Befolgung des ihm befohlenen Gesetzes. Als der Freie bejaht er den Willen aus eigenster Erkenntnis, mit offenen Augen und freudigem Herzen…“ (Ethik)
Was hat dies mit unserem Heil zu tun? Dafür müssen wir zuerst klären, was Gott vom Menschen fordert. Hier ergibt sich in AT und NT ein recht eindeutiges Bild. Jeder Mensch ist dazu berufen, Gottes Willen zu tun (s. z.B. Ps 143,10; Prd 12,13; Mt 6,10). Dieser Wille findet Ausdruck in Gottes Gesetz, das ihn vollkommen widerspiegelt. Nach diesen Geboten soll konkret gehandelt werden: „Darum sollt ihr meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben“ (Lev 18,5; s. auch Gal 3,12). „Denn vor Gott sind nicht gerecht, die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein“ (Röm 2,13). Auch Nichtjuden gelten diese Forderungen, und das auch schon vor dem Sinaibund, als Israel das (geschriebene) Gesetz erhielt (z.B. Verbot von Mord, Ehebruch, Lüge, Vergewaltigung: Gen 9,6; Job 31,11; Gen 12,11–20; 34,1–7.26–31. Pflicht zur Arbeit, barmherzigen Hilfe, Gastfreundschaft: Gen 2,15; Job 29,12–13.16; Job 31,32). Daher wissen auch sie, „dass, die solches tun, nach Gottes Recht den Tod verdienen“ (Röm 1,32).
Gott gab Adam sein moralisches Gesetz, dadurch verpflichtete er ihn und alle seine Nachkommen zu einem „persönlichen, umfassenden, genauen und immerwährenden Gehorsam.., für dessen Erfüllung er Leben verheißt, für die Übertretung den Tod androhte“, wie das Westminster-Bekenntnis zusammenfasst (XIX,1). Zu beachten ist, dass das Gesetz Gottes nicht nur – in negativer Hinsicht – strafende Sanktionen vorsieht, sondern auch positive Forderungen stellt: Wir sollen seine Gebote vollkommen erfüllen.
Im Sündenfall erlag Adam der Versuchung, misstraute Gott und brach dessen klares Gebot – er wurde ungehorsam und mußte die Strafe dafür tragen (Vertreibung aus dem Garten Eden bis hin zum physischen und geistlicher Tod). Seit Adam gilt nun: Da ist keiner, der das Gesetz (vollkommen) hält, „sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhms…“ (Röm 3,23); „da ist keiner der gerecht ist, auch nicht einer“ (Röm 3,10); durch den Bruch des Gesetzes wird Gott „geschändet“ – und zwar von allen (Röm 2,23; s. auch 1 Kön 8,46; Ps 143,2; Gal 3,11).
Somit liegt auf dem Menschen nach dem Fall eine doppelte Verpflichtung: Strafe für Sünde und Forderung nach vollkommenem Gehorsam.
Gott befreite die Menschheit aus diesem Dilemma, indem er seinen Sohn sandte. Jesus wurde wirklicher Mensch, nahm Fleisch und Blut an (Hbr 2,14), wurde „den Menschen gleich“ (Phil 2,7) und unterstellte sich damit auch dem Gesetz. Luther kommentierte Gal 4,4–5: „In einer zweifachen Weise stellte sich Christus selbst unter das Gesetz. Erstens stellte er sich unter die Werke des Gesetzes,… wurde beschnitten,… war Vater und Mutter untertan… All dies tat er willentlich… Zweitens unterstellte er sich auch willentlich der Drohung und Strafe des Gesetzes.“
Im NT werden dann Adam und Jesus Christus gegenübergestellt: Es ist kein Zufall, dass als erste Episode nach Geburt und Taufe Jesu im Matthäusevangelium die Versuchungsgeschichte folgt (Mt 4,1f). Anders als Adam erlag Jesus nicht der Versuchung, war Gott ganz gehorsam. Er wird der „letzte Adam“ (1 Kor 15,45) genannt. „Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden“ (1 Kor 15,22). Paulus führt diese Parallele auch in Rom 5,12f aus und stellt den Gehorsam Jesu dem Ungehorsam Adams gegenüber: „Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten“ (Röm 5,19). Calvin: „Da trat der Herr selber als wahrer Mensch ins Mittel, nahm die Gestalt Adams an, legte sich seinen Namen bei, um an seiner Statt dem Vater den schuldigen Gehorsam darzubringen…“…“ (Inst. II,12,3)
Zweifellos steht das Kreuz Christi im Zentrum der Erlösungslehre. Auch Calvin schreibt: „Aller Nutzen der Erlösung und alle seine Teile sind in Seinem Tod enthalten“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nur sein Sterben für uns Bedeutung hätte. Das Kreuz ist der höchste Akt des Gehorsams wie auch Paulus in Phil 2,8 betont: „Er erniedrigte sich bis selbst und war gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“. Er hat sein ganzes Leben für uns dargebracht. Nicht nur sein Tod, sondern auch sein Leben war in gewissem Sinne ein Opfer. Er lebte sein ganzes Leben für uns, nahm an unserer Statt die Strafe des Gesetzes auf sich und war stellvertretend für uns in seinem Leben gehorsam. Daher ist das Zentrum, der Grund und der Sinn des Evangeliums Christus selbst. Calvin fasst gut zusammen:
„Fragt man nun, auf welche Weise Christus die Sünde getilgt, den Streit zwischen uns und Gott ein Ende gemacht und uns die Gerechtigkeit erworben hat, die uns Gott wieder geneigt und gnädig macht, so ist darauf allgemein zu antworten: er hat das durch den Gehorsam während seines ganzen Lebens vollbracht.“ (Inst. II,16,5)
Die Reformatoren kennzeichneten das Erlösungswerk Christi recht oft mit dem Begriff des Gehorsams. Der Heidelberger Katechismus spricht vom „ganzen Gehorsam“, „den Christus für mich geleistet hat“ (Fr. 60). In der lutherischen Konkordienformel (1577) wird festgehalten, dass „Christus unsere Gerechtigkeit… in seinem Gehorsam ist, den er als Gott und Mensch dem Vater bis in Tod geleistet und uns damit Vergebung der Sünden und das ewige Leben verdient hat“ (Epit., III, Aff. 1). Er tat also für uns konkret zwei Dinge: An unserer statt nahm er die Sündenstrafe auf sich, als er am Kreuz starb und erwirkte damit Vergebung der Sünden; und an unserer statt brachte der den vollkommenen Gehorsam, indem er tat alles, was das Gesetz fordert, womit er das ewige Leben für uns errang.
Christi Gehorsam hat also diese beiden Seiten oder Aspekte, weshalb auch in der Theologie von seinem „doppelten Gehorsam“ gesprochen wird. Traditionell wird der aktive und passive Gehorsam Christi unterschieden.
Der passive Gehorsam meint Christi stellvertretendes Leiden wie schon in Jes 53,4–6 beschrieben. „Passiv“ klingt heute nach Inaktivität, gemeint ist aber vor allem die ursprüngliche lat. Bedeutung „leiden“. Denn Christus war auch in seinem Leiden durchaus aktiv wie 1 Pt 2,24 zeigt, wo es heißt, dass er selbst „unsere Sünde mit seinem Leibe ans Holz hinaufgetragen hat…“ (s. auch Joh 10,18). Gott hat seinen Sohn nicht gegen dessen Willen ans Kreuz geschickt, er hat immer freiwillig, eben im Gehorsam, gelitten. Schließlich gilt zu beachten, dass Christus nicht nur am Ende seines Lebens gelitten hat. Er war im ganzen Leben passiv gehorsam, er hat im ganzen Leben gelitten wie auch der Heidelberg Katechismus (Fr. 37) betont: „Jesu Christus hat an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens auf Erden, besonders aber an dessen Ende, den Zorn Gottes über die Sünde des ganzen Menschengeschlechts getragen.“ Und Karl Barth: „Die Gegenwart dieses Lebens ist von Anfang an Leiden“, er wurde abgelehnt, verfolgt, nicht verstanden, verraten, sah sich Versuchung ausgesetzt, war einsam, fremd und verlassen – „Das ganze Leben Jesu vollzieht sich in dieser Einsamkeit und so bereits im Schatten des Kreuzes“ (Dogmatik im Grundriß).
Der große Baptistenprediger C.H. Spurgeon stellte diese Zusammenhänge in der Predigt „The Old, Old Story“ im Jahr 1862 gut dar: „Nachdem der Mensch gesündigt hat, verlangt Gottes Gerechtigkeit, dass die Strafe vollzogen wird. Schließlich sagte er: Der Mensch, ‘der sündigt, der soll sterben’ [Hes 18,20]. Also muss der Sünder wirklich sterben, es sei denn, Gott lügt.“ Hier kommt nun Christi passiver Gehorsam ins Spiel:
„Jesus Christus, der zweite Adam, das Haupt des Bundes der Erwählten, trat vor. Er gab sich selbst, um die Strafe auf sich zu nehmen, die ihnen galt, um so das Gesetz zu erfüllen und zu ehren, das sie nicht hielten und das sie missachteten. Er gab sich selbst als unser Stellvertreter, der an unserer statt steht. Christus wurde der Stellvertreter seines Volkes, litt an ihrer Stelle und führte all das aus, zu dem sie nicht in der Lage waren…“
Aber dies ist noch nicht alles. Spurgeon weiter:
„Außerdem war er dem Gesetz des Vaters in unüberbietbarer Weise gehorsam. Er erfüllte den Willen, von dem es hieß: ‘Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern, und dein Gesetz hab ich in meinem herzen’ [Ps 40,9]. Er hatte also sowohl eine Sühne für Sünden als auch eine vollständige Erfüllung des Forderungen des Gesetzes erwirkt…“
Spurgeon spricht hier nun vom aktiven Gehorsam Christi. Christus nahm nicht nur Strafe und Fluch des Gesetzes aus sich, sondern erfüllte dessen Forderungen in vollkommener Weise. Er blieb nicht nur sündlos, sondern tat alles von Herzen, mit aller Kraft und in aller Konsequenz all das, was das Gesetz verlangt.
Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts gebrauchten noch nicht die Begriffe des aktiven und passiven Gehorsams, doch inhaltlich finden sich diese beiden Aspekte bei ihnen. In Inst. II,17,3–5 schreibt Calvin, dass „Christus durch seinen Gehorsam wirklich die Gnade bei dem Vater erworben und verdient hat…“ Weiter: „Wir sind durch sein Blut rein gemacht, und sein Tod tilgt als Genugtuung unsere Sünde aus… Christus hat das Lösegeld dargebracht, um uns damit von der Todesschuld loszukaufen.“ Hier ist von Christi passiven Gehorsam und der Befreiung von Schuld die Rede. Anschließend zitiert er Gal 2,21 („wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“) und erläutert den aktiven Gehorsam:
„Daraus ist zu entnehmen, dass wir bei Christus suchen müssen, was das Gesetz gewähren würde, wenn es einer erfüllte, das heißt: dass wir durch Christi Gnade die Erfüllung der Verheißung erlangen, die Gott unseren Werken im Gesetz gegeben hat: ‘Der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben’ [Lev 18,5]… Christus… hat uns mit Gott derart versöhnt, als hätten wir das Gesetz erfüllt… [zit. Gal 4,4–5]. Wozu ist er anders unter das Gesetz getan als dazu, dass er das zu leisten unternahm, was wir nicht zu schaffen vermochten, und uns auf diese Weise die Gerechtigkeit erwarb?“
Der Nutzen dieses zweifachen Gehorsams Christi für uns ist also auch ein zweifacher. Der kürzere Westminster-Katechismus: „Rechtfertigung ist ein Akt von Gottes freier Gnade, wodurch er [a] alle unsere Sünden vergibt, [b] uns als Gerechte in seiner Sicht annimmt, allein wegen der Gerechtigkeit Christi, die uns angerechnet wird, und die durch Glauben allein empfangen wird.“ (Fr. 33). Und im Zweiten Helvetischen Bekenntnis schreibt Heinrich Bullinger: „Christus hat die Sünden der Welt auf sich genommen und getilgt und so der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan.“ Unsere Sünden werden uns nicht angerechnet, „dagegen rechnet er uns Christi Gerechtigkeit an, als ob es unsere eigene wäre, so dass wir [a] nicht nur von Sünden gesäubert und gereinigt oder heilig sind, sondern [b] auch solche, die dazu noch die Gerechtigkeit Christi bekommen haben. So sind wir denn freigesprochen von Sünden, Tod und Verdammnis und sind Gerechte und Erben des ewigen Lebens.“ (XV,3) Wir erhalten also einmal Sündenvergebung: der Makel der Sünde wird beseitigt, wir werden gereinigt; außerdem wird uns Christi Gerechtigkeit zuteil, so dass wir das ewigen Leben erhalten.
All dies sind keine theologischen Spitzfindigkeiten, sondern hat direkt mit unserem ewigen Schicksal zu tun. Etwas vereinfacht können wir sagen: Der passive Gehorsam Christi bewahrt uns vor der Hölle, und sein aktiver Gehorsam verschafft uns das ewige Leben im Himmel bei Gott. Daher sagte J. Gresham Machen, wohl der wichtigste konservative presbyterianische Theologe zwischen den Weltkriegen, die für uns heute seltsam klingenden Sätze: „Ich bin so dankbar für den aktiven Gehorsam Christi! Keine Hoffnung ohne diesen.“ In einem Radio-Interview kurz vor seinem Tod 1937 erläuterte Machen: „Wenn Christus nur die Strafe für unsere Sünden durch seine passives Leiden bezahlt hätte, wären wir bloß in den Garten Eden zurückgesetzt“ (s. auch hier). Ohne den aktiven Gehorsam Christi hätten wir zwar Vergebung der Sünden, wären aber geichsam zurückversetzt in die Position Adams vor dem Fall. Ein zeitgenössischer Theologe wie Wayne Grudem führt aus:
„Wenn Christus nur die Sündenvergebung für uns erworben hätte, würden wir nicht den Himmel verdienen. Unsere Schuld wäre getilgt, aber wir wären einfach in der Position Adam und Evas bevor sie etwas gutes oder böses getan und bevor sie eine Zeit der Bewährung erfolgreich bestanden hatten. Um in Ewigkeit der Gemeinschaft mit Gott sicher zu sein und in Gerechtigkeit gegründet zu sein, mussten Adam und Eva über einen Zeitraum gehorsam sein. Dann hätte Gott mit Wohlgefallen und Freude auf ihren treuen Gehorsam geblickt, und sie hätten mit ihm in ewiger Gemeinschaft gelebt. Aus diesem Grund musste Christus ein Leben des perfekten Gehorsams gegenüber Gott leben, um diese Gerechtigkeit für uns zu erwerben. Er musste das Gesetz in seinem ganzen Leben an unserer Statt befolgen, damit uns die positiven Verdienste dieses perfekten Gehorsams zugerechnet werden.“ (Systematic Theology; s. hier und nun auch die deutsche Ausgabe von Grudems Dogmatik hier und Auszüge hier.)
Auch Calvin lehrte, dass Adam einer „Prüfung im Gehorsam“ unterlag: „Adam sollte durch seine Folgsamkeit beweisen, dass er sich gern Gottes Befehl unterwarf“ (Inst. II,1,4). Christus hat den Test bestanden, indem er im ganzen Leben seinen vollkommenen Gehorsam demonstrierte – und das für uns! Michael Horton:
„So wichtig es auch ist, dass Christus die Strafe für unsere Sünden am Kreuz auf sich nahm, so ist es nicht weniger wichtig, dass er über die Mächte des Bösen triumphierte und die Geschichte der gefallenen Menschheit und Israels rekapitulierte. Adam wurde geboten das Gesetz zu halten und versagte; Israel wurde geboten dem Gesetz zu gehorchen und versagte. Doch Christus kam in diese Welt und vollendete ein Leben des vollkommenen Gehorsams dem Gesetz des Vaters gegenüber. Christus, der eine Gerechte, war tatsächlich der letzte Adam, das wahre Israel… Uns wurde nicht nur auf Grundlage des den Fluch auf sich nehmenden Todes Christi vergeben, wir sind auch gerecht erklärt auf der Grundlage der bestandenen Prüfung seines Lebens.“ (Art. „Obedience is better than sacrifice“)
Diese Lehre vom Gehorsam Christi ist nicht nur Glaubensgut der Lutheraner und Reformierten. Der große puritanische Theologe John Owen (1616–1683) legte sie ausführlich in Communion with God dar. Er wiederum war maßgeblich bei der Erstellung des Bekenntnisses der Kongregationisten beteiligt, der „Savoy Declaration“ (1658, dort XI,1). Das Londoner baptistische Glaubensbekenntnis von 1677/89 spricht ebenfalls von Christi aktivem und passivem Gehorsam (XI,1), genauso wie das erste Bekenntnis der deutschen Baptisten, 1847 verfasst von J.G. Oncken: „Also leistete er [Christus] einen tätigen Gehorsam, indem er für uns das ganze göttliche Gesetz erfüllte, und einen leidenden, indem er seinen Leib und seine Seele als ein Opfer für uns darbrachte“ (IV). Zugänglich ist heute auch die Dogmatik A Body of Doctrinal Divinity (1767) des englischen Baptisten John Gill (1697–1771) (Kap. über Christi Gehorsam s. hier und hier). Ein evangelikales Dokument aus dem Jahr 1999, von vielen Leitern und Theologen unterzeichnet: „The Gospel of Jesus Christ: An Evangelical Affirmation“ (dort Aff.&Denials 8–9; s. hier).
Doch all dieses Reden von Gesetz und einem „vollkommenen“ Gehorsam riecht heutzutage nach Gesetzlichkeit. Und tatsächlich ist Gesetzlichkeit eine der größten Gefahren: Man versucht sich selbst zu retten durch Gehorsam, das Einhalten von Regeln, das Tun guter Werke. Dies ist ein falsches Evangelium, ein Evangelium unserer Werke. Das wahre Evangelium ist auch ein Evangelium der Werke – aber Christi Werke. Wir sind durch Werke gerettet, und zwar Christi. Er tat alles für uns. Wir werden also nicht jenseits des Gesetzes gerettet, nicht ohne Gehorsam; wir werden durch Christus aus Gnaden gerettet, weil er für uns das Gesetz erfüllte, beiden seinen Forderungen nachkam. Luther im Galaterkommentar: Christus ist nicht Gesetzesabschaffer, auch nicht Gesetzgeber, sondern Gesetzeserfüller. So nimmt diese Lehre aller Gesetzlichkeit in Wirklichkeit die Grundlage, aber eben nicht dadurch, dass billig gegen das Gesetz polemisiert wird oder dessen Forderungen aufgeweicht werden.
In Christus treffen sich daher auf wunderbare Weise Gerechtigkeit und Barmherzigkeit – ohne, dass das eine über das andere triumphiert wie W.P. Young leider in Die Hütte meint. Dort fragt Jesus Mack rhetorisch: „Willst du, dass er [Gott-Vater] sich allen gegenüber als gerecht erweist? Willst du Gerechtigkeit…?“ Natürlich nicht, so gibt Young zu verstehen. Und das ist insofern richtig, als das gerechte Urteil Gottes über unsere Sünde ein vernichtendes wäre. Young liegt aber auch völlig daneben, weil Gottes Gerechtigkeit eben doch voll zum Zuge kommt: sein Sohn erfüllt sie ganz.
Die Lehre vom doppelten Gehorsam hat einen großen Vorteil. Sie bewahrt uns vor einem Evangelium der „zweiten Chance“, das in etwa so klingt: Durch Christi Tod ist die Schuld beseitigt; damit ist mir gleichsam eine zweite Chance gegeben, und nun muss ich zusehen, dass ich’s nicht noch mal vermassele und umso anständiger lebe. Die Konkordienformel lehnt dieses Denken streng ab; als falsche Lehre wird verworfen, „dass der Mensch, nachdem er wiedergeboren, das Gesetz Gottes vollkommen halten und gänzlich erfüllen könne, und dass solche Erfüllung unsere Gerechtigkeit vor Gott sei, mit welcher wir das ewige Leben verdienen.“ (Epit., II, Neg. 5)
Natürlich sind wir zu einem neuen Lebensstil, zu moralischem Verhalten und neuem Gehorsam berufen (davon soll hier nicht die Rede sein), doch unser neuer Gehorsam „ist unvollkommen und unrein“, so im Hauptteil der Konkordienformel. Unser Glaube ruht „weder auf [unserer] Reue, noch Liebe oder auf anderen Tugenden, sondern vielmehr auf Christus allein, und zwar auf seinem vollkommenen Gehorsam, durch den er das Gesetz an unserer Statt erfüllte und der zur Gerechtigkeit den Gläubigen zugerechnet wird“, so die Einsicht der lutherischen Väter.
Christus schenkte uns einen „umfassenden Gehorsam“, denn er war nicht nur im Sterben und in der Passion am Lebensende gehorsam; sein Gehorsam war „im Tun und Leiden, im Leben und Sterben“. Daher wir „vertrauen auf Ihn, dass wir allein um seines Gehorsams willen die Vergebung der Sünden aus Gnaden haben, von Gott dem Vater als fromm und gerecht angesehen werden und ewig gerettet werden“ (Sol. decl., III, 10–16, 30–34).
Auch der Heidelberger Katechismus hält in Fr. 60 („Wie bist du gerecht vor Gott?“) hervorragend den Kern des Evangeliums fest, betont nüchtern: „und noch immer [bin ich als Christ] zu allem Bösen geneigt“. Daher sind auch die Werke des Christen keinerlei Verdienst vor Gott. Der Glaube stützt sich auf Christus, auf seine Gerechtigkeit und seinen Gehorsam. Der Gehorsam war umfassend, und diesen „ganzen Gehorsam“ hat er „für mich geleistet“.
Wir enden mit Versen aus dem Schatz des protestantischen Liedguts. Eines der ältesten und populärsten evangelischen Kirchenlieder ist „Es ist das Heil uns kommen her“, das auch Aufnahme in das erste Gesangbuch der Evangelischen überhaupt fand (das „Achtliederbuch“ von 1523). Dort fasst der Freund Luthers P. Speratus in 14 Strophen die Lehre von der Erlösung im Hinblick auf Gesetz, Gnade, Glaube und Werke hervorragend zusammen. Eine Strophe lautet: „Doch mußt das G‘setz erfüllet sein, / sonst wärn wir all verdorben. / Drum schickt Gott seinen Sohn herein, / der selber Mensch ist worden. / Das ganze Gesetz hat er erfüllt, / damit seins Vaters Zorn gestillt, / der über uns ging alle.“
Und Verse des großen puritanischen Liederdichters Isaac Watts (1674–1748): „Wenn die gehorsame Schar der unsren / Hat tausend Werke der Gerechtigkeit getan / Dennoch auf Gott allein wir trauen / Und freuen uns seiner Gnade so reich.“ (When our obedient bands have done / A thousand works of righteousness, / We put our trust in God alone, / And glory in his pardoning grace.)
Eine litauische Version dieses Beitrags gibt es hier.