„World Vision“ und die noch grössere Anpassung

„World Vision“ und die noch grössere Anpassung

„The Great Evangelical Disaster“

Vor dreißig Jahren, im Mai 1984, verstarb Francis A. Schaeffer (Bild o.). Der Gründer der L’Abri-Gemeinschaft war nicht nur ein großer Evangelist und Apologet des Christentums. Bekannt machte ihn auch seine scharfe Analyse der Kulturgeschichte wie in Wie können wir denn leben? Wie kaum ein anderer Theologe vor ihm durchleuchtete er moderne und postmoderne Philosophie und Wissenschaft, Literatur und Film, Musik und Malerei. Doch sein Hauptaugenmerk galt dem eigenen, dem frommen Lager.

In den 30er und 40er Jahren war Schaeffer als Student und junger Pastor selbst Teil der fundamentalistischen Bewegung in den USA. Die kritische Auseinandersetzung mit diesem Erbe spielte auch bei der Gründung von L’Abri 1955 in der Schweiz eine Rolle. In einem Brief Ende der 50er Jahre weiß Schaeffer sich mit dem jungen Adressaten eins, dass auch der christliche Fundamentalismus „schreckliche Schwächen“ hat, oftmals „kalt“, d.h. lieblos war (zu scharfe Trennung und Abgrenzung von anderen Christen). Aber er warnt in dem Schreiben davor, das Böse des Liberalismus zu unterschätzen; die Schwächen von Fundamentalismus und Liberalismus dürften in keinem Fall auf eine Ebene gestellt werden. Schaeffer sieht den theologischen Liberalismus als eindeutig gefährlicher an: „Liberalismus mit seiner Leugnung der Bibel als Wort Gottes… zerstört jegliche Möglichkeit von Autorität mit absolutem Charakter.“ Im Hinblick auf die Wahrheitssuche hält er den Liberalismus für „vollkommen destruktiv“, weshalb er „nicht einmal einen Moment lang auch nur andeuten würde, dass Fundamentalismus und Liberalismus gleiche Gefahren darstellen.“ (Letters of Francis A. Schaeffer)

Schaeffer hat sich nie vom dogmatischen Erbe des Fundamentalismus als historischer Bewegung abgegrenzt. Die Wahrheiten, die in der Schriftenreihe „The Fundamentals: A Testimony of the Truth“ (1910–1915) hochgehalten worden waren, bekräftigte er von Herzen. Wie sein Zeitgenosse Carl F.H. Henry (1913–2003), 1956–68 erster Chefredakteur von „Christianity Today“, plädierte er keineswegs für einen dritten Weg zwischen Fundamentalismus und Liberalismus, vielmehr für eine Erneuerung, Reform, Modernisierung, ein Sich-Öffnen der fundamentalistischen oder evangelikalen Bewegung (Henry gebraucht beide Begriffe noch synonym!).

In The Uneasy Conscience of Modern Fundamentalism, seiner wichtigen Programmschrift aus dem Jahr 1947, betont Henry, dass das „Übernatürliche ein wesentlicher Bestandteil der biblischen Sicht“ bleiben muss; an der Fehlerlosigkeit der Bibel ist unbedingt festzuhalten. Er sieht die „Neubelebung des modernenen Evangelikalismus“ nicht darin, dass man lehrmäßige Überzeugungen aufweicht, anpasst und „sich in Richtung des Liberalismus bewegt“.

Wie Henry bekämpfe Schaeffer zeit seines Lebens die Rückzugsmentalität vieler evangelikaler Christen. Und genauso hielt er an der völligen Wahrhaftigkeit der biblischen Offenbarung fest. In seinem Todesjahr erschien das letzte Werk des Presbyterianers mit dem warnenden Titel The Great Evangelical Disaster (Das große evangelikale Desaster). Vier Jahre später kam die deutsche Ausgabe bei „Schulte+Gerth“ heraus: Die grosse Anpassung – Der Zeitgeist und die Evangelikalen. (Nun bei clv und hier als pdf-Datei.)

Lutz v. Padberg und Stephan Holthaus (von der FTA, nun FTH, in Gießen) nennen das Buch in ihrem Vorwort zu Recht „Schaeffers Vermächtnis an die Evangelikalen“, das auch für diese Gruppe in der Bundesrepublik „von brennender Aktualität“ sei. Wie schon in all seinen Büchern zuvor ruft Schaeffer dazu auf, an einer irrtumslosen Bibel festzuhalten. Wahrhaft prophetisch schreibt er:

„Ohne eine feste Meinung zur Bibel als Grundlage sind wir für die schwierigen Zeiten nicht gewappnet. Nur wenn die Bibel ohne Irrtum ist – nicht nur, wenn sie über die Erlösung spricht, sondern auch dann, wenn sie über die Geschichte und den Kosmos berichtet – , haben wir eine Basis für die Beantwortung von Fragen, die uns im Hinblick auf die Existenz des Universums mit seiner Ordnung und im Hinblick auf die Einzigartigkeit des Menschen gestellt werden. Ohne ein tragfähiges Fundament haben wir auch keinerlei absolute moralische Maßstäbe oder Heilsgewissheit, und die nächste Generation von Christen wird nichts haben, auf das sie sich stützen kann. Unseren geistlichen und leiblichen Kindern wird man einen Boden zurücklassen, den man ihnen unter den Füßen wegziehen kann. Sie werden keine Basis haben, auf die sie ihren Glauben und ihr Leben gründen können.“D

Weil das Evangelium Christi verfälscht wird

Schaeffer zeigt in dem Buch auch konkret auf, wie sich die Anpassung weiter Teile der evangelikalen Bewegung gestaltet. So warnt er die Linksevangelikalen davor, „das Reich Gottes mit einem sozialistischen Programm durcheinanderzuwerfen“. Auch „auf dem Gebiet der Ehe und der Sexualmoral ist die evangelikale Welt tief infiltriert vom heutigen Zeitgeist.“ Schaeffer weiter:

„Es gibt jene, die sich evangelikal nennen und die zur evangelikalen Leiterschaft gehören, jedoch das biblische Muster für die Beziehung zwischen Mann und Frau in Familie und Kirche vollkommen verleugnen. Es gibt viele, die den Gedanken von der Gleichheit ohne Unterschied akzeptieren und die biblische Lehre zu diesem Thema vorsätzlich ablehnen.Und es gibt andere, die sich evangelikal nennen und gleichzeitig behaupten, dass die Homosexualität und selbst die Vorstellung einer homosexuellen ‘Ehe’ annehmbar seien. Aber beachten Sie: Das kann nicht geschehen, ohne dass man die Autorität der Bibel auf dem Gebiet der Sexualmoral verneint. Dies ist keinesfalls ein Disput über eine Interpretationsfrage; es handelt sich vielmehr um eine direkte und vorsätzliche Verleugnung dessen, was die Bibel auf diesem Gebiet lehrt.“

Schaeffer schildert die neue Sichtweise, in der die gleichgeschlechtliche Liebe ein Identitätsmerkmal des Menschen sein soll: „Homosexualität ist mit ‘-händigkeit’ zu vergleichen. Das heißt, einige Menschen sind Rechtshänder und andere sind Linkshänder; einige Menschen sind heterosexuell und andere sind homosexuell. Und das eine ist genauso gut wie das andere.“

In so manchen protestantischen Kirchen hat sich dies neue Paradigma nach und nach durchgesetzt. Die „schwierigen Zeiten“ sind wahrlich da. Als 2002 die Synode einer kanadischen Diözese der anglikanischen Kirche den Beschluss zur gottesdienstlichen Segnung homosexueller Paare fasste, verließen manche Delegierte protestierend den Saal. Darunter war auch James I. Packer. Der bekannte britische Evangelikale: „Warum bin ich mit den anderen rausgegangen? Weil diese Entscheidung – in ihrem Zusammenhang betrachtet – das Evangelium Christi verfälscht, die Autorität der Heiligen Schrift missachtet, das Heil der Mitmenschen gefährdet und die Kirche in ihrer von Gott berufen Rolle als Bollwerk und Bastion der göttlichen Wahrheit verrät.“ (s. dazu auch dieses Video)

Hin und Her bei „World Vision“

Beschlüsse dieser Art gab es auch in Europa, doch nur in den Großkirchen, die sich in weiten Teilen dem Zeitgeist ergeben haben. Schaeffers „große Anpassung“ erreicht nun, so scheint es, aber auch das evangelikale Herz. Anfang der Woche gab der US-Zweig der evangelikalen Hilfsorganisation „World Vision“ (WV-US) bekannt, dass man nun auch Menschen anstellen werde, die in gleichgeschlechtlicher Ehe leben. „Christianity Today“ (CT) machte die Entscheidung des Vorstands in einem ausführlichen Beitrag am 24. 03. einem breiten Publikum bekannt („World Vision: Why We’re Hiring Gay Christians in Same-Sex Marriages“).

Das Echo in der evangelikalen Welt war verheerend. Al Mohler vom Seminar der Südlichen Baptisten in Louisville reagierte scharf („Pointing to Disaster – The Flawed Moral Vision of World Vision“); auch der reformierte Pastor und Autor Kevin DeYoung nahm kein Blatt vor den Mund („The Worldliness in World Vision’s New Hiring Policy“); Denny Burke noch dramatischer („The Collapse of Christianity at World Vision“) und Peter Jones mit einem Wortspiel („WORLDly reVISIONing“).

In der deutschsprachigen Blogosphäre meldete wohl zuerst Ron Kubsch auf TheoBlog, wo sich auch der Kommentar des Baptisten Russel Moore in deutscher Sprache befindet:

„Hier steht nichts weniger als das Evangelium Jesu Christi selbst auf dem Spiel! Wäre der sexuellen Umgang jenseits biblischer Ehedefinition moralisch „neutral“, ja, dann sollten wir darauf verzichten, diese Sache zu problematisieren. Hat jedoch die deutliche Aussage der Heiligen Schrift recht und sind die Überzeugungen einer zweitausendjährigen Kirchengeschichte wahr, dann wäre der Verzicht auf den Aufruf zur Umkehr unsagbar grausam, ja, sogar teuflisch!“

Es gab jedoch auch andere Stimmen. Wie auch andere Blogger rief Rachel Held Evans hier zu Spenden für WV-US auf. Matthew Paul Turner beklagte die Reaktion der meisten evangelikalen Größen in den USA in „The Good News for World Vision“: „Aber wir wissen ja, dass viele Christen Homosexualität wirklich hassen. Sie HASSEN sie. Und SIE MÜSSEN UNS DARAN ERINNERN, WIE SEHR SIE SIE HASSEN, immer und immer wieder.“

Doch nun kommt’s: Mitte der Woche nahm WV-US den Beschluss wieder zurück! Wieder brachte CT einen Beitrag („World Vision Reverses Decision To Hire Christians in Same-Sex Marriages”) und zitiert darin den Präsidenten von WV-US, Richard Stearns: „Die letzten beiden Tage waren schmerzhaft… Wir fühlen Schmerz und bedauern von Herzen, dass wir viele Freunde verwirrt haben, die in dieser Änderung der Grundsätze der Personalpolitik eine Abkehr von der biblischen Autorität bei World Vision sehen. Dies war jedoch nicht beabsichtigt… Anstatt mehr Einheit [unter Christen] zu schaffen, haben wir gegen unser Absicht für mehr Spaltung gesorgt.“

„Progressive“ Evangelikale wie Tony Jones nahmen diesen Rückzieher mit Schrecken auf. Der Vordenker der emerging church hier: „Was WV gestern getan hat, wird im größeren und öffentlichen Rahmen junge Leute reihenweise aus der Kirchen und vom Glauben weg drängen.“ Jones zitiert einen anonymen Mitarbeiter von WV-US: „Homosexuelle Menschen arbeiten bei World Vision, und heute [d.h. vor dem Rückzieher] wurde zum ersten Mal öffentlich anerkannt, dass homosexuelle und lesbische Christen herzlich eingeladen sind, bei World mitzuarbeiten – solange sie wie alle unverheirateten Mitarbeiter bereit sind, abstinent zu leben.“

Am Freitag erreichte der Rummel dann auch die deutsche evangelikale Presse. „pro – das Medienmagazin“ meldet: „World Vision US in Personalfrage wankelmütig“. Darin spricht man vom „Unmut vieler Spender“, denn viele hätten „damit gedroht, ihre Zahlungen an World Vision US einzustellen. Die unter anderem mittels Kinderpatenschaften aufgebrachten Spenden verwendet das Hilfswerk weltweit für humanitäre Hilfe an hilfsbedürftigen Kindern, für Entwicklungsprogramme und die Schulausbildung von Kindern.“ Der Leiter von World Vision Deutschland, Christoph Waffenschmidt, nimmt zu der Debatte in den USA Stellung: „Wir sind über die Ereignisse der letzten Tage nicht glücklich.“ Zur umstrittenen Frage sagt er nur so viel: „Der persönliche Lebensstil ist bei uns in Deutschland kein Thema für einen Arbeitgeber. Bewerber und Mitarbeiter bei World Vision Deutschland werden also nicht nach ihrer sexuellen Orientierung oder ihren Partnerschaften gefragt. Niemand wird diskriminiert.“ Das ist natürlich der kantenlose Ton eines Politikers und läßt vermuten, dass man in Deutschland schon viel ‘weiter’ als bei den US-Partnern ist… (s. zum Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch P. Aschoffs Beitrag vom 28.03. hier.)

WorldVision-Logo

„Unsere Wahrheiten sind keine Felsen mehr, sie sind Wanderdünen geworden“

Das Gewitter ist durchgezogen und die üblichen Fronten haben sich herausgebildet. Die Konservativen haben noch einmal Oberwasser bekommen; die „Progressiven“ grollen. Was soll man von all dem halten?

Vergleicht man die beiden Stellungnahmen von WV-US, kann man nur ins Stutzen geraten. Im ersten Dokument, das die neue Personalpolitik begründet („Change in Practice: How We Live Out Our Employee Conduct Policy”), unterstreichen Stearns und der Vorstand, dass sich die Grundsätze und Prinzipien des Werks nicht geändert hätten. Man weist auf das hohe Ansehen des Vorstands hin, zu dem „viele zutiefst geistliche und weise Gläubige gehören, darunter mehrere Pastoren, eine Präsident eines [theologischen] Seminars und ein Theologieprofessor“. Der Vorstand habe sich „mehrere Jahre im Gebet und in Diskussionen“ mit der Frage befasst. Noch immer habe man eine „strikte Sicht der Autorität der Schrift“, und noch immer müssen alle Mitarbeiter „ernsthafte Nachfolger Christi“ sein. Die neue Position wird begründet, und abschließend wird um Respekt für die Entscheidung, getroffen „in herzlicher Weisheit“, gebeten.

Zwei Tage später ist in dem Schreiben ohne Überschrift, das direkt die Freunde der Organisation anredet, gleich eingangs von einem „Fehler“ die Rede (der Text ist z.B. am Ende des CT-Beitrags zu finden). Man habe auf die Kritik der „Partner und christlichen Leiter“ gehört, dankt dafür und bittet sie „demütig um Vergebung“. Stearns bedauert von Herzen „den Schmerz und die Verwirrung“, die der Beschluss bei Freunden hervorgehoben hat; man hätte sich mehr mit den Partnern beraten müssen. Dem „traditionellen biblischen Verständnis der Ehe“ sei man leider nicht treu geblieben – entgegen der Grundausrichtung des Werkes.

Vor dem Hintergrund des ersten Schreibens machen diese Sätze jedoch einfach keinen Sinn. Jahrelang habe ein großes Team mit Top-Leuten, darunter Vertretern vom Fach, intensiv beraten, und – wupps –  auf einmal habe es an der Beratung gemangelt? Man hat sich in deutlicher Mehrheit zum einem Entschluss durchgerungen, und kaum ist dieser bekannt geworden, wird auch er schon wieder zum Fehler erklärt, für den man sogar Buße tut und fast schon feierlich um Entschuldigung bittet. Ist das wirklich glaubhaft? Kommt das wirklich von Herzen? Im ersten Text ist Nachfolge Jesu mit praktizierte Homosexualität vereinbar – und nun auf einmal nicht mehr? Gegenüber CT sagte Stearns: „Bestimmte Überzeugungen sind so zentral für unseren trinitarischen Glauben, dass wir entschieden daran festhalten müsse“. Ein Kommentator auf TheoBlog bemerkt ganz richtig: „Wenn ich ‘entschieden daran festhalten MUSS’, frage ich mich, warum man es extrem kurze Zeit vorher noch verwerfen wollte? Das paßt einfach nicht!“

Um es deutlich zu sagen: So sehr ich auch den Beschluss vom Montag für falsch und eine Revision im Prinzip für richtig halte – ich kaufe dem Vorstand diese plötzliche Kehrtwende einfach nicht ab. Man mag ja zu der Erkenntnis kommen, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in die Reihe der Fragen wie Taufe, Evolution, Rolle der Frau usw. einzuordnen sei; man mag auch zu der Einsicht kommen, praktizierte Homosexualität sei kein Übel und keine Sünde (WS-US geht nicht so weit, aber nehmen wir einmal an) – doch dann sollte man gute, sehr gute Gründe für die Wahrheit so einer Position haben. Ich hätte großen Respekt vor der Leitung von WV-US, wenn sie – zutiefst von der Richtigkeit der eigenen Erkenntnis überzeugt – den ursprünglichen Beschluss ausführlicher erklärt, begründet und verteidigt hätte. So aber scheint es, dass die Wahrheit von gestern heute auf einmal nicht mehr viel wert ist.

CT schreibt, dass die größte Pfingstkirche der USA, die „Assemblies of God“, den eigenen Mitgliedern schon nahegelegt hatte, nicht mehr WV-US, sonden andere Werke zu unterstützen. Stimmen aus den Reihen der Südlichen Baptisten (F. Graham, Mohler, Moore) lassen vermuten, dass die Stimmung in der größten protestantischen Kirche des Landes sich wohl ebenfalls ungünstig für das Hilfswerk entwickelt hätte. WV-US drohte ein massiver Spendenrückgang wegen des Protests vieler konservativer Christen – und da ist dann endgültig schluss mit lustig. Der Vorstand sah dies kommen und zog schnell die Notbremse.

Damit offenbart der ganze Vorgang allerdings eine noch grössere Anpassung an den Zeitgeist. Denn, wie gesagt, ein Eintreten der Leitung des Werkes für die Wahrheit der eigenen Auffassung hätte mir Respekt abgenötigt. So aber hat man mal eben die Fahne in den Wind gehängt und schnell versucht, zu retten, was zu retten ist. (Timothy Dalrymple weist hier auf ältere Äußerungen Stearns hin, die vermuten lassen, dass zumindest er im Herzen von der ursprünglichen Position schon lange überzeugt war.) Todd Pruitt auf reformation21 hofft, dass mehr als reiner Pragmagtismus vorliegt, dankt Gott für den korrigierenden Schritt. Möglicherweise kommt, wie er schreibt, ein guter Prozess in Gang. Doch wer weiß.

Ron Kubsch kommentiert: „Meines Erachtens spiegelt die Kontroverse wider, wie sehr heute soziologische oder monetäre Kenngrößen über theologische Inhalte entscheiden.“ Wohl wahr.  Noch drastischer formuliert: die Wahrheit selbst bleibt auf der Strecke. Schon immer haben Christen um die Wahrheit gerungen, haben die unterschiedlichen Interpretationen der Hl. Schrift argumentativ verteidigt. Doch nun hat die Wahrheit selbst einen schweren Stand, ist von der „Illusion der Wahrheit“ die Rede, und selbst Theologen lehren uns, dass „etwas wahr sein kann, was sich jemand mal so ausgedacht hat“. Wir leben in einer Kultur des „elegantes Unsinns“, des „bullshits“ (so H.G. Frankfurts Buch) und des Plagiarismus.

Genau dies sah Francis Schaeffer schon kommen. Wir müssen „für die Wahrheit als Wahrheit eintreten“ und uns für „wahre Wahrheit“ einsetzen, so sein oft wiederholtes Credo. Es reicht nicht, nur bestimmte Inhalte als wahr zu verteidigen; Christen müssen auch das Konzept der Wahrheit als solcher, die Wichtigkeit der Kategorie Wahrheit verteidigen. Geschieht dies nicht mehr, wird vielleicht noch formell von der bleibenden Autorität der Bibel gesprochen, aber faktisch entscheiden andere Kriterien.

Vor einigen Jahren schrieb Wolfram Weimer in „Christ&Welt“ (38/2011):Unsere Wahrheiten sind keine Felsen mehr, sie sind Wanderdünen geworden“. Wie schnell sie nun schon wandern, haben wir in der vergangenen Woche gesehen. Der bekannte deutsche Journalist, Gründer von „Cicero“: „Die Masse ist wieder da, nicht mehr als Mob oder Klasse oder Aufmarschtruppe bei Paraden, sondern als Ordnungsprinzip der digitalen Globalisierung. Sie bringt ausgehöhlte Systeme der Konformität und Gesellschaften mit beschränkter Haftung hervor. Sie macht uns alle zu Schuldnern unserer Kompromisse. Die Schuldenkrise ist eine Chiffre unserer Zeit, wir haben Schulden der Identität, weil wir Wahrheiten nur noch fremd entlehnen, sie uns leihen, und zwar von der Masse…“ Es gelte wieder zu lernen, so Weimer, dass „Wahrheiten unabdingbar sind“ und dass heute nicht mehr Demokratie, sondern „mehr Haltung“ zu wagen ist.

Alexis de Tocqueville sah diese Entwicklung schon vor etwa 180 Jahren in Über die Demokratie in Amerika (1835/40) voraus. Der große Franzose prophezeite, „dass der Glaube an die öffentliche Meinung eine Art Religion und deren Prophet die Majorität sein wird.“ Die „absolute Macht einer Mehrheit“ führt zu einem neuen Despotismus. Gehorsam Gott und seinen Normen, dem Glauben und den Kirchen gegenüber hat es da immer schwerer. An seine Stelle rückt, so auch Philosoph Robert Spaemann in seinem Essay „Die Zweideutigkeit des Glücks“, die „Anpassung an das, was die Mehrheit erwartet“. Doch „Anpassung als die sozusagen moderne Alternative zum Gehorsam appelliert nicht an die Freiheit des Menschen, sondern ist ein Weichen dem Anpassungsdruck von der Mehrheit. Doch das ist kein freier Akt.“ Was also bleibt, ist eine andere, entstellte Form des Gehorsams, die eher unbewußte Angleichung.

Tony Jones liegen die jungen Leute am Herzen, die die Kurskorrektur von WV-US angeblich vor dem Kopf stößt, ja dem Glauben entfremdet. Die Jugend lag auch Schaeffer am Herzen. Jahrzehntelang war (und ist) die L’Abri-Gemeinschaft ein Magnet für suchende und fragende junge Menschen, ob nun gläubig oder nicht. Schaeffer sah aber, ganz anders als Jones, im „Wandel des Wahrheitsverständnisses“ eine Tragik; der Verlust der „wahren Wahrheit“ führt zu Unsicherheit und Verwirrung. „Die veränderte Auffassung über den Weg, der zu Erkenntnis und Wahrheit führt, [ist] das entscheidende Problem, das sich der Christenheit heute stellt“, so Schaeffer in Gott ist keine Illusion.  Die alten Liberalen haben noch an der Wahrheit festgehalten, obwohl sie Falsches lehrten. Nun hat sich die Verachtung der Wahrheit etabliert und ist in die evangelikale Welt eingedrungen. Der Rückzieher des Vorstand bei WV-US ist da wohl nur symptomatisch.